29. September 2024

Die Sonn­ta­ge aber den Künsten!

Nach­dem ich ges­tern so über Ber­lin geläs­tert habe, will ich heu­te ein wer­ben­des Wort für die Haupt­stadt ein­le­gen, nicht gleich für die gan­ze Stadt, nur für einen ver­gleichs­wei­se klit­ze­klei­nen und gut ver­steck­ten Teil von ihr. Im Bezirk Tier­gar­ten zwi­schen Pots­da­mer Platz und Land­wehr­ka­nal befin­det sich, auf einer Ber­lin-typi­schen Bra­che, das soge­nann­te Kul­tur­fo­rum, und dort, neben der Phil­har­mo­nie, die eines der bes­ten Orches­ter des Pla­ne­ten beher­bergt, stößt der geführ­te Ber­lin-Besu­cher auf eine der bes­ten Gemäl­de­samm­lun­gen über­haupt. Er muss aller­dings tat­säch­lich dort­hin gelei­tet wer­den, denn von allein ver­fie­le nie­mand auf die Idee, dass aus­ge­rech­net an die­sem zugi­gen Ende der bewohn­ten Welt, inmit­ten groß­zü­gig ver­streu­ter archi­tek­to­ni­scher Scheuß­lich­kei­ten, eine hoch­be­deu­ten­de Kunst­samm­lung exis­tie­ren könn­te, die frei­lich eben­falls in einem Bau mit dem Charme einer etwas hip­pe­ren Gesamt­schu­le unter­ge­bracht ist.

Ver­gan­ge­nen Frei­tag­vor­mit­tag ver­brach­te ich dort zwei Stun­den in völ­li­ger Seligkeit.

Näm­lich in der Son­der­aus­stel­lung „Frans Hals. Meis­ter des Augen­blicks”, die unge­fähr sieb­zig Gemäl­de des Nie­der­län­ders zeigt (bei­na­he hät­te ich mecha­nisch „Arbei­ten” geschrie­ben, aber so nen­nen Jour­na­lis­ten Kunst­wer­ke ja erst, seit­dem ihre Her­stel­lung kaum mehr Arbeit erfordert).

Frans Hals war einer der größ­ten Por­trä­tis­ten der Geschich­te. Er stellt auf sei­nen Bil­dern eine Art Über­wirk­lich­keit her – und zwar egal, in wel­chem Mal­stil, er bedient sich ja meh­re­rer. Über­wirk­lich bedeu­tet, dass sei­ne Bil­der (oft) etwas wie­der­ge­ben, das eigent­lich nicht oder nicht für jeder­mann zu sehen ist; ich wür­de es gera­de­zu als einen Blick in die See­le des Dar­ge­stell­ten bezeich­nen. Man hat den Ein­druck, mit die­sem Men­schen per­sön­lich bekannt, ja ver­traut zu sein und sein Inne­res schau­en zu kön­nen. Das für mei­ne Begrif­fe bedeu­tends­te Bei­spiel eines über­wirk­lich gemal­ten Por­träts stammt von Die­go Veláz­quez und zeigt Inno­zenz X.; der Papst soll vor sei­nem Kon­ter­fei fast erschro­cken sein und sich erkannt gefühlt haben („Trop­po vero” – zu wahr – habe Inno­zenz angeb­lich gesagt, ergänzt Freund ***, womit der Begriff über­wahr ein frü­hes Copy­right erhiel­te). Aber Hals kommt dem Maler der Maler schon sehr sehr nahe.

Erwar­ten Sie bit­te kei­ne künst­le­ri­sche oder gar „kunst­wis­sen­schaft­li­che” Abhand­lung über den Meis­ter aus Haar­lem; hier muss man mit den Augen begrei­fen, durch die Augen atmen, das ist alles.

Apro­pos ver­schie­de­ne Mal­sti­le bei Hals.

