Zeitgeist? Ach was!

Der deut­sche Den­ker Peter Slo­ter­di­jk – eine Anre­gung zur Lek­tü­re

 

In den ver­gan­ge­nen Jah­ren sind hier­zu­lan­de vie­le Dis­kus­sio­nen über die Bücher und den geis­ti­gen Rang des Karls­ru­her Phi­lo­so­phen Peter Slo­ter­di­jk geführt wor­den, und zwar auf den ver­schie­dens­ten Niveaus, von den Höhen der Online-Foren bis hin­ab ins Feuil­le­ton. Slo­ter­di­jks Debüt „Kri­tik der zyni­schen Ver­nunft“ (1983) war das meist­ver­kauf­te phi­lo­so­phi­sche Werk der Nach­kriegs­zeit, und „Du musst dein Leben ändern“ (2009) wur­de neu­er­lich ein klei­ner Best­sel­ler. Dazwi­schen erschie­nen fast im Jah­res­rhyth­mus Bücher von ihm, in die­sem Som­mer „Zei­len und Tage“, ein pri­va­tes Dia­ri­um der Jah­re 2008 bis 2011, das bei Publi­kum und Kri­tik eben­falls gro­ße Reso­nanz fand.

Das ist zunächst ein­mal inso­fern bemer­kens­wert, als phi­lo­so­phi­sche Gedan­ken (oder gar gan­ze Wer­ke) ja eher sel­ten eine gro­ße Öffent­lich­keit errei­chen; Slo­ter­di­jk muss also ent­we­der auf eine Wei­se den­ken und for­mu­lie­ren, die sich von der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie unter­schei­det, oder im Gegen­satz zu die­ser The­men behan­deln, die auf all­ge­mei­nes Inter­es­se sto­ßen – oder bei­des zusam­men. Auf­fäl­lig an den Debat­ten war und ist fer­ner, dass sie weit­ge­hend einem binä­ren Sche­ma fol­gen: Slo­ter­di­jk löst ent­we­der Begeis­te­rung oder Ableh­nung aus, wobei Letz­te­re oft mit dem Ver­such ein­her­geht, ihm den Sta­tus des Phi­lo­so­phen ins­ge­samt strei­tig zu machen. Der Autor die­ser Betrach­tung ist kei­nes­wegs die Instanz, dar­über zu befin­den, ob jemand in die­ses exklu­si­ve Gre­mi­um gehört (das sich ohne­hin sub spe­cie aeter­ni­ta­tis for­miert), und er ver­wen­det das Wort in aller zeit­ge­nös­si­schen Unschuld.  Slo­ter­di­jk hat den Phi­lo­so­phen defi­niert „als jeman­den, der wehr­los ist gegen Ein­sich­ten in gro­ße Zusam­men­hän­ge“ und sich sel­ber als „phi­lo­so­phi­schen Schrift­stel­ler“ bezeich­net. Dass er ein anre­gen­der und befruch­ten­der Den­ker ist, soll hier als Aus­gangs­punkt genü­gen. Unser The­ma wird nicht die Fra­ge nach dem phi­lo­so­phi­schen Rang des Karls­ru­her Erz­ge­schei­ten sein, son­dern die nach sei­ner Posi­ti­on im Kraft­feld des herr­schen­den Zeitgeistes.

Rein äußer­lich ist Slo­ter­di­jk eine erfreu­lich unzeit­ge­mä­ße Erschei­nung. Man meint, die­ses Ant­litz aus der flä­misch-nie­der­län­di­schen Male­rei des 17. Jahr­hun­derts zu ken­nen. In sei­nen Tage­bü­chern bezeich­net er sich als „unfri­sier­ba­ren Oger, den man gele­gent­lich in nächt­li­chen Fern­seh­sen­dun­gen gese­hen hat“. In die­sem noto­ri­schen Unfri­siert­sein lebt die auch äußer­li­che Gel­tend­ma­chung einer gewis­sen Liber­ti­na­ge fort, wie sie spä­tes­tens seit Nietz­sche und Marx im Orden der Meis­ter­den­ker eta­bliert ist – sofern es sich nicht bloß um eine bei­be­hal­te­ne Atti­tü­de des in die Jah­re gekom­me­nen Acht­und­sech­zi­gers han­delt. Aber auch als sol­cher blie­be er aus­weis­lich sei­ner Phy­sio­gno­mie ein sel­te­ner Mensch. (Das stärks­te Argu­ment dage­gen, dass Richard David Precht etwas mit Phi­lo­so­phie zu tun haben könn­te, sind ja nicht sei­ne Bücher, son­dern es ist sein Gesicht.)

