21. Mai 2023

Die Sonn­ta­ge (zur Abwechs­lung wie­der ein­mal) den Künsten!

Wenn ich vor Publi­kum aus mei­nem Roman „Land der Wun­der“ lese, gehört eine Pas­sa­ge zu den siche­ren Lachern, in der es um Käse geht, genau­er: um die in vie­len fran­zö­si­schen Loka­len herr­schen­de Gepflo­gen­heit, für jene Gäs­te, die zum Nach­tisch Käse bestel­len, eine gemein­sa­me Plat­te her­um­ge­hen zu las­sen. Die Haupt­per­son des Buches, Johan­nes Schön­bach mit Namen, ist ein soeben wie­der­ver­ei­nig­ter Ost­deut­scher, der von sei­nem Chef in ein teu­res fran­zö­si­sches Lokal ein­ge­la­den wird und von die­sem Brauch nichts weiß. Dann pas­siert Folgendes:

„Der Kell­ner brach­te eine zur Hälf­te auf­klapp­ba­re Käse­glo­cke und einen Tel­ler. Schön­bach war bestürzt über die Men­ge, außer­dem hat­te von der Plat­te schon jemand geges­sen (von wegen vor­neh­mes Lokal!). Aber da sein Gast­ge­ber, der sei­ne Crè­me brûlée bekom­men hat­te, dar­an nichts Anstö­ßi­ges zu fin­den schien, frag­te er nicht nach und stell­te sich der Her­aus­for­de­rung. Schnell war sein ver­blie­be­ner Appe­tit gestillt, nur aus Pflicht­ge­fühl und um den net­ten Maît­re nicht zu krän­ken, schob er wei­ter ein, was eben ging und noch ein paar Bis­sen dar­über hin­aus, bis ihm all­mäh­lich übel wur­de. Er ver­speis­te etwa ein Pfund Käse, doch es war ein­fach zu viel. Jetzt wer­den sie sau­er sein, dass sie so viel weg­schmei­ßen müs­sen, dach­te er. Aber wie konn­te man auch einen sol­chen Mont­blanc als Nach­tisch servieren?

Der Kell­ner blick­te eher erstaunt als erbost auf das Schlacht­feld, das Schön­bach hin­ter­las­sen hat­te, und trug die Plat­te kopf­schüt­telnd zu der zuneh­mend betrun­ke­ner wer­den­den Her­ren­run­de am Nach­bar­tisch. Nun ver­stand Schön­bach über­haupt nichts mehr. Wie­so brach­te man sei­ne Essens­res­te an einen ande­ren Tisch? War das so Sit­te in Frank­reich? Hat­ten sie die­sen Brauch von ihrem Alge­ri­en-Aben­teu­er mitgebracht?”

Das Komi­sche an der Sache besteht dar­in, dass mir das genau so selbst pas­siert ist, anno 1990 in Stras­bourg; ich weiß nicht mehr, in wel­chem Lokal es geschah, und eben­so­we­nig, mit wel­chen Sor­ten ich mich damals stopf­te, der Zwang, unter den ich mich fälsch­li­cher­wei­se gesetzt sah, und das nach­träg­li­che Pein­lich­keits­ge­fühl haben die Erin­ne­rung an die Ein­zel­hei­ten voll­ends über­la­gert. Zurück blieb damals ledig­lich noch der nun auch den Käse ein­schlie­ßen­de Ein­druck einer ver­blüf­fen­den Viel­falt, gera­de für einen lang­jäh­ri­gen Bewoh­ner einer kuli­na­ri­schen Öde namens DDR.

Unse­re links­rhei­ni­schen Nach­barn rüh­men sich, weit mehr ver­schie­de­ne Käse­sor­ten her­vor­ge­bracht zu haben, als das Jahr Tage hat. Was das Rüh­men betrifft, haben sie sicher recht. Ich will weder den bra­ven Schwei­zern noch den acht­ba­ren Ita­lie­nern ihren Rang strei­tig machen, aber in der Welt der Käse herrscht Frank­reich. Gewiss, der Grey­er­zer oder Le Gruyè­re ist ein famo­ser Käse wie auch der Appen­zel­ler, der Par­mi­gi­a­no, der Taleg­gio und die Moz­za­rel­la (ich mei­ne nicht die aus dem deut­schen Kühl­re­gal, frisch in Napo­li müs­sen Sie sie kau­fen, wenn Sie wis­sen wol­len, wie eine Moz­za­rel­la wirk­lich schmeckt), doch die Tem­pel, in wel­chen der geron­ne­nen Essenz der Milch, jenem Lab­sal aus Lab gehul­digt wer­den soll­te, sind die fran­zö­si­schen Käseläden.

Zunächst ein­mal emp­fängt eine sol­che From­age­rie den Besu­cher mit einem unglaub­li­chen Geruchs­spek­trum. Sodann eröff­net sich ihm eine appe­tit­li­che, zum sofor­ti­gen Ver­na­schen ein­la­den­de Fül­le der For­men, Far­ben und Kon­sis­ten­zen, wie kein Bor­dell sie offe­rie­ren könn­te: die aus­la­den­den Rund­lai­ber der Hart­kä­se, Rin­den in allen Ocker‑, Aschen- und Erd­tö­nen, wei­ßer, blau­er und rot­schmie­ri­ger Edel­schim­mel, die gestärk­ten, schon etwas ram­po­nier­ten Hemd­brüs­te der Bries und Camem­berts, die klin­ker­far­be­nen Qua­der des Maroil­les, die Pyra­mi­den­stümpf­chen des Pouli­gny-Saint-Pierre, die von Blau­schim­mel durch­zo­ge­nen Zylin­der des Cha­ro­lais, die mor­chel­ar­ti­ge Haut des Chab­ichou du Poi­tou, der appe­tit­lich ver­schrum­pel­te Saint-Mar­cel­lin, die schwärz­li­che Mumie des Sain­te-Mau­re, der mar­mor­ne Saint-Nec­tai­re, die von Kra­tern durch­zo­ge­ne Mars­ober­flä­che des Mimo­let­te – ich hal­te hier erschöpft und trop­fen­den Zah­nes inne.

