Die Sonntage mitunter doch wieder (und etwas verspätet) den Künsten!
Als eine der „berüchtigsten” Stellen im Œuvre Ernst Jüngers gilt der Eintrag vom 27. Mai 1944 in seinem Tagebuch „Strahlungen”, wenige Tage vor der alliieren Invasion der Normandie. Die anglo-amerikanische Luftwaffe bombardierte zu dieser Zeit Industrieanlagen, Bahnhöfe und Brücken in Paris. Jünger, der damals im Hotel „Raphael” wohnte, beschreibt, wie er auf das Dach des Hotels stieg und das Schauspiel der nahenden Flieger beobachtete: „Ihr Angriffsziel waren die Flussbrücken. Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deuten auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, glich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.”
Wer an Jüngers skandalös distanzierter Zeitzeugenschaft, an seiner entomologischen Unterkühltheit Anstoß nehmen und ihn zum „eiskalte(n) Wollüstling der Barbarei” (aus der Etappe: Thomas Mann) abqualifizieren wollte, ließ sich diese Passage dabei nicht entgehen; auch in den wenigen Interviews wurde der Dichter auf seine Schilderung angesprochen (ich entsinne mich sogar eines Autors – aber nicht an dessen Namen –, der ihm die Erdbeeren im Glas vorwarf; dabei passen Erdbeeren wundervoll zum Burgunder). Was aber niemandem auffiel: Bei der Geste handelte es sich um eine Imitatio.
In Friedrich Kittlers Vorlesung „Weltatem. Über Richard Wagners Medientechnologie” (Erstveröffentlichung 1986) stieß ich jetzt auf den Hinweis, aber als Proust-Leser und ‑Bewunderer hätte ich auch selber darauf kommen können: „Französische Kritiker haben kürzlich versucht, aus diesem Weinglas den Nihilismus und Ästhetizismus seines Trinkers zu deduzieren. So schlecht informiert sind Interpreten. Denn Jünger auf seiner Hotelterasse zitierte nur: einen anderen Weltkrieg, einen anderen Schriftsteller.”
Im siebenten Teil von „A a la recherche du temps perdu” stattet Robert de Saint-Loup, der Neffe der Madame Villeparisis und des Barons de Charlus, im Fronturlaub Paris einen Besuch ab und trifft dort auch seinem Freund Marcel. Der erzählt „fast demütig”, wie wenig man in der Hauptstadt vom Kriege zu spüren bekomme. Robert antwortet, es gehe doch auch in Paris manchmal „unglaublich” zu. „Er meinte damit einen Angriff von Zeppelinen, der am Tag zuvor stattgefunden hatte” – es gab zwei Zeppelin-Angriffe auf Paris, der erste am 21. März 1915, der zweite am 29. Januar 1916 –, „und fragte mich, ganz als rede er von irgendeinem ästhetisch höchst bedeutsamen Schauspiel, ob ich auch alles gut gesehen habe. Man versteht noch, daß an der Front eine gewisse Koketterie darin besteht, in einer Situation, in der man jeden Augenblick getötet werden kann, etwa festzustellen: ‚Wie wundervoll, dieses Rosa und dieses zarte Grün!’ Aber davon war ja bisher für Saint-Loup in Paris bei einem unbedeutenden Luftangriff, den man von unserem Balkon aus in der Stille der Nacht hatte mitansehen können (wobei allerdings eine wirkliche ‚Gala-Illumination’ mit nützlichen, unserem Schutze dienenden Strahlengarben und Fanfarenklängen stattgefunden hatte, die nicht nur zum Zwecke einer Parade ertönten), freilich nichts zu sehen. Ich sprach zu ihm von der Schönheit der im Dunkel aufsteigenden Flugzeuge.”
