Michel Houellebecq

Nihilistischer Spätling

Über Michel Hou­el­le­becq, den bedeu­tends­ten Lite­ra­ten unse­rer Zeit

Wohl jeder halb­wegs in his­to­ri­schen Kate­go­rien den­ken­de Mensch stellt sich im Lau­fe sei­nes Lebens die Fra­ge, als wes­sen Zeit­ge­nos­se er ein­mal sein Dasein ver­bracht haben wird. Wer mögen die blei­ben­den Gestal­ten jener Epo­che gewe­sen sein, in der man sel­ber leb­te? Sogar in der Sphä­re des Poli­ti­schen weiß man heu­te, anders als noch zu Napo­le­ons und Bis­marcks, Sta­lins und Hit­lers Zei­ten, nicht mehr recht, wel­che Figur über die schie­re Erwäh­nung in Regent­schafts­an­na­len hin­aus blei­ben­de Gel­tung bean­spru­chen kann. Wie hei­kel wird die Pro­gno­se dann aber erst in den Künsten! Hier urteilt die Nach­welt mit erstaun­li­cher Ver­läß­lich­keit kon­trär zum Geschmack der jewei­li­gen Ver­gan­gen­heit. Fried­rich von Mat­this­son etwa wur­de von vie­len Zeit­ge­nos­sen als Lyri­ker über Goe­the gestellt, Anton Rapha­el Mengs galt sei­ner Mit­welt als der größ­te Maler seit Raf­fa­el, Sar­dou als größ­ter Dra­ma­ti­ker sei­nes Jahr­hun­derts, Mey­er­beer als Voll­ender der Oper. Die popu­lä­re Zweit­klas­sig­keit tri­um­phiert im Urteil der Zeit­ge­nos­sen gemein­hin über das Genie, und erst eine Gene­ra­ti­on spä­ter tritt das Über­zeit­li­che und Klas­si­sche zutage.

Wer also mögen die künftigen Klas­si­ker unse­rer Zeit sein? Ich habe ein­mal auf die Fra­ge, wes­sen Zeit­ge­nos­sen­schaft mich mit Stolz erfülle, mit den Namen Stan­ley Kubrick und Car­los Klei­ber geant­wor­tet. Ein Lite­rat fehl­te bis­lang. Des­halb sei hier der Name Michel Hou­el­le­becq hinzugesetzt.

Sei­nen ein­sa­men Rang hat der Fran­zo­se Anfang Okto­ber 2017 mit der Dan­kes­re­de zur Ver­lei­hung des Frank-Schirr­ma­cher-Prei­ses – über die gro­tes­ke Kluft zwi­schen Namens­pa­tron und Preis­trä­ger sei der Man­tel des Schwei­gens gebrei­tet – neu­er­lich unter Beweis gestellt. Die lako­ni­sche Unverblümtheit, mit der Hou­el­le­becq in die­ser Rede die euro­päi­sche Lin­ke in die aggres­si­ve Bedeu­tungs­lo­sig­keit ver­ab­schie­det, den radi­ka­len Islam in sei­nem Blut­durst mit dem Jako­bi­ner­tum ver­gleicht und die Pro­sti­tu­ti­on ver­tei­digt, weist ihn als einen geis­ti­gen Liber­tin aus, um den man unse­re Nach­barn nur benei­den kann.

