Wenn ein neues Jahr anhebt, weilen die einen schon nicht mehr unter uns, während andere sogenannte gute Vorsätze fassen, um ein weniger sündhaftes Leben zu führen und noch möglichst viele Jahreswechsel erleben zu müssen. So erzählt beispielsweise Matthias Matussek in seinem neuen Buch, wie und warum er sich das Rauchen abgewöhnt hat. Das finde ich allein insofern erwähnenswert, weil ich mir das Rauchen gerade wieder angewöhnt habe, was mir leichter fiel als befürchtet, vor allem wegen der Umstellung auf Zigarren und Zigarillos. Es ist ja ein gewaltiger Unfug, verbranntes Papier zu inhalieren, überhaupt allzutief zu inhalieren; das Vollzugsorgan der Lust beim Rauchen ist schließlich der Kehlkopf.
Beiseite gesprochen: Von dem bisschen Qualm, der in die Lunge danebengeht, reinige ich meinen Schlot bis auf den Grund beim Radfahren, gerade jetzt in den Zeiten des Lockdowns, wo ich gezwungen bin, selbst bei Minusgraden in bizarren Thermoklamotten an der mit allem Recht so genannten frischen Luft zu velozipedieren. Matthias – wir sind per Du (nicht perdu!) – ist in Hamburg vor Zeiten immerhin direkt neben ein Fitnessstudio gezogen, und es heißt, er haben beim konzentrierten Zuschauen durchs Fenster das eine oder andere Gramm verloren.
Zurück zum Rauchen. Rauchen bedeutet, das Atmen sichtbar zu machen, ungefähr wie Fahnen den Wind sichtbar machen. Die Zigarre und ihre kleine Schwester sind das Ergebnis einer jahrhundertealten Handwerks- und Kulturtradition, in deren Genuss zu kommen ich zu den Schönheiten des Lebens rechne. Ich frage mich, warum in den Buchhandlungen keine Titel zu finden sind wie „Endlich Raucher!” oder „In drei Schritten zum Raucher”. Oder: „Wie Sie es schaffen, mit dem Nichtrauchen aufzuhören”. Möglicherweise wirkt Rauchen ja besser gegen das Coronavirus als Impfen. Für die Theologen unter meinen Lesern möchte ich noch das Credo des begeisterten Rauchers Günter Maschke einrücken: „Ich glaube, dass Gott raucht.”
Aber gut, Kamerad Matussek hat sich das Rauchen abgewöhnt, abgewöhnen müssen, denn sein Herz versetzte ihm einen „Elefantentritt” – beziehungsweise das Schicksal verabfolgte seinem Herzen einen solchen, „aus heiterem Himmel” –, nachdem er 50 Jahre den Glimmstengeln zugesprochen hatte. Er hat also Zigaretten konsumiert, Marlboro, immer schön auf Lunge, das heißt, er war nikotinsüchtig, und so zitiert er denn nicht ohne Stolz einen Arzt mit der Bemerkung, die Abhängigkeit vom Nikotin müsse in ihrer Heftigkeit den Vergleich mit der Heroinsucht zuweilen nicht scheuen. „Also seien wir ehrlich: Es gibt einfach verdammt viele gute bis sehr gute Gründe zu rauchen! Dieser shot ins Hirn! Diese Sekundenwachheit!”, ruft er aus; überhaupt sei die Nikotinsucht, weil sie die Welt ja weder verneble noch in Farben, Träume und Räusche tauche, „die purste aller Süchte – das Zen der Sucht!”
„Sucht und Ordnung” heißt das Buch. „Du behältst die Kontrolle in dieser Welt, solange du die Kontrolle über den Nachschub behältst”, schreibt Matussek. Aber: „Die Sucht stört unsere innere Ordnung.” Kundige Notfallmediziner mussten sie nach dem Elefantentritt mithilfe eines Stents wiederherstellen. Woraufhin sich der 66jährige für drei Wochen in eine Entzugsklinik einquartierte. Dort saßen an seinem Frühstückstisch unter anderen „eine neunzigjährige Sportlehrerin mit der Körperspannung einer Olympionikin, die erst beim Arzt, fast en passant, von ihrem Herzinfarkt erfuhr, sowie neben mir eine Unternehmersgattin und Konzertveranstalterin, voller Tatendrang und Optimismus trotz ihrer auch schon zweiundachzig Jahre”. Mit dieser „Schar ebenso hochbetagter wie vitaler Tischnachbarn hatte ich leibhaftig das vor Augen, was ich mir für mein eigenes Leben erhoffte und noch immer erhoffe: eine lange und erfüllte Zielgrade”.
Es soll eben jeder sündigen, wie er kann. Was Matussek mit und ohne Zigaretten kann, ist mitreißend erzählen und amüsant plaudern. Es sei doch erstaunlich, notiert er, „wie leicht das Rauchen, eine Angewohnheit, die man ein Leben lang einstudiert hat, fallen gelassen werden kann. Fast enttäuschend einfach. Du hast dieses Baby gehätschelt und großgezogen, eine ordentliche Sucht, die alleine loslaufen kann – und dann geht sie so ohne weiteres in die Knie. Und warum? Weil du es WILLST.”
Zwar habe es in den Wochen nach der Entlassung aus der Klinik Momente gegeben, in denen er für eine Zigarette hätte töten können. „Doch so ein Anfall geht vorüber, und dann ist es ein Segen, dass du eben keine Kippen in der Wohnung hattest! Das ist sooo wichtig, zumindest in den ersten Wochen sei deine Haus-Parole: Alle Zigarettenschachteln (!), alle Feuerzeuge (!), alle Aschenbecher (!) – weg damit!!! Wenn der Anfall also kommt, lässt du ihn vorüberziehen – wie eine Gewitterwolke.”
