Chopin: Nocturnes

 

Die Noc­turnes von Cho­pin gehö­ren zu den bezau­bernds­ten Schöp­fun­gen der Kla­vier­li­te­ra­tur. Es sind inti­me Minia­tu­ren, nicht ganz von die­ser Welt, mond­be­schie­nen, ver­träumt, medi­ta­tiv, zuwei­len trau­rig, nie trost­los, vol­ler Fines­sen und auch von uner­gründ­li­cher Tief­sin­nig­keit – in die­sen Stü­cken steckt soviel Meta­phy­sik wie in einer Mahler- oder Bruck­ner-Sym­pho­nie. Sie gehö­ren so wenig ans Tages­licht wie ein Smo­king. Für den Kon­zert­saal sind sie im Grun­de unge­eig­net; man stellt sie sich eher gespielt vor wie auf dem berühm­ten Gemäl­de von Josef Dan­hau­ser: mit Liszt am Flü­gel, der Grä­fin d’Agoult zu sei­nen Füßen und Geor­ge Sand, Dumas, Hugo, Ros­si­ni und Paga­ni­ni als Publi­kum. Da die­se Zuhö­rer-Pos­ten vakant sind, höre man die Noc­turnes allein zu vor­ge­rück­ter Stun­de zum Whis­ky oder Rotwein.

Bis­wei­len wur­de Miss­brauch mit ein­zel­nen Stü­cke getrie­ben, etwa das in Es-Dur (op. 9, Nr. 2) als Vor­spann­mu­sik zu Hans-Joa­chim Kulen­kampffs „Nacht­ge­dan­ken“ (nichts gegen den Gevat­ter übri­gens), doch die­se über­wäl­ti­gen­de Melo­die hat sich als immun gegen Abnut­zung erwie­sen. Mei­ne Lieb­lings­stü­cke sind das schwer­mü­tig-lei­den­schaft­li­che cis-Moll-Noc­turne (op. 27 Nr. 1), das ihm fol­gen­de in Des-Dur (op. 27, Nr. 2), eine wie bei­läu­fig dahin­ge­sag­te Ele­men­tar­wahr­heit, sowie das zutiefst melan­cho­li­sche in f‑Moll (op. 55, Nr. 1) – es wird all­ge­mein nicht sehr hoch gehan­delt, aber mir ist, als hät­te es der Teu­fel an mei­ner Wie­ge gesun­gen, mir mei­ne Daseins­ge­stimmt­heit vor­zu­ge­ben. Und natür­lich das gran­dio­se c‑Moll-Noc­turne, ein bal­la­des­kes Werk, das in sto­cken­den Syn­ko­pen anhebt, sich über häm­mern­den Okta­ven pathe­tisch auf­rich­tet und zum Hym­nus wan­delt, wobei der Schluss an die Coda der g‑Moll-Bal­la­de erinnert.

In punc­to Inter­pret muss­te ich mich ent­schei­den. Bei Arrau sind die Stü­cke vol­ler Dra­ma­tik und nicht mehr ganz das, was ich mir unter Noc­turnes vor­stel­le. Das zart hin­ge­tupf­te, im Dun­keln leuch­ten­de, schön­heits­kun­di­ge, frei­lich weni­ger dop­pel­bö­di­ge, gru­sel­freie Spiel Baren­bo­ims behagt mit der­zeit mehr. Rubin­stein wäre die Alter­na­ti­ve gewe­sen, aber wegen sei­ner Anschlags­sub­ti­li­tä­en bekommt Baren­bo­im heu­te die Pal­me.
 

Cho­pin: Noc­turnes, Dani­el Baren­bo­im (Deut­sche Grammophon)

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Juli 2013 

Vorheriger Beitrag

Vom Integrationszwang zur Willkommenskultur

Nächster Beitrag

Ein deutscher Linker

Ebenfalls lesenswert

Giacomo Puccini: Il Trittico

  Puc­ci­nis „Il Trit­ti­co“ ist ein in der Opern­ge­schich­te sin­gu­lä­res, gleich­wohl recht unbe­kann­tes Werk, bestehend aus drei unzu­sam­men­hän­gen­den…

Chopin: Scherzi

Die vier Scher­zi zäh­len zu den ein­drucks­volls­ten und ver­we­gens­ten Schöp­fun­gen Cho­pins. Der gött­li­che Pole hat die­ses Gen­re zwar…