Im Fal­le Hou­el­le­becqs wer­den wir frei­lich nicht auf die eben erwähn­te Kluft im Urteil von Mit- und Nach­welt sto­ßen; der Mann ist schließ­lich heu­te bereits ein Welt­star. Aller­dings kei­ner, den die Welt hofiert, eher blickt sie mit Skep­sis und einem gewis­sen Wider­wil­len auf ihn. Der Fran­zo­se wird wahl­wei­se als Frau­en­feind, Nihi­list, Ras­sist, Rechts­in­tel­lek­tu­el­ler, Anar­chist und Islam­geg­ner gehan­delt. In den deut­schen Medi­en erscheint sein Name zwang­haft mit dem Zusatz „Skan­dal­au­tor“ oder „Pro­vo­ka­teur“. Er selbst wähl­te in aller Beschei­den­heit die Bezeich­nung „Spie­ßer“ zur Selbst­cha­rak­te­ri­sie­rung. Im Gegen­satz zu fast allen Spie­ßern die­ses Pla­ne­ten hat er frei­lich die Marot­te, in aller Scho­nungs­lo­sig­keit aus­zu­spre­chen, was er für die Wahr­heit hält. Nor­ma­ler­wei­se wird man dafür gelyncht. Hou­el­le­becq hat­te Glück, er wur­de Best­sel­ler­au­tor. Er hat die­se Rol­le kei­nes­falls gesucht, von allen Roman­ciers, die hohe Auf­la­gen erziel­ten, dürfte er der­je­ni­ge sein, der die gerings­ten Kon­zes­sio­nen an den Leser macht.

Auf eine zumin­dest hier­zu­lan­de undenk­ba­re Wei­se macht er auch sich selbst gegenüber kei­ner­lei Kon­zes­sio­nen. „Es han­delt sich bei uns bei­den um ziem­lich ver­ach­tens­wer­te Indi­vi­du­en“: Mit die­sen Wor­ten eröff­ne­te Hou­el­le­becq einen 2008 unter dem Titel „Volks­fein­de“ ver­öf­fent­lich­ten Dia­log mit dem salon­bol­sche­wis­ti­schen Leit­ar­tik­ler Ber­nard-Hen­ri Lévy. Ohne dem geschätz­ten und dem weni­ger geschätz­ten Wel­schen mit dem fol­gen­den Ver­gleich zu nahe tre­ten zu wol­len, aber kann sich jemand vor­stel­len, daß Richard David Precht der­glei­chen im Dia­log mit Elke Hei­den­reich vortrüge?

Der 1958 in La Réuni­on gebo­re­ne Land­wirt­schafts­in­ge­nieur begann sei­ne schrift­stel­le­ri­sche Kar­rie­re als eine Art Anti-Heming­way. Im Gegen­satz zum Män­ner­schweiß-Hero­is­mus des ame­ri­ka­ni­schen Groß­kit­schiers strot­zen die Lebens­we­ge sei­ner Figu­ren vor Nie­der­la­gen, Pein­lich­kei­ten und Selbst­an­kla­gen. Mit sei­nem ers­ten Roman oder Qua­si-Roman „Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne“ brach­te er einen völ­lig neu­en Ton der Ver­zweif­lung in die fran­zö­si­sche Lite­ra­tur. Auf der lite­ra­ri­schen Bühne erschien der Verkünder und Beken­ner des sexu­el­len Pau­pe­ris­mus. Sei­ne Prot­ago­nis­ten haben nichts zu ver­lie­ren als ihre Unat­trak­ti­vi­tät, ihre Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xe und ihre Por­no-Abos. Die soge­nann­te sexu­el­le Befrei­ung habe die meis­ten Men­schen nur ver­sklavt und gedemütigt, sta­tu­ier­te die­ser Autor, neben dem Kampf um die Lebens­grund­la­gen sei nun auch noch der um die Sexu­al­part­ner getre­ten, doch so üppig sich das Ange­bot an juve­ni­ler weib­li­cher Schön­heit aus­neh­men mag, für die meis­ten Män­ner endet die Wer­bung mit der depri­mie­ren­den Ein­sicht, daß sie für die Schö­nen nicht in Fra­ge kämen. Der sexu­el­le Libe­ra­lis­mus sei nichts als die kon­se­quen­te Fort­set­zung des Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus, die „Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne“ auf alle Alters­stu­fen und Gesell­schafts­klas­sen. Zum rela­ti­ven Ruhm des links­rhei­ni­schen Lite­ra­tur­be­triebs muß fest­ge­hal­ten wer­den, daß er auf Hou­el­le­becq nicht mit Exklu­si­on, son­dern mit Prei­sen reagier­te – frei­lich vor allem aus Gründen der Fri­vo­li­tät. Hät­ten die­se Leu­te damals gewußt, wor­auf sie sich ein­las­sen, sie hät­ten den neu­en O‑là-là wohl eher in irgend­ei­ne Wüste gejagt.

