Liszt: h‑Moll-Sonate

 

Liszts ein­zi­ge Kla­vier­so­na­te ist ein recht sper­ri­ges, hoch­vir­tuo­ses, tech­nisch äußerst anspruchs­vol­les Stück. Im Grun­de han­delt es sich nicht ein­mal eine Sona­te, son­dern viel­mehr um einen Ver­such dar­über, wie man nach dem Ende der Sona­ten­form eine Sona­te schrei­ben soll. Allein die Glie­de­rung des Wer­kes ist unein­deu­tig. Es gibt eine Art Expo­si­ti­on, zu der man das Sei­ten­the­ma zäh­len kann oder nicht, einen lang­sa­men Mit­tel­satz, ein Art Repri­se und eine Art Coda. 

Viel­leicht soll­te man sich aber gar nicht wei­ter um ihre Form als viel­mehr um den Gehalt küm­mern. Zwei Gleich­nis­se drän­gen sich auf für das musi­ka­li­sche Gesche­hen: das Men­schen­le­ben (näher­hin: das des schöp­fe­ri­schen Men­schen) sowie die Sona­te als welt­zeit­lich begrenz­te Kunst­form. Liszts Opus magnum beginnt und endet gleich­sam tas­tend, indem es von einer düs­te­ren, abstei­gen­den, pia­no zu spie­len­den Ton­lei­ter gerahmt wird. Es steigt qua­si aus dem Dun­kel ins Dun­kel, aus einem Nichts ins ande­re. Geburt und Tod? Dazwi­schen pul­siert das Leben, es tür­men sich Klang­mas­sen, wer­den Kämp­fe aus­ge­foch­ten und Tri­um­phe erlebt, immer wie­der unter­bro­chen von Momen­ten tie­fer Kon­tem­pla­ti­on. Das dyna­mi­sche Ein­gangs­mo­tiv in D‑Dur, gewis­ser­ma­ßen der Ur-Sprung, mit­samt dem fol­gen­den soge­nann­ten Ham­mer­schlag-Motiv mag man durch­aus als eine Remi­nis­zenz an Beet­ho­ven und die Klas­sik lesen; das cho­ral­ar­ti­ge Haupt­the­ma des Wer­kes („Gran­dio­so“) klingt wie­der­um hoch­ro­man­tisch und erin­nert dar­an, dass die Sona­te Robert Schu­mann gewid­met ist. Es erhebt sich bei sei­ner letz­ten Wie­der­ho­lung wie eine anti­ke Sta­tue und bil­det so den Höhe­punkt des Wer­kes. Gilt es der Erkennt­nis des Schöp­fers als Kli­max des Men­schen­le­bens? Oder zum letz­ten­mal der Sona­ten­form, um sie dann für immer in den Grüf­ten des Vor­über ver­sin­ken zu lassen? – – 

Ursprüng­lich woll­te ich die Auf­nah­me mit Marc-André Hame­lin emp­feh­len, doch nach­dem ich neu­lich Pogo­re­lich live mit der Sona­te gehört habe, nahm ich mir sei­ne alte Stu­dio­ein­spie­lung vor und war über­wäl­tigt. Die­ses Fun­keln, die­se Durch­sich­tig­keit, die­se Wucht, die­se Fähig­keit, Töne mit der Här­te eines Kara­te­schlags zu erzeu­gen und sofort wie­der ver­klin­gen zu las­sen – das ist ganz einzigartig. 

 

Liszt, Sona­te in h‑Moll/Scriabin, Kla­vier­so­na­te No. 2; Ivo Pogo­re­lich (Deut­sche Grammophon) 

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Janu­ar 2012

Vorheriger Beitrag

Wiedervorlage: Deine Mutter!

Nächster Beitrag

Wie ein Indianer am Marterpfahl

Ebenfalls lesenswert

Bach: Matthäus-Passion

  Ein Gespenst geht um in den Orches­ter­grä­ben. Es heißt: his­to­ri­sche Auf­füh­rungs­pra­xis. Diri­gen­ten und Instru­men­ta­lis­ten bemü­hen sich um…