Gesucht: der Härteste

Sie hat zwei Welt­krie­ge und die schlimms­ten Doping-Skan­da­le der Sport­ge­schich­te über­stan­den: Im Juli star­tet die Tour de France. Das Epos geht wei­ter – auch nach Epo

Unter sei­nen Zeit­ge­nos­sen hat­te Hen­ri Des­gran­ge, Her­aus­ge­ber der Sport­zei­tung „L’Au­to“, einen zwie­späl­ti­gen Ruf. Die einen mein­ten, er sei ein Sadist, wäh­rend die ande­ren ihn bloß für einen Ver­rück­ten hiel­ten. Sei­ne Idee, im Jah­re 1903 ein Stra­ßen­rad­ren­nen ins Leben zu rufen, das durch ganz Frank­reich füh­ren soll­te, war allein ange­sichts des Man­gels an rad­fahr­taug­li­chen Stra­ßen ein biss­chen meschug­ge. Die Fah­rer muss­ten Etap­pen absol­vie­ren, die 300, ja 400 Kilo­me­ter über schlecht gepflas­ter­te Stra­ßen und Schot­ter­we­ge führ­ten und bis in die Näch­te dau­er­ten, seit 1905 sogar im Gebir­ge. Ob Des­gran­ge tat­säch­lich sadis­ti­sche Gefüh­le heg­te, ist nicht über­lie­fert, aber sicher­lich hat kaum ein Mensch jemals mehr für den Maso­chis­mus getan als er.

Mit der Tour de France begrün­de­te der ehe­ma­li­ge Ama­teur­rad­sport­ler nicht nur das viel­leicht bekann­tes­te glo­ba­le Sport­er­eig­nis nach den Olym­pi­schen Spie­len – er schuf vor allem das größ­te Lei­dens­fes­ti­val, das die Welt des moder­nen Ath­le­ten­tums zu bie­ten hat. Neben den Stra­pa­zen der Tour ist die Teil­nah­me an einer Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft kaum mehr als ein Betriebsausflug.

Eine Berg­an­kunft der Pro­fis ist das Äußers­te, was die Sport­welt zu bie­ten hat. „Nach einer Berg­etap­pe sind die Fah­rer am Ziel der­ma­ßen erschöpft, dass sie im medi­zi­ni­schen Sin­ne krank sind“, kon­sta­tier­te der Festi­na-Mann­schafts­arzt Eric Ryck­aert 1998. Wer es schafft, bis Paris zum Pelo­ton zu gehö­ren, trägt fort­an ein Über­men­schen-Zer­ti­fi­kat – wel­ches zugleich ein Zeug­nis sei­ner bizar­ren Fähig­keit ist, sich sel­ber über Stun­den, Tage und Wochen Schmer­zen zuzufügen.

„Wäh­rend der Tour de France war ich schon froh, wenn ich abends noch atmen konn­te“, erklär­te der Nie­der­län­der Ger­ben Kars­tens, Olym­pia­sie­ger von 1964 und elf­fa­cher Tour-Teil­neh­mer. „Wenn man das alles mit einem Hund machen wür­de“, echo­te sein Schwei­zer Kol­le­ge Rolf Jär­mann, „wür­de der Tier­schutz­ver­ein ein­grei­fen.“ Als der Sie­ger des Jah­res 1905, Lou­is Trous­se­lier, den Tour-Patron Des­gran­ge wäh­rend eines schwe­ren Anstiegs beschimpf­te, rief der ihm aus sei­nem Begleit­wa­gen zu: „Lei­den, Trous­se­lier, ist die voll­stän­di­ge Ent­fal­tung der Wil­lens­kraft. Bewei­sen Sie, dass Sie ein Mann sind!“ Nicht der Bes­te oder Talen­tier­tes­te gewinnt die Tour de France, son­dern immer der Här­tes­te. Der­je­ni­ge, der am Ende vorn allein übrigbleibt.

