Christian Gerhaher: Die Kunst des Liedes

Der Bari­ton Chris­ti­an Ger­ha­her war nicht nur ein Schü­ler von Diet­rich Fischer-Die­skau (der Begriff Schü­ler hier etwas weit gefasst), er sag­te auch von sich, dass er ein Nach­ah­mer des wohl berühm­tes­ten aller Lied­in­ter­pre­ten sei. Neben evi­den­ten Gemein­sam­kei­ten – das reflek­tier­te Sin­gen, die enorm kla­re Dik­ti­on, eine unter Sän­gern unge­wöhn­lich aus­ge­präg­te Intel­lek­tua­li­tät – stößt der Hörer indes schnell auf gra­vie­ren­de Unter­schie­de zwi­schen den bei­den. Ger­ha­her singt lyri­scher, natur­haf­ter, beseel­ter, ja bei aller Kon­trol­liert­heit auch schön­heits­trun­ke­ner als sein expres­si­ve­rer, doch zuwei­len etwas pro­fes­so­ra­ler Vor­gän­ger. Sein edles Tim­bre ist etwas hel­ler als das des Kol­le­gen, doch er besitzt eine soli­de Tie­fe und kann kräf­tig for­cie­ren (etwa die Schluss­zei­len der Schu­mann-Ver­to­nung von Eichen­dorffs Lore­lei: „Es ist schon spät, es wird schon kalt,/Kommst nim­mer­mehr aus die­sem Wald!”). Jeden­falls muss der gebür­ti­ge Nie­der­bay­er den Ver­gleich kei­nes­wegs scheu­en. Ins­be­son­de­re dank Ger­ha­her ist das deut­sche Kunst­lied gera­de dabei, sei­nen Tod ein­mal mehr zu überleben.

Für nicht ein­mal 40 Euro hat Sony nun eine Box mit 13 CDs die­ses hoch­be­deu­ten­den Inter­pre­ten her­aus­ge­bracht; es ist alles drauf, was man erwar­ten kann, die bei­den Schu­bert-Zyklen, Schu­manns „Dich­ter­lie­be“, die „Gesän­ge des Harf­ners“ und, für mich das Pracht­stück, der Eichen­dorff-Lie­der­kreis op. 39  – wie Ger­ha­her in der Ver­to­nung von „In der Frem­de“ das „ruhe“ in „Bald kommt die Zeit, da ruhe ich auch“ und die fol­gen­de „Wald­ein­sam­keit” formt, da möch­te man sel­ber ruhen, solch her­zin­ni­gen Gesang hat man seit Fritz Wun­der­lich nicht mehr gehört. Sodann Mahler-Lie­der, die bei­den Zyklen und auch „Das Lied von der Erde“ inclu­si­ve (aller­dings läuft dort anstel­le des Tenor­parts ein Stör­ge­räusch namens Klaus-Flo­ri­an Vogt). Fer­ner Wolfs „Ita­lie­ni­sches Lie­der­buch“, Schön­bergs „Buch der hän­gen­den Gär­ten“, über­dies eine CD mit roman­ti­schen Opern­ari­en und ande­res mehr. Weit über 13 Stun­den Fül­le des Wohl­lauts nahe der inter­pre­ta­to­ri­schen Voll­endung. Mit Gerold Huber hat der Sän­ger einen geschmack­vol­len Beglei­ter zur Sei­te. Man könn­te allen­falls monie­ren, dass dem Lyri­ker Ger­ha­her die „Win­ter­rei­se“ all­zu schön gerät und ihm auch die Herb­heit der „Vier erns­ten Gesän­ge“ von Brahms nicht hun­dert­pro­zen­tig liegt. Tu’ ich aber nicht.
 

Chris­ti­an Ger­ha­her: The Art of Song. Lied Edi­ti­on; Gerold Huber, Kla­vier (13 CDs/Sony)

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Okto­ber 2015
Vorheriger Beitrag

"Mit den Zivilisierten verbünden"

Nächster Beitrag

Die helle Seite des Islam

Ebenfalls lesenswert