Menschen, denen das Glück oder die Gnade zuteil wird, dass ein originärer, noch nie zuvor gedachter, tatsächlich eigener Gedanken in ihrem Kopf vorspricht, wissen, wie selten und unwahrscheinlich dergleichen ist. Auch solche Geister zehren fast ausschließlich von Ideen, die bereits von Anderen formuliert worden sind. Sie wissen, wie viel sie denen schulden, die vor ihnen gedacht haben, wie sehr sie heute noch auf den Schultern derer stehen, die vor vielleicht fünftausend Jahren den Schritt vom Sagen und Beschwören ins unbekannte Land des Denkens vollzogen, und wie unglaublich schwer jeder der ersten Schritte ins Unerschlossene gewesen sein muss. Einen Denker, der auf diesem langen und beschwerlichen Wege einmal Neuland entdeckt hat, für „überholt”, für „nicht mehr aktuell” zu halten, ist das traurige Privileg von Figuren, die sich mit ihren Überlegungen ausschließlich in den sicheren Gefilden des schon-Gedachten und von der gerade herrschenden Mode Abgesegneten aufhalten.
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Diskriminiertwerden schärft den Verstand. Sofern man einen besitzt.
Mit diesem Eigenzitat will ich überleiten auf eine interessante Mail, die mir heute morgen unter dem Betreff: „Benigna (= die Wohlwollende) Munsi” zuging und auf meinen gestrigen Eintrag zur Wahl des Nürnberger Chistkindls bezug nimmt:
„Danke, daß Sie so viel Verständnis für alles Mögliche haben. Das offenbart ein großes Herz und unendliche Langmut. In meiner Jugend wurde meine Familie ausgegrenzt, weil wir Ausländer waren und nicht dazu gehörten; ich wurde in meiner Familie ausgegrenzt, weil ich das einzige Mädchen war unter lauter Brüdern. Ich hatte zuhause nichts zu melden und in der Schule erst recht nicht. Was Ausgrenzung und Benachteiligung angeht, habe ich ein dickes Fell entwickelt.
Aber (Trommelwirbel): ich bin nicht in Deutschland aufgewachsen sondern weiter im Süden.
Als Außenseiter sieht man die Dinge distanzierter. Meine Prognose: von christlichen Gedenktagen und Festen werden vielleicht ein paar sinnentleerte Feiertage übrigbleiben, sowie ein paar Symbole, die keiner mehr versteht. Es wird sich wiederholen, was mit dem persischen Zoroastrismus passierte: damals wanderte eine konservative Minderheit nach Indien aus und wurde zu ‚Parsen’, hatte aber nur noch wenig mit der ursprünglichen Lehre gemeinsam. Persien wurde vom Islam überrollt, sämtliche Dokumente vernichtet und was von persischer Kultur erhalten blieb, als ‚islamische Kunst’ bepriesen. Ich sehe dem aktuellen Zersetzungsprozeß zu und notiere, daß man ihn nicht einmal kritisieren soll. So wird eben eine weitere große Zivilisation die Weltbühne verlassen, nach einem jämmerlichen Schlußakt, ohne Applaus. (Die Buh-Rufe kommen von mir).”
Der Nachname der Absenderin deutet darauf hin, dass jener Herkunfts-Süden, der im Brief erwähnt wird, in Südasien liegt.
Aber mag auch die deutsche Kultur dahinscheiden, es bleibt doch die westliche Zivilisation – zunächst – übrig, als Essenz von Jahrtausenden menschlicher Triebveredelung und Selbststeigerung, als Bedingung der Möglichkeit freiheitlich-geordneten Zusammenlebens, als Bollwerk gegen das Blut, den Clan, das Chaos, gegen Behemoth, als einzige bislang bekannte Schutzsphäre der Individualität. Um die müsste man doch kämpfen, oder?, ganz gleich welcher Tradition man privatim folgt, zumal die Angriffe auf die westliche Zivilisation ja primär von innen kommen. Deswegen lautet meine Parole nicht: Deutsche (= Biodeutsche) zuerst, sondern: Zivilisierte zuerst, in der womöglich naiven Hoffnung, dass am Ende die Zivilisiertheit mehr bindet als die Herkunft…
Eventuell nehme ich aber bloß meinen Lieblingsplatz ein: zwischen allen Stühlen.
Alle Stuhlinhaber mögen gleichwohl berücksichtigen:
„Erkenne die Lage! Rechne mit deinen Defekten! Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen!” (Benn)
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Eine Zuschrift noch zum Christkindl:
Leser *** möchte mir „beispringen, nicht nur, weil ich Ihre Meinung teile, sondern weil ich sie für die einzige halte, die unserer Verfassungsordnung und auch dem religiösen Hintergrund angemessen ist.