Hou­el­le­becq ist der Autor der west­li­chen Deka­denz. Sei­ne Figu­ren haben die Fähig­keit ver­lo­ren, in Gene­ra­tio­nen zu den­ken. Unfä­hig und vor allem unwil­lig, Kin­der zu zeu­gen, träu­men sie doch von Unsterb­lich­keit und ewi­gen Leben. Sei­ne Bücher beschrei­ben die Ero­si­on einer Gesell­schaft und die Ver­ein­ze­lung ihrer Mit­glie­der zu „Ele­men­tar­teil­chen“.

1998 erschien unter die­sem Titel Hou­el­le­becqs zwei­ter und essen­ti­ells­ter Roman. Er schil­dert das Leben der Halbbrüder Michel Djer­zinski und Bru­no Clé­ment. Bei­de sind Ende der 1950er Jah­re gebo­re­ne Söh­ne einer ego­is­ti­schen Mut­ter, die ihr Leben, dem all­ge­mei­nen Trend des Zeit­geis­tes fol­gend, mit sexu­el­len Aben­teu­ern und Selbst­fin­dung­ex­pe­ri­men­ten ver­bringt, jedoch unfä­hig ist, eine emo­tio­na­le Bezie­hung zu ihren Kin­dern auf­zu­bau­en. Bei­de wach­sen getrennt von der Mut­ter bei ihren Großmüttern auf, bei­de neh­men an ihren See­len Scha­den, bei­de wer­den weder eine sta­bi­le Bezie­hung erle­ben noch eine Fami­lie gründen. Bru­no, der am Inter­nat jah­re­lang die Schi­ka­nen älte­rer Mitschüler durch­lei­den muß, wird spä­ter Leh­rer. Er ist ein patho­lo­gisch sex­be­ses­se­ner Mensch, hat aber beim ande­ren Geschlecht kein Glück. Der bis an die Gren­ze zum Autis­mus intro­ver­tier­te Michel wie­der­um wird ein bekann­ter Mole­ku­lar­bio­lo­ge, zeigt aber zeit­le­bens wenig Inter­es­se an Frau­en und an sei­nen Mit­men­schen überhaupt. Für bei­de scheint das Schick­sal eine Wen­dung bereit­zu­hal­ten, als sie sich im Alter um die 40 zum ers­ten Mal ver­lie­ben. Doch das Glück ist kurz. Bru­nos Freun­din Chris­tia­ne erkrankt an Steiß­bein­ne­kro­se und begeht Selbst­mord. Bru­no ver­liert darüber den Ver­stand und endet in einer psych­ia­tri­schen Kli­nik. Michel trifft sei­ne Jugend­freun­din Anna­bel­le wie­der, die jedoch an Gebär­mut­ter­krebs erkrankt und eben­falls ihrem Leben ein Ende setzt. Die­se par­al­le­le Engführung in die Kata­stro­phe, die­se Wurs­tig­keit im Umgang mit dem Per­so­nal muß der Leser bei Hou­el­le­becq immer hin­neh­men. Der Autor schießt sich gewis­ser­ma­ßen nur den Weg durch sein Per­so­nal frei, um zur Sache zu kommen.

Michel ver­liert jeg­li­che emo­tio­na­le Bin­dung an sei­ne Mit­welt und wid­met sich nur­mehr noch sei­nen For­schun­gen. Er zer­bricht die Mensch­heits­ge­schich­te in zwei Tei­le, indem er die theo­re­ti­schen Grund­la­gen für eine geschlechts­lo­se und unsterb­li­che Men­schen­ras­se ent­wi­ckelt, die die bis­he­ri­ge Mensch­heit ablö­sen soll. Die­ser Neue Mensch oder Über­mensch ver­mehrt sich durch Klo­nen, besitzt kei­ne Indi­vi­dua­li­tät mehr und kennt weder Alter noch Tod. Die alte Mensch­heit aber, jene der sex­be­ses­se­nen Sozio­pa­then und intro­ver­tier­ten Sozi­al­au­tis­ten, die Mensch­heit des Lei­dens, des Ego­is­mus und der Sinn­su­che, stirbt aus.