Der Grund­duk­tus von Slo­ter­di­jks Den­ken ist Hei­ter­keit. Er treibt, in den Wor­ten Nietz­sches, „fröh­li­che Wis­sen­schaft“. Wel­chen Gegen­stand er auch trak­tiert, stets scheint ein gewis­ses distan­zier­tes Amü­siert­sein dabei mit­zu­schwin­gen, wenn er ihn kraft sei­ner For­mu­lie­rungs­küns­te dreht und wen­det. Des­halb gerät die Lek­tü­re sei­ner Tex­te stets zu einer erbau­li­chen Ange­le­gen­heit. Slo­ter­di­jk ver­mag sogar gut­ge­launt zu pole­mi­sie­ren, was ihm – mit­samt sei­ner Wort­mäch­tig­keit, sei­nem Witz, sei­ner stu­pen­den Bele­sen­heit und sei­nen jeder­zeit akti­vier­ba­ren Neo­lo­gis­men-Geschwa­dern – in Aus­ein­an­der­set­zun­gen eine fast natur­ge­ge­ben wir­ken­de Über­le­gen­heit ver­schafft. Und der Zög­ling der 68er-Bewe­gung macht, anders als vie­le Kon­ser­va­ti­ve, vom Recht des Zurück­bei­ßens regen Gebrauch.

Unver­ges­sen soll­te etwa blei­ben, wie er 1999 auf die nach­träg­li­che Skan­da­li­sie­rung sei­nes Vor­trags „Regeln für den Men­schen­park“ reagier­te, die nach sei­ner unwi­der­spro­che­nen Dar­stel­lung unter der Draht­zie­her­schaft des Sozio­lo­gen Jür­gen Haber­mas statt­fand. Der Vor­trag befass­te sich mit der Anwen­dung der Gen­tech­no­lo­gie auf den Men­schen, wofür der Red­ner den Ter­mi­nus „Anthro­po­tech­ni­ken“ ein­führ­te. Ein im Publi­kum anwe­sen­der „Zeit“-Feuilletonist ergriff die Gele­gen­heit, die­se Dar­le­gung auf bewähr­te Wei­se in Rich­tung Euge­nik, Züch­tung und irgend­wie NS-Ras­sen­po­li­tik zu ver­dre­hen, um dar­auf­hin einen sich medi­al wie üblich fort­zeu­gen­den Alarm aus­zu­lö­sen. Slo­ter­di­jk ließ sich nicht lum­pen, trom­mel­te eine Pres­se­kon­fe­renz zusam­men, nann­te Haber­mas die „Starn­ber­ger Fat­wa“ und des­sen jour­na­lis­ti­sche Voll­stre­cker „links­fa­schis­ti­sche Phi­lo­so­phen­pa­pa­raz­zi“ und „Bor­der­li­ner des Huma­nis­mus“. Dem Erst-Alar­mie­rer wie­der­um ver­lieh er in Anspie­lung an das kapi­to­li­ni­sche Geflü­gel, des­sen Schnat­tern anno 387 vor Chris­tus die Römer angeb­lich vor einem gal­li­schen Angriff warn­te, den Titel „Pro­blem­gans“.