Er konn­te sehr viel, die­ser Frans Hals, er beherrsch­te die klas­si­sche Inkarnat­ma­le­rei und schuf zur glei­chen Zeit Bil­der im Sti­le des Impres­sio­nis­mus oder des Natu­ra­lis­mus – Kunst­rich­tun­gen bzw. ‑moden, die 200 Jah­re nach sei­nem Tod ent­stan­den (er starb 1666). Das­sel­be gilt übri­gens für Veláz­quez oder den spä­ten Rem­brandt. Was ein­mal mehr zeigt, wie unsin­nig sol­che Schub­la­den sind. Und war­um mir das 17. Jahr­hun­dert in der Male­rei voll­kom­men genügt.

Gleich­wohl kommt kein Muse­um, kei­ne Gale­rie, kei­ne Aus­stel­lung ohne die­sen Ent­wick­lungs­non­sens aus. Impres­sio­nis­mus heißt schließ­lich nicht, dass zwei oder drei gele­gent­lich impres­sio­nis­tisch malen, son­dern dass es plötz­lich alle tun und alles ande­re auf ein­mal als falsch und rück­stän­dig gilt.

Wobei der Begriff „Vor­rei­ter” noch halb­wegs ver­tret­bar ist, da rei­tet jemand auf eige­ne Kap­pe ins Unbe­kann­te, und ande­re inter­pre­tie­ren das eben als ein Vor­aus und fol­gen ihm. „Mit sei­nem außer­ge­wöhn­lich locke­ren, frei­en Mal­stil inspi­rier­te der Haar­le­mer Maler wie kein ande­rer Künst­ler sei­ner Zeit die Male­rei der Moder­ne”, heißt es im Kata­log. Die Moder­ne ist näm­lich das Klas­sen­ziel der Male­rei, die Post­mo­der­ne wäre dann qua­si das Abitur. Ein Vor­rei­ter kann natür­lich auch in die Irre oder berg­ab unter­wegs sein, aber die­sen Gedan­ken ver­weh­ren sich die Kunst­wis­sen­schaft­ler, Kunst­kri­ti­ker und Kunst­händ­ler, er könn­te ihr Geschäft verderben.

Wie der oben gezeig­te Fischer­kna­be gehört auch das als exem­pla­ri­sches Pro­dukt eines Vor­rei­ters unter die Schlag­zei­le gehäng­te Por­trät eines jun­gen Man­nes nicht zu den ganz gro­ßen Groß­ta­ten die­ses gro­ßen Künstlers.

Tre­ten wir etwas näher her­an; das emp­fiehlt sich bei jeg­li­cher Male­rei und soll uns hier gewis­ser­ma­ßen die Huf­spu­ren der Vor­rei­te­rei zeigen.

Oder jene.

17. Jahr­hun­dert, kaum zu glau­ben. Ich ver­mu­te, das sind Gele­gen­heits­bil­der, kei­ne Auf­trags­wer­ke, und was uns als moder­ner Mal­stil erscheint, ist letzt­lich bloß brot­lo­se Kunst. Wie gründ­lich Hals sei­ne Bil­der durch­ar­bei­te­te, hat sich gewiss nach dem Preis gerich­tet, den er für ein Werk erwar­ten durf­te. Die Por­träts der wohl­ha­ben­den Haar­le­mer Bür­ger und Krä­mer sind äußerst peni­bel gemalt, wäh­rend er die ande­ren rasch „hin­ge­wor­fen” hat.

Zum Ver­gleich der Ärmel des Her­ren von vor­hin mit sei­nen lands­knechts­ar­ti­gen Schlit­zen, aus denen frei­lich feins­te Spit­ze quillt.

Mein Freund Peter Scher­mu­ly, der von der abs­trak­ten Male­rei zur gegen­ständ­li­chen zurück­kehr­te und neben gran­dio­sen Stil­le­ben eine Rei­he von Por­träts schuf, hat sich bis­wei­len despek­tier­lich dar­über geäu­ßert, was der Jetzt­s­as­se so am Lei­be tra­ge; für den Maler sei das jeden­falls voll­kom­men unin­ter­es­sant, und er benei­de jene alten Meis­ter, die Königs­ro­ben mit Her­me­lin­kra­gen oder mit Per­len und Sti­cke­rei­en besetz­te rau­schen­de baro­cke Damen­klei­der malen konn­ten. Man darf also ver­mu­ten, dass die moder­ne Male­rei auch ein Resul­tat der Ent­wick­lung der Beklei­dungs­in­dus­trie ist.