Im Roman „Die Mög­lich­keit einer Insel“ (2005) setzt der Autor die­se Gedan­ken­spie­le fort. Inwie­weit er sie für bare Münze nimmt oder bloß als inter­es­san­te Erzäh­ler­per­spek­ti­ve benutzt, steht dahin. Das Buch spielt par­al­lel in der Gegen­wart und in der fer­nen Zukunft. Erzählt wird die Lebens­ge­schich­te von Dani­el, einem einst erfolg­rei­chen, in die Jah­re gekom­me­nen Con­fé­ren­cier. Es ist eine typi­sche Hou­el­le­becq-Figur: intel­li­gent, aber dasein­ser­schöpft und antriebs­arm, allein­le­bend, kin­der­los, glau­bens­los, zynisch, sich selbst gering­schät­zend, immer auf der Suche nach Sex und von der Über­zeu­gung durch­drun­gen, daß mit dem eige­nen Ende alle Din­ge überhaupt enden.

Zufäl­lig kommt Dani­el mit der Sek­te der „Elo­h­imi­ten“ in Kon­takt, die unter ande­rem For­schun­gen zur künstlichen Repli­ka­ti­on von Men­schen betreibt. Die „Elo­h­imi­ten“ ver­bin­den sexu­el­le Freizügigkeit mit dem Ver­spre­chen, Men­schen gen­tech­nisch zu opti­mie­ren und zu klo­nen. Wer Mit­glied wird, muß der Sek­te nach sei­nem Tode allen Besitz ver­er­ben. Als Gegen­leis­tung wird sei­ne DNA kon­ser­viert und durch Klo­nen „unsterb­lich“ gemacht. Die zwei­te Zeit­ebe­ne des Romans spielt 2000 Jah­re spä­ter: Die Erde sich hat infol­ge von Atom­ex­plo­sio­nen und einer Ver­schie­bung der Erd­ach­se kli­ma­tisch und geo­lo­gisch stark ver­än­dert. Die Men­schen sind gro­ßen­teils aus­ge­stor­ben, die weni­gen Über­le­ben­den auf ein vor­zi­vi­li­sa­to­ri­sches Niveau zurückgesunken. Es gibt aber noch die soge­nann­ten „Neo-Men­schen“, die Nach­fah­ren der am Ende des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts ent­stan­de­nen Sek­te der „Elo­h­imi­ten“. Zu ihnen gehö­ren die gene­ti­schen Nach­kom­men des Ich-Erzäh­lers Dani­el. Die­se trans­hu­ma­ne Spe­zi­es deckt ihren Ener­gie­be­darf durch Pho­to­syn­te­se und kennt kaum mehr Gefühle. Mit ver­ständ­nis­lo­ser Neu­gier lesen die Neo-Men­schen in den Lebens­be­rich­ten ihrer gene­ti­schen Ahnen von mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten wie der Lie­be oder der Gier nach Glück …