Dass sich ein Phi­lo­soph, der den Namen ver­dient, zu den jewei­li­gen Geis­tes­mo­den letzt­lich nur in einem Nicht­ver­hält­nis bewe­gen kann, bedarf kei­ner wei­te­ren Aus­füh­run­gen. Gleich­wohl lau­tet eine Unter­stel­lung, die immer wie­der gegen Slo­ter­di­jk ins Feld geführt wird, er sei ein blo­ßer Zeit­geist-Den­ker. Tat­säch­lich steht er in fast allen Belan­gen quer zum herr­schen­den Zeit­geist. Was das unter den sanf­ten Zwän­gen der medi­en­do­mi­nier­ten Mas­sen­ge­sell­schaft bedeu­tet, hat er im Gesprächs­band „Die Son­ne und der Tod“ so beschrie­ben: „Ich pro­vo­zie­re dei­ne Auto­no­mie-Illu­si­on nie zuver­läs­si­ger, als wenn ich dir am kon­kre­ten Bei­spiel zei­ge, dass du unfä­hig bist, eine Erre­gungs­ket­te in dir enden zu las­sen.“ Die „Defi­ni­ti­on von Sou­ve­rä­ni­tät“ lau­te folg­lich: „sich von Mei­nungs­epi­de­mien distan­zie­ren kön­nen“; Sou­ve­rä­ni­tät zei­ge sich allein dar­in, „dass ich den auf­ge­nom­me­nen Impuls in mir abster­ben las­se oder dass ich ihn in völ­lig ver­wan­del­ter, geprüf­ter, gefil­ter­ter, umco­dier­ter Form weitergebe“.

Ganz main­stream­fern zeigt der Impulsum­co­die­rer aus Karls­ru­he zum Bei­spiel kei­ne Nei­gung zur tren­di­gen Demon­ta­ge der abend­län­di­schen Tra­di­ti­on, egal unter wel­chem aka­de­mi­schen Design sie daher­kommt. (Im Gegen­zug brach­te er spe­zi­ell dem geis­tig-spi­ri­tu­el­len Kos­mos Indi­ens stets gro­ßes Inter­es­se ent­ge­gen, weil­te als jun­ger Mann sogar zwei Jah­re im Aschram bei Bhag­wan ali­as Osho und bezeich­ne­te die dort emp­fan­ge­ne Prä­gung als „unum­kehr­bar“, was ihn im aka­de­mi­schen Sek­tor auch wie­der zum Son­der­ling macht.) Autoren, die erst 2.000 Jah­re tot sind, hält er nicht für über­holt, son­dern für Zeit­ge­nos­sen. Dis­kur­se sto­ßen ihn wegen der Vor­her­sag­bar­keit ihrer Resul­ta­te inzwi­schen ab. Er hat kein Pro­blem damit, Homo sapi­ens als ein bio­lo­gisch deter­mi­nier­tes Wesen zu betrach­ten. Bei ihm fin­det sich kein Wort über „Gen­der“. Der exis­ten­ti­el­le Mensch inter­es­siert ihn min­des­tens so sehr wie der sozia­le, ihm hat er die drei Bän­de sei­nes womög­li­chen Haupt­wer­kes gewid­met: Die „Sphären“-Trilogie in ihrer wun­der­voll absei­ti­gen Per­spek­ti­ve ist eine Uni­ver­sal­ge­schich­te des mensch­li­chen Zur-Welt-Kom­mens, indi­vi­du­ell wie gat­tungs­mä­ßig. In der Nach­fol­ge von Heid­eg­gers „Sein und Zeit“ ste­hend, könn­te sie auch „Sein und Raum“ heißen.