Die Lektion, dass er auf der Zielgeraden seiner vorletzten Droge entsagen musste – ich hoffe, der Wein bekommt dem Guten noch –, nimmt Matussek zum Anlass, geradezu bekennerhaft auf seine Drogenkarriere zurückzublicken. Ob Marihuana, LSD, Kokain oder Heroin, als ein Kind seiner Zeit hat er alles reichlich probiert. Und wenn er das Zeug schon nicht mehr nehmen darf, so kann er doch davon erzählen. Homo compensator! Und erzählen kann er, wie gesagt, nicht zufällig haben sie ihn beim Spiegel damals, in der relotiadenfreien Zeit, zum Namensautor nobilitiert. Damals trugen Spiegel-Reporter noch keine Musicalnamen, sie konnten schreiben, trafen die Menschen, über die sie berichteten, tatsächlich, und ließen beim Lügen die Balken gerade. Tempi bekanntlich passati.
„Der Trip nach Indien gehörte zu den Dingen, die uns einfach vorgeschrieben waren – wie für den gläubigen Moslem die Pilgerreise nach Mekka. Und ganz bestimmt war es nicht Yoga oder Ayurveda, was uns da lockte, sondern Haschisch – der Eintritt in eine Welt der Götter!” Beziehungsweise, in Matusseks Fall, ins Gefängnis. „Hier noch eine überlebenswichtige Lektion für die Jugend: Falls ihr beabsichtigen solltet, ein Kilo Haschisch über irgendwelche Ländergrenzen hinweg zu schmuggeln: niemals in Schuhen!!!”
Irgendwo im Punjab saß der junge deutsche Tourist wegen Haschischschmuggel zwei Monate im Knast. „Unsere Zelle lag bei den Lebenslänglichen. Tagsüber durften wir in unserem Trakt herumlaufen. Ein sanfter, großer, bärtiger Sikh, der seinen Schwager umgebracht hatte – irgendeine Ehrensache –, brühte einen wunderbar cremigen, süßen Tee.”
In den folgenden Kapiteln erzählt Matussek von seinen Begegnung mit zwei anderen schreibenden Süchtigen, richtigen Süchtigen, nämlich Charles Bukowski und William Burroughs, sowie von einem weiteren, späteren Gefängnisaufenthalt, diesmal in Arizona, aus demselben Grund: unerlaubter Besitz einer eigentlich harmlosen illegalen Substanz mit einer gewissen Rauschwirkung. Dort trifft er unter anderem Dustin. „Dustin hat ein Kreuz an die Pritschendecke über ihm befestigt, ein selbst geflochtenes. Glaubt er? ‚You bet’, sagt er. Er betet morgens und abends, ausdauernd, was bleibt ihm übrig, sagt er. Was ist, wenn es keinen Gott gibt? ‚If there is no god, I’m really fucked.’ ” Die Richterin lässt den Deutschen schließlich gegen Kaution frei.
Eine Klientel, die üblicherweise die Gefängnisse bevölkert, stellt der Reporter zuletzt in einer Art Perspektivumkehr vor. Matussek hat für den Spiegel einige Jahre aus Südamerika berichtet, und dabei entstand unter anderem eine Reportage über den Drogenkrieg in den Slums von Rio de Janeiro – eine Reminiszenz an Zeiten, als Journalisten noch dorthin gingen, wo es, wie man sagt, weh tut, und nicht nur fanden, was sie selber schon vorher hinterm Busch versteckt hatten. Als sie auch Geschichten aufschrieben, „die einen komplett ratlos zurücklassen”. Matussek hat dort unter anderem einen der Killer besucht, und als „das wohl Verblüffendste an diesen Typen” erlebt, dass „selbst der Brutalste sich noch um moralische Überlegenheit” bemühe. Es gebe immer einen, der noch schlimmer sei und den Tod absolut verdient habe.
„Sicher, der Mensch ist das Lebewesen, das verdrängen kann. Du gibst nachts an roten Ampeln Gas – und du verdrängst. Du hörst von dem Gangster, der seine Opfer mit Pistolenschüssen durch die Hände stigmatisiert und zurücklässt wie Visitenkarten aus der katholischen Hölle – und du verdrängst. Ein angeschossener Autofahrer rast an deiner Haustür vorbei, auf der Flucht vor Banditen – und du verdrängst. Doch dann passiert dieser eine Mord, und du schaffst es nicht mehr. Zwei Banditen, die in Santa Teresa, dem charmanten Boheme-Viertel auf dem Hügel, die Logopädin Márcia in ihrer Wohnung überfielen. Sie vergewaltigten sie und ihre 13-jährige Tochter, während Sohn und Ex-Mann, beide gefesselt, im Nebenzimmer lagen. Schließlich skalpierten sie die Lehrerin. Die Beute für die Gangster: 500 Mark.”
Dass die Quintessenz aus solchen Erfahrungen die Forderung ist, die Drogen zu legalisieren, um den Banden die Geschäftsgrundlage zu entziehen, überrascht dann nur noch in sicherer Distanz lebende Puristen.
Inzwischen ist Matussek an die Ostsee übergesiedelt. „Ein Luft- und Wasserkurort. Wir leben jetzt da, wo andere Urlaub machen. Nur noch Weite, eine sanft rollende Landschaft aus Feldern und Blumen und Katen am Rande eines Naturschutzgebietes. Verlangsamt. Still. Schön. Und dem Lebensalter angemessen, in das ich nun eintrete. Und worüber ich im nächsten Kapitel schreibe. Und überhaupt: Ans Rauchen denke ich schon längst nicht mehr!”
Aber ich!