Zurück in die Gegen­wart. In sei­nem Roman „Platt­form“ hat Hou­el­le­becq ein Plä­doy­er für den Sex­tou­ris­mus geschrie­ben und unmit­tel­bar vor dem 11. Sep­tem­ber 2001 den isla­mi­schen Ter­ror the­ma­ti­siert. In „Unter­wer­fung“ stellt er dann die nahe­lie­gends­te Fra­ge der Gegen­wart, näm­lich: Was geschieht in den west­eu­ro­päi­schen Län­dern, wenn der ste­tig wach­sen­de und im Ver­gleich mit den Ein­ge­bo­re­nen vor allem deut­lich jüngere mus­li­mi­sche Bevöl­ke­rungs­teil anfängt, sei­ne Vor­stel­lun­gen des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens in die Poli­tik „ein­zu­brin­gen“? Am Erschei­nungs­tag von „Sub­mis­si­on“ dran­gen Dschi­ha­dis­ten in die Redak­ti­on der Pari­ser Sati­re­zei­tung „Char­lie Heb­do“ ein, die gera­de mit Hou­el­le­becq als Titel­fi­gur her­aus­ge­kom­men war, und mas­sa­krier­ten die Mit­ar­bei­ter. Der Mann hat also min­des­tens „Timing“, viel­leicht besitzt er sogar pro­phe­ti­sche Gaben.

Seit „Unter­wer­fung“ erschie­nen ist, häu­fen sich auch hier­zu­lan­de die Indi­zi­en dafür, daß der „Skan­dal­au­tor“ womög­lich nichts ande­res als das Script für die nähe­re euro­päi­sche Zukunft ent­wor­fen hat (erin­nern wir uns nur an den pein­li­chen Auf­tritt der bei­den deut­schen Kir­chen­ober­häup­ter auf dem Jeru­sa­le­mer Tem­pel­berg, als sie vor dem Betre­ten des Fel­sen­doms ihre Bischofs­kreu­ze ableg­ten). Um einen Wahl­sieg des Front Natio­nal zu ver­hin­dern, verbünden sich im Roman die vor­mals eta­blier­ten, aber rasant Wäh­ler­stim­men ver­lie­ren­den Par­tei­en mit der Bru­der­schaft der Mus­li­me, deren Vor­sit­zen­der Moham­med Ben Abbas dank die­ser Unterstützung zum Prä­si­den­ten der Repu­blik gewählt wird. Danach ver­än­dert sich Frank­reich natur­ge­mäß, aus der Per­spek­ti­ve des Erzäh­lers aller­dings fast immer zum Posi­ti­ven. Er wird schließ­lich kon­ver­tie­ren, sei­nen Lehr­auf­trag an der Sor­bon­ne zurückbekommen und sich meh­re­re Ehe­frau­en neh­men, wie ande­re Pro­fes­so­ren­kol­le­gen auch.

Der neue Prä­si­dent ist ein mode­ra­ter Herr­scher, der behut­sam vor­geht, also den Weg der Kor­rum­pie­rung jenem der Gewalt ent­schie­den vor­zieht. Die Mus­lim­bru­der­schaft zeigt wenig Inter­es­se dar­an, die Markt­wirt­schaft zu bekämp­fen, die Recht­spre­chung zu isla­mi­sie­ren oder die Leit­li­ni­en der bis­he­ri­gen fran­zö­si­schen Außen­po­li­tik grund­le­gend in Fra­ge zu stel­len. Das ein­zi­ge Res­sort, auf des­sen Beherr­schung sich die neu­en Macht­ha­ber nachdrücklich kapri­zie­ren, ist die Bil­dung. „Wer die Kin­der unter Kon­trol­le hat, der hat die Zukunft unter Kon­trol­le und Schluß“, erklärt ein Beam­ter. Da die Muslim­po­li­ti­ker ohne­hin das frucht­bars­te Seg­ment der fran­zö­si­schen Bevöl­ke­rung ver­tre­ten, ist die sanf­te Isla­mi­sie­rung des Lan­des damit durchgesetzt.