Nie hat sich Slo­ter­di­jk an der mora­li­sie­ren­den Her­ab­set­zung von Den­kern betei­ligt oder sich beflis­sen von „umstrit­te­nen“ Autoren distan­ziert, ob es sich nun um Joseph de Maist­re, Carl Schmitt oder Anto­nio Negri han­delt. Oder um Thi­lo Sar­ra­zin. Über letz­te­ren heißt es in sei­nen Tage­bü­chern, er sei ein „Ver­deut­li­cher“, „rück­sichts­los im posi­ti­ven Sinn des Worts“, denn er ver­fü­ge „offen­sicht­lich über die Gabe, bei der For­mu­lie­rung von spit­zen The­sen mög­li­che Wir­kun­gen des Gesag­ten außer Betracht zu las­sen“. Von den „Ange­hö­ri­gen des radi­kal­kon­for­mis­ti­schen Milieus, von Poli­ti­kern und Medi­en­leu­ten, die aus­schließ­lich in Wir­kungs­be­grif­fen den­ken und stets vom Effekt auf die Absicht schlie­ßen“, wer­de solch empa­thie­freie Rede stets als Pro­vo­ka­ti­on miss­ver­stan­den: „Was man Denk­ver­bot nennt, ist meis­tens ein Deut­lich­keits­ver­bot – man möch­te die Din­ge wie­der in die gewohn­te Trüb­heit tau­chen.“ Die Atti­tü­de des Zen­sie­rens, War­nens oder gar Denun­zie­rens ist Slo­ter­di­jk fremd. Kei­ne poli­ti­sche Par­tei kann auf ihn zäh­len. Der Mann ist durch­aus nicht wil­lens, sich zu kompromittieren.

Dass er in der lin­ken bis links­li­be­ra­len Medi­en­land­schaft inzwi­schen als – gern auch mit Sar­ra­zin in einem Atem­zug geschmäh­ter – Bös­mensch figu­riert, hat vor allem mit sei­nem „FAZ“-Essay „Die Revo­lu­ti­on der geben­den Hand“ und eini­gen Fol­ge­tex­ten zu tun. Dort hat­te er zunächst ein­mal kon­sta­tiert, dass die Erde rund sei, näm­lich: „Voll aus­ge­bau­te Steu­er­staa­ten rekla­mie­ren jedes Jahr die Hälf­te aller Wirt­schafts­er­fol­ge ihrer pro­duk­ti­ven Schich­ten für den Fis­kus, ohne dass die Betrof­fe­nen zu der plau­si­bels­ten Reak­ti­on dar­auf, den anti­fis­ka­li­schen Bür­ger­krieg, ihre Zuflucht neh­men. Das ist ein poli­ti­sches Dres­sur­er­geb­nis, das jeden Finanz­mi­nis­ter des Abso­lu­tis­mus vor Neid hät­te erblas­sen las­sen.“ Apho­ris­tisch heißt es wei­ter: „Ein moder­ner Finanz­mi­nis­ter ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Ver­fas­sung geleis­tet hat.“

Slo­ter­di­jk will die Wohl­ha­ben­den kei­nes­wegs von sozia­ler Ver­ant­wor­tung befrei­en, son­dern „die unwür­di­gen Relik­te der spät­ab­so­lu­tis­ti­schen Staats­klep­to­kra­tie und deren Fort­set­zung in der tief ein­ge­wur­zel­ten Gegen­ent­eig­nungs­lo­gik der klas­si­schen Lin­ken durch eine demo­kra­ti­sche Geber­kul­tur“ über­win­den. In sei­nem Buch „Zorn und Zeit“ wid­met er sich den „thy­mo­ti­schen Ener­gien“ im Men­schen – als da wären Stolz, Mut, Beherzt­heit, Gel­tungs­drang, Zorn, Gerech­tig­keits­sinn, Ehr­ge­fühl – und gelangt zu dem Ergeb­nis, dass in der west­li­chen Welt der wahr­schein­lich zum Schei­tern ver­ur­teil­te Ver­such statt­fin­de, die­se Ener­gien gegen die ero­ti­schen des kon­su­mis­ti­schen Begeh­rens aus­zu­tau­schen und sie so qua­si unter Dau­er­nar­ko­se zu hal­ten. Slo­ter­di­jk schlug unter Ver­weis auf den „thy­mo­ti­schen Gebrauch des Reich­tums in der angel­säch­si­schen Welt, vor allem in den USA“ – sprich: die enor­men Gel­der, die in Über­see kari­ta­tiv gespen­det wer­den – fol­gen­de Über­le­gung vor: Ange­nom­men, der moder­ne Staat brau­che tat­säch­lich die Sum­men, die er heu­te durch Zwangs­steu­ern ein­treibt, „wäre es dann nicht viel wür­de­vol­ler und sozi­al­psy­cho­lo­gisch pro­duk­ti­ver, die­sel­ben Beträ­ge wür­den nicht durch fis­ka­li­sche Zwangs­ab­ga­ben auf­ge­bracht, son­dern in frei­wil­li­ge Zuwen­dun­gen von akti­ven Steu­er­bür­gern an das Gemein­we­sen umge­wan­delt?“ Wür­de durch die­se Umstel­lung von Ent­eig­nung auf Gabe nicht „die Wen­de von einer gier­be­herrsch­ten zu einer stolz­be­weg­ten Gesell­schafts­form“ bewirkt? Das mag man naiv, uto­pisch oder illu­si­ons­trun­ken fin­den – die Ideo­lo­gen des Umver­tei­lungs­staats indes fan­den es „anti­so­zi­al“, wit­ter­ten einen „Klas­sen­kampf von oben“ und unter­stell­ten ihm „Ver­ach­tung für den Sozialstaat“.