Saint-Loup pflichtet ihm bei und beschreibt, wie sich die aufsteigenden Zeppeline in seiner Wahrnehmung „zu einer Art von Sternbild” zusammenfügt hätten. Aber finde er, Marcel, nicht auch den Augenblick „am schönsten”, an dem sie „auf die Jagd” gingen, „den Augenblick, in dem sie etwas Apokalyptisches bekommen”? Saint-Loup erwähnt die den Angriff begleitenden Sirenentöne, und eine Assoziation stellt sich ihm ein, mit welcher Francis Ford Coppola 64 Jahre später Filmgeschichte schreiben wird: „Man muß sich wirklich fragen, ob es sich um ein Aufsteigen von Fliegern oder nicht vielmehr um Walküren handelt. … diese Sirenentöne klingen wirklich nach Walkürenritt!”
Und auch die Pariser Hotels kommen zuletzt ins Spiel, wenn Saint-Loup zu Marcel sagt, er sei sich sicher, dass man während dieser Luftangriffe „in allen großen Hotels amerikanische Jüdinnen im Hemd sehen kann, wie sie die Perlen, die ihnen einmal erlauben sollen, einen total verarmten Herzog zu heiraten, an ihre welken Brüste drücken.”
(„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”, Teil 7 „Die wiedergefundene Zeit”, Frankfurt 2000, S. 3790 ff.)
Im Interview mit dem Spiegel erklärte Jünger die Situation auf der Dachterasse fast ein halbes Jahrhundert später so: „Diese Engländer denken, der geht jetzt in den Bunker. Da haben sie sich aber getäuscht. Auf diese Spielregeln lasse ich mich nicht ein. Aber die anderen Deutschen und die Franzosen tun das. Sie gehen in den Luftschutzkeller, aber das ist meine Sache nicht. Ich gehe in die oberste Etage und sehe mir den Luftangriff an. Und sehe vielleicht durch das Sektglas. Dann ist das noch ein gewisses Bruderschaftstrinken mit dem Tode. Das ist der Anarch. Das ist der Mann, der sich überhaupt nicht kümmert um die, die da oben Angst machen wollen, und um die, die da unten Angst haben, sondern der, der da gemütlich am Fenster steht und sieht: die Erdbeere kristallisiert.
Später dachte ich, das kann ich den Leuten doch nicht vorenthalten. Das mußt du ihnen aufschreiben. Was passiert aber? Sowohl Engländer als auch Deutsche schimpfen: Das ist ja wie bei Kaiser Nero, oder der Autor ist noch snobistischer als Oscar Wilde.”
Und im Gespräch mit der Zeit, auf die Worte des Interviewers: „Schon im Ersten Weltkrieg haben Sie sich, meist ohne Helm, in verwegene Einzelaktionen gestürzt und die Gefahr genossen”, antwortete dieser Kentaur aus Krieger und Dichter:
„Gott, die Sache hat mir eben nicht so viel Angst gemacht.”
***
PS: Mehrere Leser machen darauf aufmerksam, dass Ernst Jünger seine berühmte „Burgunderszene” womöglich nur fingiert habe. Der Publizist und Jüngerdokumente-Aufspürer Tobias Wimbauer soll recherchiert haben, dass am fraglichen Tag kein Luftangriff auf Paris stattfand; Wimbauer deute die Szene stattdessen als metaphorische Beschreibung des Geschlechtsaktes mit einer französischen Ärztin, mit welcher Jünger damals ein Verhältnis hatte.
Mir erscheint diese These zu überspannt; ein Bombenangriff verhält sich zu einem Fick wie der Ödipus des Sophokles zu jenem Sigmund Freuds; für mich ist es schwer vorstellbar, dass Jünger sich bei der Gewichtung so vertan haben könnte. Was die Möglichkeit einer Datumsverwechslung ins Spiel bringt. Dass diese Szene zu Jünger passt, steht wohl außer Frage. (Ich habe übrigens mit dem Begriff Imitatio nicht zum Ausdruck bringen wollen, dass der eine Dichter den anderen mit einem erfundenen Tagebucheintrag zitierte, sondern mit seinem tatsächlichen Verhalten.)