Hou­el­le­becq insis­tiert dar­auf, daß der euro­päi­sche Mensch, daß der gesam­te überalterte und mut­los gewor­de­ne Erd­teil in hohem Maße erlösungsbedürftig gewor­den ist. Führte der Weg sei­ner Prot­ago­nis­ten bis­lang stets nur durchs Nadel­öhr des Sexu­el­len ins tem­po­rä­re Glück, um nach dem Rausch der Paa­rung den Kater der Ver­ein­sa­mung und des Alterns um so ent­setz­li­cher zu spüren, bringt er in „Unter­wer­fung“ die Erlö­sung durch den reli­giö­sen Knie­fall ins Spiel. Die ver­schie­de­nen Par­tei­un­gen Frank­reichs kön­nen sich unter einem neu­en Stern ver­söh­nen. In der gemein­sa­men Unter­wer­fung unter den Islam fin­den sie end­lich jene Gleich­heit, Frei­heit und Brüderlichkeit, die der Fran­zo­se seit 200 Jah­ren offen­bar noto­risch sucht. Den Preis zah­len die eman­zi­pier­ten Frau­en. „Islam­feind­lich“ ist die­ser Roman jeden­falls nicht.

Bei nähe­rer Betrach­tung hat Hou­el­le­becq zwar ver­schie­de­ne Roma­ne ver­faßt, aber im Grun­de nur ein ein­zi­ges Buch immer wei­ter fort­ge­schrie­ben. Fünf ziem­lich willkürlich aus­ge­wähl­te Stel­len aus sei­nen Roma­nen mögen das illustrieren:

„Ich war unfä­hig, für mich selbst zu leben, und für wen sonst hät­te ich leben sol­len? Die Mensch­heit inter­es­sier­te mich nicht, sie wider­te mich sogar an. Ich betrach­te­te die Men­schen kei­nes­wegs als mei­ne Brüder, und ich tat es umso weni­ger, wenn ich einen klei­ne­ren Aus­schnitt der Mensch­heit in Augen­schein nahm, so zum Bei­spiel den­je­ni­gen, der aus mei­nen Lands­leu­ten oder mei­nen ehe­ma­li­gen Kol­le­gen bestand. Den­noch muß­te ich wohl aner­ken­ne, daß die­se Men­schen mir unan­ge­nehm ähnel­ten, daß sie mei­nes­glei­chen waren, auch wenn es gera­de die­se Ähn­lich­keit war, der mich dazu ver­an­laß­te, sie zu meiden.“

„Das Schei­tern einer Zivi­li­sa­ti­on ist eine trau­ri­ge Ange­le­gen­heit, es ist trau­rig, mit anse­hen zu müssen, wie sich ihre klügsten Köp­fe ver­ren­nen – zunächst fühlt man sich leicht unwohl in der eige­nen Haut, und schließ­lich sehnt man sich nach einer Isla­mi­schen Republik.“

„Bis zum Schluß wer­de ich ein Kind Euro­pas, ein Kind des Kum­mers und der Schan­de blei­ben. Ich habe kei­ner­lei Hoff­nungs­bot­schaft zu verkünden. Ich emp­fin­de kei­nen Haß auf die west­li­che Welt, höchs­tens tie­fe Ver­ach­tung. Ich weiß nur, daß wir alle, die wir hier sind, von Ego­is­mus, Maso­chis­mus und Tod durch­drun­gen sind. Wir haben ein Sys­tem geschaf­fen, in dem es ein­fach unmög­lich gewor­den ist zu leben; und die­ses Sys­tem expor­tie­ren wir noch dazu.“

„Wenn man die Ideo­lo­gie des stän­di­gen Wan­dels akzep­tiert, akzep­tiert man auch die Vor­stel­lung, daß das Leben eines Men­schen auf sein indi­vi­du­el­les Dasein beschränkt ist und daß die früheren oder künftigen Gene­ra­tio­nen in sei­nen Augen kei­ner­lei Bedeu­tung haben. So leben wir jetzt, und ein Kind zu haben, hat für einen Mann heut­zu­ta­ge überhaupt kei­nen Sinn mehr.“

„Vor unse­ren Augen uni­for­miert sich die Welt; die Tele­kom­mu­ni­ka­ti­on schrei­tet unauf­halt­sam vor­an; neue Appa­ra­tu­ren berei­chern das Woh­nungs­in­ven­tar. Zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hun­gen wer­den zuneh­mend unmög­lich, was die Zahl der Geschich­ten, aus denen sich ein Leben zusam­men­setzt, ent­spre­chend ver­rin­gert. Und lang­sam erscheint das Ant­litz des Todes in sei­ner gan­zen Herr­lich­keit. Das drit­te Jahr­tau­send läßt sich gut an.“