Da ist zum einen der Leser, der ‚Klamauk’ wittert, weil ‚in unserer Vorstellung das Christkind eben ein weißes Mädchen in einem weißen Kleid mit goldfarbenem Haar’ sei. Nun, das mag die Vorstellung des Schreibenden sein. Meine Vorstellung des Christkinds ist ein neugeborener Knabe, der vor gut 2.000 Jahren in einer schäbigen Futterkrippe in einem Stall in Bethlehem lag. Von meiner Urgroßmutter habe ich eine entsprechende Darstellung geerbt, ein nacktes Büblein als Wachsfigur, vielleicht 15 cm groß, das auf Moos gebettet in einem Holzkistchen liegt. Das ist die traditionelle Geschichte. Der Heiland, geboren vor langer Zeit, ganz sicher nicht als Mädchen, ganz sicher nicht im weißen Kleid, ganz sicher nicht mit besonders heller Haut, höchstwahrscheinlich nicht mit blonden Haaren. Das Nürnberger Christkindl – 1933 eingeführt – ist im Vergleich dazu der neumodische Kram, der Klamauk. Nein, ich will nun nicht über die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes meckern (…) Aber wer kein Problem damit hat, daß das Christkindl von einem Mädchen verkörpert wird, der sollte erst recht kein Problem damit haben, wenn es einen dunklen Teint und keine Rauschgoldengelhaare hat. Fast schon drollig ist, daß der Leser ‚wegen Quote und so’ Heilige Drei Königinnen befürchtet, obwohl man das Nürnberger Kindl selbst als Quotenmädel ansehen könnte.
Zum anderen die Leserin aus (vermutlich) Südasien, die sich wundert, warum man bei einer traditionelle Veranstaltung nicht-autochtone Darsteller nimmt. Bitte? Fräulein Munsi ist in Nürnberg geboren, hat eine deutsche Mutter, ist deutsche Staatsbürgerin, spricht Deutsch als Muttersprache, kurz: sie ist eine Deutsche. Wem das nicht reicht, um jemanden als autochton anzuerkennen, der ist – und ich weiß, daß dieser Vorwurf oft zu Unrecht gemacht wird, aber hier trifft er zu – Rassist. Es mag schon sein, daß es im Gujarat oder in Kenia Proteste hageln würde, wenn ein ‚falsch’ aussehender Darsteller auftreten würde. Nur: gerade deswegen bin ich froh, in Deutschland und nicht in Indien oder in Kenia zu leben. Weil es hier von Rechts wegen nicht darauf ankommt, wie man aussieht, um be- oder verurteilt zu werden. Sondern nur darauf, was man tut. (…) Das Christentum schaut nicht auf Haut und Haar, das Christentum schaut ins Herz. Oder, wie wir bald in Nürnberg wieder hören können: ‚Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, Und wer da kommt, der soll willkommen sein.’ ”
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Haben Sie auch von der Ausrufung des „Nazi-Notstands” in Dresden gelesen? Dann sind Sie einer Legende aufgesessen.
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Tja…
(Ich danke Leser *** für die Zusendung.)
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Ich möge doch bitte, empfiehlt Leser ***, auch das Orginal dazu stellen, den deutschen Transrapid im aktuellen Zustand:
Leser *** ergänz: „Der kurze Bericht hat bei mir Erinnerungen an eine Radiosendung in den 90er Jahren über die sogenannte deutsch-chinesische Kooperation zur Transrapid-Technik wachgerufen. Zwei Dinge sind mir unvergessen geblieben:
Widerspruch legt Leser *** ein, denn er fühlt sich „als Diplom-Ingenieur für Verkehrswesen herausgefordert, einige Dinge aus meiner Sicht richtigzustellen. Zunächst einmal: die Magnetschwebenahn ist in Deutschland nicht an Umweltverbänden und sonstigen Bedenkenträgern gescheitert, sondern schlicht daran, daß es dafür keine wirtschaftlich und verkehrlich sinnvolle Anwendung gab – und zwar trotz beispielloser Protegierung durch die Politik. Selbst eine in Erwägung gezogene Verbindung der beiden größten Städte Deutschlands hätte weit jenseits jeder Wirtschaftlichkeit gelegen. Der verkehrliche Bedarf hätte nicht einmal eine konventionelle Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke gerechtfertigt. Das wußte man seitens der politischen Entscheidungsträger, weshalb man das ‚Transrapid-Bedarfsgesetz’ aus dem Hut zauberte – ein Gesetz einzig nur, um einen Bedarf festzuschreiben, den es in der Realität nicht gab. Sowas ist meines Wissens in der Verkehrsgeschichte ein einmaliger Vorgang. Falsch ist auch die Darstellung, daß es sich beim Transrapid um so überlegene deutsche Ingenieurskunst handelte. Wie der Unfall auf dem Versuchsgelände zeigte, befand sich die Sicherungstechnik auf dem Niveau einer hinterpommerschen Kleinbahn zur Kaiserzeit. Daß die Magnetbahn umweltfreundlich und energiesperend sei, gehört ebenso ins Reich der Märchen. Zu diesen und den sonstigen Eigenschaften der Magnetbahn empfehle ich die leider vergriffene Schrift von Dr. Rudolf Breimeier ‚Transrapid oder Eisenbahn – ein technisch-wirtschaftlicher Vergleich’.