„Die Kritik an den Erdbeeren”, schreibt Freund ***, „die mich auch sehr erstaunte, galt doch ihr Urheber nie als Weinkenner oder irgendwie Experte für höhere Lebensart, sondern wollte stets ‚proletarisch’ wirken, geht nach meiner Erinnerung auf Hannes Heer zurück.”
PS vom 31. Mai: Leser *** weist darauf hin, dass aus dem Tagebuch von Hauptmann Max Hattingen, damals im Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich, hervorgeht, dass am Abend des besagten Tages durchaus ein Bombenangriff – „6 Ketten zu 6 Maschinen” – stattfand.
Ich habe nun versucht, das von Wimbauer herausgegebene Buch „Ernst Jünger in Paris”, in welchem sich auch der in Rede stehende Aufsatz zur „Burgunderszene” befindet, zu kaufen, aber es ist nirgendwo zu bekommen (aufgrund meiner Angewohnheit, Bücher mit Anmerkungen zu verunzieren, kommen Bibliotheken für mich kaum in Frage). Vergleichsweise ausführlich wird Wimbauers Deutung in diesem Aufsatz referiert, er muss uns hier also genügen. Ich zitiere:
„Nun hat es wohl mancher geahnt: der Wahrheitsgehalt der Burgunderszene ist nicht sonderlich hoch – sie ist pure, lustvolle Stilisierung … Zuviele Implikate deuten … auf eine hochkomplexe Literarizität: auf ein (tag)traumähnliches, per Imagination und Fabulation ‚konstruiertes’ Gebilde, das sich gängiger Motive aus Literatur, Bildender Kunst, selbst der Bibel bedient. Wimbauer schlüsselt sie umsichtig auf – von der sexuellen Symbolik der Erdbeere in Boschs ‚Garten der Lüste’, bei Villon, Bürger und Thomas Mann, der christlichen Fisch- und Schlangensymbolik bzw. der Bedeutung des Weins, der Kelter als Zorn Gottes, über die Bilder der Apokalypse und die Opferhandlungen bei Zosimos von Panopolis bis hin zu den als literarische Prätexte nachgewiesenen einschlägigen Passagen bei E. T. A. Hoffmann, Proust (Fliegerangriffe und Walkürenritt) oder Oscar Wilde (Burgunderglas). Dieses alles als ‚Humus’ Jünger’scher Imagination und ‚Traumarbeit’ nachzuweisen, ist eine erstaunliche Rechercheleistung.
Da aber die meisten Bedeutungsschichten auf ein erotisch-sexuelles Zentrum gravitieren, lag für Wimbauer der Schluss nahe, in der Burgunderszene arbeite … eine Bewältigungstechnik, die in privateste Bereiche der Jünger’schen Biographie hinabsteigt: daher könne sie auch (nicht müsse!) ‚ganz anders’ gelesen werden, als intime Chiffrierung nämlich, als ‚metaphorisiert-verschleierte Schilderung einer eskalierten Liebes-Affäre’, die Jünger tatsächlich zu der (im Tagebuch unter fünf Decknamen auftretenden) deutschen Kinderärztin Sophie Ravoux in Paris unterhielt, und die nach Trennungen im Mai 1944 erneut auflebte.”
Das ist alles recht hübsch und intellektuell reizvoll, ändert freilich nichts an der Frage, ob Jünger auf dem Dach des Hotels einen Fliegerangriff als ästhetisches Ereignis erlebte und den Bombern, also dem Tode zutrank oder nicht. Und ob er die Erdbeeren, nachdem er das Glas geleert hatte, als Nachtisch verspeiste, mit oder ohne erotische Assoziationen.
Die Sache erinnert mich an die Bemerkung eines (eher positivistisch arbeitenden) Ägyptologen über die (durchaus spekulativen) Publikationen eines Kollegen: Wenn er dessen Bücher aufschlage, erscheine es ihm, als habe jemand das Ägyptische Museum mit Scheinwerferinstallationen abenteuerlich illuminiert, doch wenn er sie zuschlage, sähen die Exponate wieder genauso aus wie zuvor.