Zwi­schen die­sen Zita­ten lie­gen 21 Jah­re. Sie stam­men aus den Roma­nen „Unter­wer­fung“ (2015), „Die Mög­lich­keit einer Insel“ (2005 – ja, bereits damals geis­ter­te der isla­mi­sche Staat durch sein Werk), „Platt­form“ (2002), „Ele­men­tar­teil­chen“ (1998) und „Aus­wei­tung der Kampf­zo­ne“ (1994). Hou­el­le­becqs Werk ist ein Kon­ti­nu­um, in wel­ches sich sei­ne Essays und sogar sei­ne Lyrik naht­los einfügen, zwei Gen­res, die er in aller Unbe­denk­lich­keit zuwei­len in sei­ne Roma­ne amalgamiert.

Bleibt die Fra­ge nach dem im eigent­li­chen Sin­ne künstlerischen Rang Hou­el­le­becqs. Ist der Fran­zo­se wirk­lich ein überlebensgroßer Schrift­stel­ler, ein Meis­ter der Form, ein Sti­list sui gene­ris, ein unsterb­li­cher Men­schen­schil­de­rer, ein fes­seln­der Erzäh­ler, kurz­um: ein Acht­tau­sen­der der Lite­ra­tur­ge­schich­te wie Proust, Kaf­ka oder Nabo­kov? Jetzt sto­ßen wir auf ein Para­do­xon. Die Spra­che sei­ner Roma­ne ist höhe­rer Stan­dard, hier arbei­tet kein Meis­ter­sti­list; die Plots wir­ken gestellt, vie­le Selbst­mor­de oder Unfäl­le ver­hin­dern, daß Figu­ren­fä­den „unnö­tig“ aus­ge­dehnt wer­den; die Figu­ren sel­ber blei­ben merkwürdig blaß. Immer wie­der ein­ge­streu­te kom­men­tie­ren­de und essay­is­ti­sche Pas­sa­gen deu­ten an, daß die Gestal­ten kei­nes­wegs nur in ihrer roman­haf­ten Exis­tenz beschrie­ben wer­den, son­dern daß ihnen nach der Auf­fas­sung des Autors eine Bedeu­tung zuwächst, die darüber hinausgeht.

Kei­ne sei­ner Figu­ren stellt Hou­el­le­becq dem Leser plas­tisch und sinn­lich kon­kret vor Augen, er ist kein Wahr­neh­mungs­er­o­ti­ker, gera­de in sei­nen selt­sam ste­ri­len ero­ti­schen Sze­nen wird das deut­lich. Und doch besit­zen sei­ne Bücher eine beein­dru­cken­de Wahr­haf­tig­keit. Hou­el­le­becq verfügt in hohem Maße über App­er­zep­ti­ons­fä­hig­keit, wie Hei­mi­to von Dode­rer es nann­te – also die Fähig­keit, die Welt zu sehen, wie sie ist. Von einem Satz auf den ande­ren ver­mag er es, eine Ver­zweif­lung und Trost­lo­sig­keit ohne­glei­chen zu erzeugen.