Die Eli­te der Maso­chis­ten auf Rädern trifft sich am 5. Juli zur 101. Auf­la­ge des „Wett­be­werbs im sinn­lo­sen Lei­den“ (Lan­ce Arm­strong), um den dies­jäh­ri­gen Här­tes­ten aus ihrer Mit­te her­aus­zu­de­stil­lie­ren. Für die Fran­zo­sen ist die Tour ein Natio­nal­sym­bol und hei­li­ges Sport­fest, ver­an­stal­tet im schöns­ten Sta­di­on der Welt.

Vom Erfolg sei­ner Idee war Des­gran­ge sel­ber über­rascht – der Name sei­ner Zei­tung ver­riet ja, in wel­chem Renn­sport er eigent­lich die Zukunft sah. Für den Start der Pre­mie­ren-Tour hat­ten sich nur ein paar hun­dert Zuschau­er inter­es­siert, doch wäh­rend des Ren­nens stieg die Auf­la­ge von „L’Au­to“ von 20 000 auf 65 000 Exem­pla­re, und in Paris erwar­te­ten schließ­lich Zehn­tau­sen­de die Fah­rer. Zwan­zig Jah­re spä­ter ver­kauf­te „L’Au­to“ täg­lich eine hal­be Mil­li­on Exemplare.

Bei den frü­hen Rund­fahr­ten agier­ten die Fah­rer noch als Ein­zel­kämp­fer, die sich, die Ersatz­schläu­che wie Patro­nen­gur­te um den Ober­kör­per gehängt, in den Gue­ril­la-Kampf mit der Natur und den Ele­men­ten stürz­ten. 1910 stan­den erst­mals die Pyre­nä­en auf dem Pro­gramm, ein Jahr dar­auf führ­te die Stre­cke in die Alpen und über den 2645 Meter hohen Gali­bi­er. Legen­där gewor­den ist der Wut­aus­bruch des Fah­rers Octa­ve Lapi­ze, der 1910 am Col d’Au­bis­que der Renn­lei­tung ein „Ihr seid alle Mör­der!“ ent­ge­gen­ge­schleu­dert hat­te (tat­säch­lich hat er wohl nur „Ver­bre­cher“ gerufen).

Die Fah­rer der Anfangs­jah­re waren in der Regel Hand­wer­ker, Tage­löh­ner und Bau­ern, die sich ein paar Francs dazu­ver­die­nen woll­ten. Der Rad­sport ver­kör­per­te damals für die Jugend Euro­pas unge­fähr das­sel­be wie das Boxen für die ame­ri­ka­ni­sche Unter­schicht. Von einem Begleit­tross aus Medi­zi­nern, Tech­ni­kern, Köchen und Mas­seu­ren träum­ten die­se Fah­rer nicht einmal.

Dafür waren die Stra­ßen schlech­ter, die Räder schwe­rer, und sie besa­ßen kei­ne Gang­schal­tung (die wur­de 1937 zuge­las­sen). Die täg­li­chen Distan­zen waren teil­wei­se dop­pelt so lang wie heu­te. Die Tour 1921 etwa hat­te zwar nur 15 Etap­pen, aber eine Gesamt­stre­cke von 5485 Kilo­me­tern – die 100. Tour 2013 führ­te über 3479 Kilo­me­ter und 21 Etappen.

Defek­te an ihren Rädern muss­ten die Fah­rer anfangs ohne frem­de Hil­fe behe­ben. Eine Zeit lang galt die Regel, dass sie sämt­li­che unbrauch­ba­ren Tei­le, die sie wäh­rend einer Etap­pe aus­tausch­ten, zur Begut­ach­tung mit ins Ziel zu brin­gen hat­ten. Der Sie­ger von 1921, Léon Scieur, trug des­halb sein ver­bo­ge­nes Hin­ter­rad 300 Kilo­me­ter auf dem Rücken; die Stel­len, wo sich der Zahn­kranz in sein Fleisch ein­ge­gra­ben hat­te, erkann­te man bis zu sei­nem Tod.