Es war die Rede von Slo­ter­di­jks beharr­li­cher Nicht­be­tei­li­gung an der Dia­bo­li­sie­rung von Autoren. Der bedeu­tends­te der vom Zeit­geist mit Schwe­fel­ge­ruch umne­bel­ten Den­ker ist Mar­tin Heid­eg­ger, der bekannt­lich 1933 ein kur­zes Tech­tel­mech­tel mit der NS-Bewe­gung hat­te. Die Heid­eg­ger-Rezep­ti­on hat Slo­ter­di­jk zufol­ge des­halb im Nach­kriegs­deutsch­land nie zu sinn­vol­len Ergeb­nis­sen geführt. Statt­des­sen hiel­ten sich Feuil­le­to­nis­ten für beru­fen, „mora­li­sie­ren­de Gesamt­ur­tei­le abzu­ge­ben über einen Den­ker, der sich ohne Zwei­fel in die Höhen­li­nie der euro­päi­schen Phi­lo­so­phie ein­ge­tra­gen hat – viel­leicht der ein­zi­ge in unse­rem Jahr­hun­dert, den man auf lan­ge Sicht in einem Atem­zug mit Pla­ton, Augus­ti­nus, Tho­mas, Spi­no­za, Kant, Hegel und Nietz­sche wird nen­nen dür­fen“. Bei Heid­eg­gers pos­tu­mer Anbräu­nung tun sich auch fran­zö­si­sche „Ent­hül­ler“ her­vor (Slo­ter­di­jk spricht von „fran­zö­si­scher Kampf­ger­ma­nis­tik“), etwa Emma­nu­el Faye, der vor­schlug, die Gesamt­aus­ga­ben des Seins­be­grüb­lers aus Todt­nau­berg aus den geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Biblio­the­ken zu ent­fer­nen und sie statt­des­sen unter „Geschich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus“ ein­zu­sor­tie­ren. Fayes Heid­eg­ger-Denun­zia­ti­on sei „nur als Teil eines seit Gene­ra­tio­nen prak­ti­zier­ten Leug­nungs­ma­nö­vers zu begrei­fen“, kom­men­tiert Slo­ter­di­jk. „Man ist dort noch immer nicht bereit, vor der eige­nen Haus­tür zu keh­ren.“ Dabei sei­en es im 20. Jahr­hun­dert vor allem fran­zö­si­sche Autoren gewe­sen, „die das Par­tei­lich­keits­den­ken, das Bewe­gungs­den­ken, das Ereig­nis­den­ken in die Phi­lo­so­phie ein­brach­ten, oft genug in flam­boy­an­ter Kor­re­spon­denz mit den Unge­heu­er­lich­kei­ten des Sta­li­nis­mus und des Maoismus“.