Mei­ne Her­ren, haben Sie etwas Ver­gleich­ba­res im Klei­der­schrank? Wozu auch, es könn­te ja doch nie­mand mehr in Öl verewigen.

In wel­chem Jahr­hun­dert wur­de wohl die­se Hand gemalt?

Jene haben wir bereits gese­hen. Dazwi­schen schei­nen Jahr­hun­der­te zu liegen.

Der Zinn­krug, aus dem die bekann­te när­ri­sche „Mal­le Bab­be” trinkt, mate­ria­li­sier­te sich irgend­wann zwi­schen 1633 und 1635 auf der pla­nen Leinwand.

230 Jah­re spä­ter, bei Manet, dem ein­zi­gen Impres­sio­nis­ten, von dem ich gern ein paar Bil­der besä­ße, kehrt er wieder.

Zu loben ist die Gemäl­de­ga­le­rie für die schö­ne Hän­gung der Bil­der vor dun­kel­grau­em bzw. ‑blau­em Hin­ter­gund (wir bli­cken auf die „Schüt­zen­gil­de des XI. Bezirks von Ams­ter­dam”, auch „Die mage­re Kom­pa­gnie” genannt, eines der weni­gen Groß­for­ma­te von Hals).

Sacht zu tadeln ist sie für ihre Zeitgeistereien.

Heißt es nicht Auf­trag­ge­ben­de?

Davon abge­se­hen, ob „schel­misch” wirk­lich das tref­fen­de Wort für das Lächeln die­ser Außenseiter*in ist: Wer sagt, dass „sie” als Frau gele­sen wer­den woll­te? (Dass der Maler sie so gele­sen hat, steht lei­der außer Zweifel.)

Und das durf­te natür­lich auch nicht fehlen.

Es han­delt sich um die­sen bekann­ten Gesel­len; ich habe ihn in der Schau gar nicht pho­to­gra­phiert – darf man mit dem Hän­di gemach­te Fotos noch mit ph schrei­ben? –, wahr­schein­lich aus laten­tem Ras­si­mus. Black­fa­cing also, „wahr­schein­lich”, es könn­te frei­lich auch ein ech­ter Mohr bzw. in die­sem Fall ein Mulat­te das Modell gewe­sen sein. Und wenn es ein Bleich­ge­sicht war (und kein Kamin­keh­rer), woher schlie­ßen unse­re Kunst­deu­tungs­kom­mis­sa­re, dass der Kerl sich aus mut­maß­lich ras­sis­ti­schen Moti­ven das Ant­litz ange­pin­selt hat? Und nicht, weil er sich als Genie ver­klei­den woll­te? Der „törich­te Narr” – kei­nes­wegs zu ver­wech­seln mit den oppor­tu­nis­ti­schen Nar­ren, die der­glei­chen Aus­stel­lungs­be­gleit­ge­schwa­fel ver­zap­fen – ist in der Geschich­te der abend­län­di­schen Male­rei aber fast immer weiß. Für das 17. Jahr­hun­dert ist in Hol­land noch nicht ein­mal der Brauch des Zwar­te Piet (Schwar­zer Peter) als Knecht-Ruprecht- oder Kram­pus-arti­ger Hel­fer des Sin­ter­klaas (Niko­laus) belegt. Aber wenn’s denn der Rassismus(er)findung dient.

Wol­len wir wirk­lich so dumm enden? Nein.

Ein fer­ner Ahne von Peter Slo­ter­di­jk stand dem Frans Hals auch ein­mal Modell.

Ich kann­te das Gemäl­de unter dem Titel: „Por­trät des Claes Duyst van Voor­hout”, heu­er steht ein mög­li­cher­wei­se davor. Sowie: „Bei dem Dar­ge­stell­ten han­delt es sich wahr­schein­lich um den Eigen­tü­mer einer Haar­le­mer Braue­rei.” Aber gewiss­lich um einen Kon­su­men­ten des dort her­ge­stell­ten Produktes.

(Die Aus­stel­lung läuft noch bis zum 3. November.)

 

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