Damals ent­stand der Mythos von den „Gigan­ten der Land­stra­ße“, die täg­lich Hel­den­ta­ten ver­rich­te­ten. Zei­tun­gen ver­gli­chen Gino Bar­ta­li und Faus­to Cop­pi, die domi­nie­ren­den Fah­rer der 1940er- und 50er-Jah­re, mit Achil­les und Hek­tor. „Die Tour besitzt eine wah­re home­ri­sche Geo­gra­fie. Wie in der Odys­see ist die Fahrt hier Rund­fahrt von einer Prü­fung zur nächs­ten“, schrieb der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Roland Bar­thes 1957 in sei­nem Essay „Die Tour de France als Epos“. Die Ein­füh­rung der TV-Live­über­tra­gung und spä­ter des Blut­do­ping­mit­tels Epo hat die Rund­fahrt dann etwas profaniert.

Gleich­wohl „exis­tiert kei­ne ande­re Sport­ver­an­stal­tung, bei der die Geschich­te so aktiv am Leben erhal­ten wird wie bei der Tour“, notiert der nie­der­län­di­sche Sozio­lo­ge Ben­jo Maso in sei­ner gran­dio­sen Rad­sport­his­to­rie „Der Schweiß der Göt­ter“. Die Tour ver­kör­pert ein ana­chro­nis­ti­sches Zugleich von Feu­da­lis­mus und moder­ner Kon­kur­renz­ge­sell­schaft. Es gibt eine Hand voll Sieg­fah­rer und eine Schar jeder­zeit opfer­ba­rer Domes­ti­ken. Ein Becken­bau­er konn­te auf einen Schwar­zen­beck zäh­len, aber nicht dar­auf, dass der für ihn „starb“. Von den Schwar­zen­becks des Rad­sports kennt man nicht ein­mal die Namen.

Über­all in Frank­reich ste­hen Denk­mä­ler, die eins­ti­gen Tour-Hero­en gewid­met sind, vie­le Stra­ßen sind nach Fah­rern benannt. Die Majes­tä­ten des Sat­tels sind im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis prä­sent: Cop­pi, Bar­ta­li, Anque­til, Merckx, Hin­ault, Indu­rain und, ja natür­lich, Armstrong.

Betro­gen wur­de bei der Tour übri­gens von Anfang an. Man­che Pedaleu­re lie­ßen sich in unbe­ob­ach­te­ten Momen­ten von Autos zie­hen oder nah­men Abkür­zun­gen, die sie zuvor gene­ral­stabs­mä­ßig geplant und in Kar­ten ein­ge­tra­gen hat­ten. Ande­re stie­gen sogar zwi­schen­zeit­lich auf die Eisen­bahn um.

Zur Stan­dard­aus­rüs­tung der Tour-Pio­nie­re gehör­ten Trink­fla­schen, Werk­zeug, Ersatz­schläu­che sowie – ein veri­ta­bler Grund dafür, Letz­te­re in aus­rei­chen­der Zahl mit­zu­füh­ren – Säck­chen mit Nägeln. Die­se Nägel hat­ten einen ver­stärk­ten run­den Kopf, sodass die Spit­ze nach Art der Steh­auf­männ­chen immer nach oben wies. Damit lie­ßen sich Ver­fol­ger wir­kungs­voll auf Distanz hal­ten, vor­aus­ge­setzt, man war ihnen weit genug ent­eilt. Als die Renn­lei­tung des­we­gen Gepäck­kon­trol­len durch­führ­te, ver­steck­ten die Pedaleu­re ihre Eisen­saat im Len­ker oder in der Trinkflasche.