In „Zorn und Zeit“ ist Slo­ter­di­jk einem ande­ren aus der hie­si­gen Öffent­lich­keit ver­sto­ße­nen Den­ker bei­gesprun­gen, viel­leicht nolens volens, jeden­falls ohne ihn zu nen­nen, näm­lich dem seit dem His­to­ri­ker­streit als Paria gel­ten­den Ernst Nol­te. In sei­nen Betrach­tun­gen über die „kom­mu­nis­ti­sche Welt­bank des Zorns“ kon­sta­tiert er tro­cken das­sel­be, wofür Nol­te exkom­mu­ni­ziert wur­de (wobei unter Kom­mu­nis­ten die­se The­se immer als unstrit­tig galt), näm­lich dass „der Leni­nis­mus die Matrix des Faschis­mus war“. Das Publi­kum habe noch immer nicht zur Kennt­nis genom­men, „wie­weit der Klas­sis­mus vor dem Ras­sis­mus ran­giert, was die Frei­set­zung geno­zi­da­ler Ener­gien im 20. Jahr­hun­dert anging“. Den Mas­sen­mord an den wohl­ha­ben­den Bau­ern der Sowjet­uni­on nennt er „das dun­kels­te Kapi­tel in der schat­ten­rei­chen Geschich­te revo­lu­tio­nä­rer Zorn­ge­schäf­te“; die Kula­ken bil­de­ten „noch immer das größ­te Geno­zid­op­fer­kol­lek­tiv der Mensch­heits­ge­schich­te“. Auch der ande­re rote Mas­sen­mör­der mit­samt sei­ner west­li­chen Clac­que wird nicht ver­ges­sen: „Die holo­caust­ar­ti­gen Rase­rei­en der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on – von west­li­chen Beob­ach­tern zu grö­ße­ren Unru­hen ver­harm­lost – ereig­ne­ten sich in rela­ti­ver Gleich­zei­tig­keit mit den Stu­den­ten­be­we­gun­gen von Ber­ke­ley, Paris und Ber­lin, wo es auch über­all enga­gier­te Grup­pen gab, die das weni­ge, was sie über die Ereig­nis­se in Chi­na wuss­ten, für einen zurei­chen­den Grund hiel­ten, sich als Mao­is­ten zu prä­sen­tie­ren. Man­che koket­te Mao­ver­eh­rer von damals, die sich wie üblich seit lan­gem selbst ver­zie­hen haben, sind bis heu­te als poli­ti­sche Mora­lis­ten aktiv.“ In „Zei­len und Tage“ fragt sich der Dia­rist: „Wie war es mög­lich, dass die neo-auto­ri­tä­re Bewe­gung jener Jah­re als eine anti-auto­ri­tä­re Bewe­gung in Erin­ne­rung blieb?“

Womit wir beim Glut­kern aller deut­schen Zivil­re­li­gio­si­tät ange­langt wären, dem Drit­ten Reich und des­sen täg­lich neue Lip­pen­be­kennt­nis­se, Rela­ti­vie­rungs­ver­bots­stam­me­lei­en und Unver­gleich­bar­keits­de­kre­te her­vor­brin­gen­der „Bewäl­ti­gung“ (die man frü­her „Auf­ar­bei­tung“ nann­te, bis man die­sen Begriff wie­der denen über­ließ, die mit ihm etwas anfan­gen kön­nen: den Tisch­lern). In „Die Son­ne und der Tod“ hat Slo­ter­di­jk aus­ge­führt: „Je näher man an den Kern der deut­schen Unfrei­heit her­an­kommt, des­to mehr neh­men die zwang­haf­ten Asso­zia­tio­nen zu – bis zuletzt nur noch das Nazi-Eine übrig­bleibt. Es gibt bei uns offen­bar ein Bedürf­nis, die men­ta­len Git­ter­stä­be immer wie­der zu jus­tie­ren, hin­ter denen zu leben hier­zu­lan­de Unzäh­li­ge beschlos­sen haben.“ Die­ses „Selbst­ein­sper­rungs­phä­no­men“ nennt er „das mas­opa­trio­ti­sche Syn­drom“. In den öffent­li­chen Debat­ten „leben wir mehr denn je unter der Über­wa­chung von Alarm­sys­te­men, mit denen die Gren­zen der Denk­area­le mar­kiert sind“. An die Stel­le der „guten intel­lek­tu­el­len Manie­ren“ sei das „Text­mob­bing“ getre­ten: „Das hat man zuerst bei Botho Strauß auf brei­ter Front ein­ge­übt und dann bei Mar­tin Wal­ser und ande­ren sys­te­ma­tisch ein­ge­setzt.“ An ande­rer Stel­le sprach er in die­sem Zusam­men­hang von dem „belieb­ten deut­schen Gesell­schafts­spiel: Such den Faschis­ten!“ Die­sen „Spä­t­er­folg der NS-Zeit in den Ner­ven­sys­te­men der Nach­le­ben­den“ kön­ne man „auf­grund sei­ner Obs­zö­ni­tät nicht genug denun­zie­ren“. Mehr Quer­trei­be­rei als die Auf­for­de­rung, die Denun­zi­an­ten zu denun­zie­ren, kann man von einem deut­schen Aka­de­mi­ker nicht erwarten.