Einer mei­ner Favo­ri­ten ist der Épois­ses, ein wun­der­voll übel­rie­chen­der fran­zö­si­scher Weich­kä­se aus Kuh­milch. Er muss im Ver­lauf des Rei­fe­pro­zes­ses regel­mä­ßig mit einer Salz­la­ke gewa­schen wer­den, wel­cher mit zuneh­men­der Rei­fe immer mehr Marc de Bour­go­gne, ein Tres­ter­brand, zuge­setzt wird. Auf die­se Wei­se ent­steht die cre­mig-schmie­ri­ge Rot­kul­tur­rin­de, wäh­rend zugleich ein uner­wünsch­ter Schim­mel­be­fall ver­hin­dert wird. Die­se dicke, all­mäh­lich vom gesam­ten Käse Besitz ergrei­fen­de und ihn ins Lau­fen brin­gen­de Rot­schmie­re bekommt man schwer vom Mes­ser los, auch von den Zäh­nen – und allen­falls durch eine bös­ar­ti­ge Amne­sie ver­liert man sie jemals wie­der aus sei­ner Geschmacks­er­in­ne­rung. Es waren fran­zö­si­sche Zis­ter­zi­en­ser­mön­che, die im frü­hen 16. Jahr­hun­dert den Épois­ses erfan­den, und ich geden­ke ihrer in tie­fer Dank­bar­keit. Über­haupt soll­ten wir den Alt­vor­dern gegen­über viel dank­ba­rer sein wegen der zahl­rei­chen Köst­lich­kei­ten der Tafel, die sie in die Welt brach­ten und über Gene­ra­tio­nen ver­fei­ner­ten. Wie lan­ge mag es zum Bei­spiel gedau­ert haben, bis Men­schen gelernt hat­ten, dass man einen Tin­ten­fisch aus­gie­big gegen einen Stein schla­gen muss, damit er weich wird, bevor man ihn auf den Grill legt? Aber einen Käse mit Tres­ter­brand waschen, damit Rot­schmie­re ent­steht – dar­auf muss ja erst ein­mal jemand kommen!

Der Gas­tro­soph Jean Ant­hel­me Bril­lat-Sava­rin, nach dem übri­gens ein sehr wohl­schme­cken­der fromage benannt wur­de, nann­te den Épois­ses den „König der Käse”. Auch Napo­le­on soll den schmie­ri­gen Stin­ker geliebt haben. Man kann ja schwer­lich über Käse spre­chen, ohne den Geruch zu the­ma­ti­sie­ren. Oder sagen wir ruhig: Gestank. Es sind ani­ma­li­sche Aro­men, die ein guter Käse ver­strömt, Gerü­che vul­gärs­ter und ordi­närs­ter Art, die aus den ver­schie­dens­ten mensch­li­chen Kör­per­öff­nun­gen stam­men könn­ten, teils frisch, teils abge­stan­den, und des­to hin­rei­ßen­der, je übler.

Napo­le­on, der Épois­ses-Lieb­ha­ber, ließ sei­ner José­phi­ne über einen Boten aus dem Fel­de einen Brief zukom­men, in dem geschrie­ben stand: „Nicht waschen – kom­me in drei Tagen.“ Ande­re sagen, es sei nicht Napo­le­on, son­dern Napo­le­on III. gewe­sen, der an sei­ne Gelieb­te schrieb, sie möge sich bit­te nicht waschen – viel­leicht über­nahm der Drit­te ja auch den Brauch vom Ers­ten –, und es habe sich nicht um Tage, son­dern um Wochen gehan­delt. Sei’s drum, bei­des ist so stim­mig wie der Bach’sche Kon­tra­punkt. Und wenn ich schon beim punc­tum con­tra punc­tum bin: Für einen Épois­ses ist ein Gewürz­tra­mi­ner wie geschaf­fen, und ich den­ke nicht unbe­dingt an einen trockenen.

Es gibt übri­gens für den Begriff Käse kein Syn­onym – außer: Unsinn. Für einen sol­chen – also für gro­ßen Käse – hal­te ich es, wenn Leu­te vom Hart­kä­se oder, wie ich neu­lich sah, vom Taleg­gio die Rin­de abschnei­den, bevor sie ihn ver­zeh­ren. Dabei ist die Rin­de oft das Bes­te! Sie ist ja ein Teil des Laibs! Ich mei­ne selbst­ver­ständ­lich nur die Natur­rin­den, nicht irgend­wel­che künst­li­chen Schutz­hül­len. Jeder mag tun, was er will, ich für mei­nen Teil esse die Rin­de mit, auch die dicke­ren wie etwa beim Tom­me de Savoie oder beim Can­tal. Oder beim Peco­ri­no. Und die Rin­de des Par­mi­gi­a­no kommt in die Minestrone.

Von Jor­ge Luis Bor­ges stammt die rei­zen­de Idee, das Para­dies sei eine Biblio­thek. Ich wäre ein­ver­stan­den, sofern die­ses Para­dies einen Wein­kel­ler und eine From­age­rie einschlösse.

 

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