Zuwei­len nah­men auch die Zuschau­er einen wett­be­werbs­ver­zer­ren­den Ein­fluss auf das Renn­ge­sche­hen. 1904 atta­ckier­ten in der Nähe von Saint-Eti­en­ne Anhän­ger des loka­len Favo­ri­ten die Fah­rer der Spit­zen­grup­pe mit Knüp­peln, bis Renn­di­rek­tor Géo Lefè­v­re sie mit Pis­to­len­schüs­sen ver­trieb. 1911 nahm der in der Gesamt­wer­tung über­ra­schend füh­ren­de Paul Duboc in den Pyre­nä­en von einem Zuschau­er eine Fla­sche an, fiel nach weni­gen Schlu­cken vom Rad und erbrach eine schwar­ze Flüs­sig­keit. Erst nach Stun­den konn­te er die Fahrt fort­set­zen. Dubocs Anhän­ger mach­ten den spä­te­ren Sie­ger Gust­ave Gar­ri­gou ver­ant­wort­lich, der die fol­gen­den Etap­pen „getarnt“ mit Son­nen­bril­le und fal­schem Tri­kot fuhr. Duboc wur­de Zweiter.

Auch leis­tungs­stei­gern­de Mit­tel waren bei den Fah­rern von Anbe­ginn in Gebrauch. Mit Kof­fe­in­prä­pa­ra­ten hiel­ten sie sich bei den 400-Kilo­me­ter-Etap­pen wach. Von Faus­to Cop­pi stammt das Bon­mot, er neh­me Amphet­ami­ne, aber nur, wenn es unbe­dingt nötig sei, also immer. Jac­ques Anque­til erklär­te, nur Lüg­ner und Trot­tel behaup­te­ten, man kön­ne ohne Doping fah­ren. Rudi Altig trug den Spitz­na­men „die rol­len­de Apo­the­ke“. Bis in die 1960er-Jah­re betäub­ten die Fah­rer ihre Schmer­zen wäh­rend der Ren­nen zudem mit Cognac, Wein und Cham­pa­gner. Wären die Pro­fis in jener Zeit so vie­le Ren­nen gefah­ren wie ihre heu­ti­gen Kol­le­gen, notiert Rad­sport­his­to­ri­ker Maso, „hät­te die Leber­zir­rho­se im Pelo­ton wah­re Ver­wüs­tun­gen ange­rich­tet“. Spä­ter setz­te sich die Ein­sicht durch, dass man nüch­tern doch schnel­ler vorankam.

Über alle Jah­re kon­stant blie­ben die Qua­len der Teil­neh­mer. Wie Pas­cal Simon, der sich 1983 als Gesamt­füh­ren­der bei einem Sturz das lin­ke Schul­ter­blatt brach und, ban­da­giert wie eine Mumie, noch eine Woche das gel­be Tri­kot ver­tei­dig­te, bis er die Schmer­zen nicht mehr aus­hielt. Wie Jean Robic, der 1959 mit einem gebro­che­nen Mit­tel­hand­kno­chen fuhr und drei Tage vor Schluss auf­ge­ben muss­te. Wie Tyler Hamil­ton, der 2003 mit einem ver­letz­ten Schlüs­sel­bein Vier­ter wur­de. Oder John­ny Hoo­ger­land, den 2011 ein Begleit­fahr­zeug in einen Sta­chel­draht­zaun drück­te und der sich mit auf­ge­fetz­ter Wade ins Ziel quäl­te. Die Wun­de wur­de mit 33 Sti­chen geflickt, er fuhr die Tour zu Ende und erober­te sogar für einen Tag das Bergtrikot.

Die Frank­reich­rund­fahrt ist reich an Anek­do­ten. Eine der sin­nigs­ten lie­fer­te der Ita­lie­ner Pierre Brambil­la, der 1947 auf der letz­ten Etap­pe das gel­be Tri­kot ver­lor. Danach fuhr er sofort heim, schlug sein Fahr­rad in Stü­cke und begrub es in sei­nem Garten.

Ursprüng­lich erschie­nen zum 100. Jubi­lä­um der Tour in: Focus 26/2013

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