Ein­zig in sei­nem Anti­ka­tho­li­zis­mus scheint sich der Den­ker an der Sei­te der main­strea­mi­gen Pla­ge­geis­ter zu befin­den. Frei­lich voll­zieht er auch sei­nen nietz­schea­ni­schen „Pri­vat­krieg gegen den Begriff Reli­gi­on“ in Gelas­sen­heit. „Im Grun­de lau­fen die mono­the­is­ti­schen Lebens­pro­gram­me immer auf das­sel­be hin­aus: auf ein mut­wil­li­ges Sich­vor­drän­gen beim Die­nen unter höchs­ten Adres­sen“, schreibt er (ein Schelm übri­gens, wer hier prompt an die rot-grü­nen Prä­la­tIn­nen denkt). Slo­ter­di­jk betrach­tet die Reli­gio­nen als ana­chro­nis­tisch gewor­de­ne Über­le­bens­hil­fen, die von einer „all­ge­mei­nen Immu­no­lo­gie“ abge­löst wer­den soll­ten. Wenn es kei­nen Gott gibt, müs­se sich der Mensch sel­ber tran­szen­die­ren, über sich hin­aus­wach­sen, auch gene­tisch, um sein Über­le­ben als Gat­tung sel­ber zu orga­ni­sie­ren. Die Beant­wor­tung der Fra­ge, wie dies genau gesche­hen sol­le, muss er schul­dig blei­ben. Wenn er dar­auf eine Ant­wort wüss­te, schrie­be er ja – in Abwand­lung eines Bil­des von Hen­ry Lou­is Men­cken – kei­ne Bücher, son­dern säße in einem präch­ti­gen Saal aus Kris­tall und Gold, und die Leu­te wür­den viel Geld bezah­len, um ihn durch win­zi­ge Guck­lö­cher anstar­ren zu dürfen.

Die unver­schwitz­te Leicht­fü­ßig­keit und schil­lern­de Prä­zi­si­on von Slo­ter­di­jks Spra­che führt in die Ver­su­chung, ihn end­los zu zitie­ren. Neh­men wir eine Notiz zur im Schwan­ge befind­li­chen Abwer­tung von Männ­lich­keit: „Adam war ein Hand­lungs­rei­sen­der, der neun­und­vier­zig Mal ver­geb­lich klin­gel­te und doch über­zeugt blieb, an der nächs­ten Tür sein Zeug an den Mann zu brin­gen. Das ist der Anfang des hei­li­gen Buchs vom männ­li­chen Miss­erfolg. Wir exis­tie­ren, weil wir Vor­fah­ren hat­ten, die aus ihren Erfah­run­gen nichts lern­ten. Die­se Bur­schen lie­ßen die Nie­der­la­gen an sich abtrop­fen wie war­men Regen über der Savan­ne. Im All­tag wird die­se Hal­tung als Selbst­über­schat­zung oder als männ­li­che Groß­spu­rig­keit miss­in­ter­pre­tiert. Man will nicht zuge­ben, dass Män­ner auf Aus­ge­lacht­wer­den, Ver­höh­nung und Miss­erfolg gene­tisch bes­ser vor­be­rei­tet sind.“ Frei­lich, es gibt Kon­tex­te, in denen auch die femi­nis­ti­sche Per­spek­ti­ve zu ihrem Recht kommt: „Die Frau­en sind der Schlüs­sel zur Zivi­li­sie­rung. Der Islam hat sich vom Anfang des 20. Jahr­hun­derts, wo er zu einer mar­gi­na­len Glau­bens­grup­pe zähl­te, bin­nen eines Jahr­hun­derts ver­acht­facht, das heißt, hier ist Kampf­fort­pflan­zung in der Luft, und damit auch eine Form von zwei­ter Pro­le­ta­ri­sie­rung. In dem Augen­blick, wo das weib­li­che Dabei­sein – wir haben die­se aufs Gan­ze wün­schens­wer­te Ent­wick­lung im Wes­ten –, wo der weib­li­che Stolz gestärkt wird, stür­zen auch die Gebur­ten­ra­ten auf ver­nünf­ti­ge Wer­te her­un­ter. Der Schlüs­sel liegt in der Ermäch­ti­gung der Frau.“