Hou­el­le­becqs Roma­ne sind die höchs­te Form des­sen, was Vla­di­mir Nabo­kov als „Ideen­li­te­ra­tur“ ver­ach­te­te. Hou­el­le­becqs Figu­ren agie­ren, wie gesagt, nie­mals nur als lite­ra­ri­sche Indi­vi­du­en, sie tre­ten immer zugleich als durch­aus pla­ka­ti­ve Sym­pto­me im Diens­te der Zeit­dia­gno­se auf. Kei­ne die­ser Figu­ren besitzt etwas Arche­ty­pisch-Ein­präg­sa­mes, kei­ner sei­ner Cha­rak­te­re wird unsterb­lich wer­den wie Kapi­tän Ahab oder Anna Kare­ni­na, aber sei­nen Büchern darf man gleich­wohl eine hohe Halb­werts­zeit pro­phe­zei­en. In einer unio mys­ti­ca mit allen sei­nen Ich-Erzäh­lern ist Hou­el­le­becq sel­ber der Arch­te­typ. Er ver­kör­pert, ana­log zu Nietz­sches Letz­tem Men­schen, den Letz­ten Euro­pä­er. Als Kind sei­ner Zeit und ech­ter Deka­dent ist er außer­stan­de, etwas ande­res zu tun, als um sich selbst zu krei­sen. Hou­el­le­becq mag kei­ner der ganz gro­ßen Schrift­stel­ler sein, aber er ist der bedeu­tends­te Lite­rat unse­rer Zeit.

Natürlich ist der Mann viel zu reflek­tiert, als daß ihm die­ser Befund bei der Selbst­be­trach­tung ent­gan­gen wäre. Bereits 1995 ver­trau­te er dem Maga­zin „Art Press“ an, er sei „ein wenig überrascht, wenn man mir sagt, daß mir psy­cho­lo­gi­sche Por­träts von Indi­vi­du­en, von Per­so­nen gelin­gen“. Er habe „oft den Ein­druck, daß die Indi­vi­du­en in etwa iden­tisch sind, daß das, was sie ihr Ich nen­nen, nicht wirk­lich exis­tiert, und daß es in gewis­sem Sin­ne ein­fa­cher ist, den Gang der Geschich­te zu definieren“.

Die­ser Gang ist ein Nie­der­gang, und er ver­läuft his­to­risch in den Sta­di­en: Tren­nung von Sex und Fort­pflan­zung, Ver­ab­so­lu­tie­rung der Lust, Libe­ra­li­sie­rung der Lust, Zer­stö­rung der Fami­lie, Zer­stö­rung der Tra­di­ti­on, Abschaf­fung des Kin­der­wun­sches, Ent­wer­tung des Alters, Ver­nut­zung aller Din­ge im Namen der indi­vi­du­el­len Frei­heit, Tod der west­li­chen Kultur.

Der Chro­nist die­ser Ent­wick­lung ist kör­per­lich in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren auf scho­ckie­ren­de Wei­se geal­tert, sein Hirn indes scheint vom Ver­fall nicht tan­giert zu sein. „Der jugend­li­che Kör­per ist das ein­zi­ge begeh­rens­wer­te Gut, das die Welt je her­vor­ge­bracht hat“, hat Hou­el­le­becq geschrie­ben. Das ist sein Cre­do, und sei­ne Theo­di­zee lau­tet: „Der ein­zi­ge Ort auf der Welt, an dem ich mich je wirk­lich wohlgefühlt habe, war in den Armen einer Frau, wenn ich tief in ihrer Schei­de steck­te; und ich sah kei­nen Grund, war­um sich das in mei­nem Alter ändern soll­te. daß es überhaupt so etwas wie eine Muschi gab, war schon als sol­ches eine Seg­nung, sag­te ich mir, und allein die Tat­sa­che, daß ich mich dar­in ver­krie­chen konn­te und mich dabei wohl fühlte, war Grund genug, um die­sen beschwer­li­chen Weg fort­zu­set­zen“ („Die Mög­lich­keit einer Insel“).

In „Platt­form“ erklärt der Ich-Erzäh­ler: „Es war nicht sicher, ob die Gesell­schaft sehr lan­ge mit Indi­vi­du­en wie mir überleben konn­te.“ Wahr­schein­lich nicht, aber über die­sen einen aus­er­wähl­ten Fall darf man sagen, daß die Gesell­schaft durch ihn überlebt, wenn auch nur lite­ra­risch, wenn auch nur als Fla­schen­post eines dege­ne­rier­ten, nihi­lis­ti­schen Spätlings.

(Acta diur­na vom 9. Okto­ber 2016)