Über das soge­nann­te Regie­thea­ter schreibt er: „Was die heu­ti­gen Regis­seu­re nicht kapie­ren, ist, dass man jetzt, nach dem Sieg der Die­ner im Rea­len, auf der Büh­ne den vor­neh­men Figu­ren assis­tie­ren muss.“ – „So gut wie alle Thea­ter­ma­cher stel­len sich an, als ob die Revo­lu­ti­on vor uns läge und mit den Mit­teln der Büh­ne vor­an­zu­trei­ben sei. Die Wahr­heit ist, Lepo­rel­lo, Despi­na und Co. füh­ren Regie. Sie demons­trie­ren immer wie­der, was seit 200 Jah­ren kei­ner Demons­tra­ti­on mehr bedarf: dass es für das Zim­mer­mäd­chen kei­ne gro­ße Dame gibt, für den Kam­mer­die­ner kei­ne gro­ßen Herrn. Neu scheint nur, dass es für den Regis­seur kei­ne gro­ßen Dich­ter gibt.“

Mit­un­ter sinkt sogar die­ser hei­te­re Den­ker in die Klüf­te des Kul­tur­pes­si­mis­mus. „Nicht oft genug kann man nach Vene­dig fah­ren, wenn man wis­sen will, was Ita­li­en und Euro­pa bevor­steht“, notiert er. „Es könn­te pas­sie­ren, dass von dem schö­nen Ita­li­en in Kür­ze nicht mehr übrig­bleibt als von Ägyp­ten nach dem Erlö­schen der Pha­rao­nen und ihrer stil­lo­sen Erben, eine ent­geis­ter­te Bio­mas­se, in der es spukt.“ Und al fres­co fährt er fort: „In tau­send Jah­ren wird man sich an Euro­pa erin­nern wie an das Mitt­le­re Reich am Nil. Man wird die Legen­de vom sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kon­ti­nent erzäh­len wie den Mythos von Atlan­tis. Phi­lo­lo­gen wer­den Unter­su­chun­gen zu anti­ken Wör­tern wie ‚Arbeits­lo­sen­geld’, ‚Wohn­geld’ und ‚Kin­der­geld’ anstel­len, als wären es Hie­ro­gly­phen an der Wand eines der Göt­tin ‚Gesell­schaft’ geweih­ten Tempels.“

Gleich­wohl wird Slo­ter­di­jk bis heu­te nicht zurück­neh­men, was er 1993 in sei­nem Buch „Welt­fremd­heit“ schrieb und womit die­se Betrach­tung enden soll: „Aber kla­gen gilt nicht, und es ist unan­stän­dig, sich klein zu stel­len. Die Pflicht, glück­lich zu sein, gilt in Zei­ten wie unse­ren mehr denn je. Der wah­re Rea­lis­mus der Gat­tung besteht dar­in, von ihrer Intel­li­genz nicht weni­ger zu erwar­ten, als von ihr ver­langt wird.“

 

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Dezem­ber 2012

 

 

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