Giuseppe Verdi hat bei der Wahl seiner Opernstoffe gelegentlich sehr weit nach oben gegriffen und dreimal Shakespeare, dreimal Schiller in Töne gesetzt. Auf der Opernbühne verlieren die adaptierten Werke viel von ihrem geistigen Gehalt, doch insbesondere im „Othello“ (bei Verdi: „Otello“) ist die dramatische Wucht der Vorlage erhalten geblieben. Sein Otello stellt „einen Höhe- und Endpunkt in der Entwicklung des dramatischen Tenors“ (Jens Malte Fischer) dar, zumindest im italienischen Fach. Jeder bedeutende Tenor hat sich an an dieser Partie versucht, und zwei der ganz Großen, Carlo Bergonzi und Luciano Pavarotti, sind an ihr gescheitert. Im Grunde braucht es für den venezianischen Mohren beinahe einen Wagner-Tenor, und der von mir empfohlene Interpret hat in seiner kurzen Karriere auch als Tristan geglänzt.
Die Handlung des Stückes darf als bekannt vorausgesetzt werden. Wenn heutige Regisseure Otello nicht mehr als Schwarzen darstellen, verkennen sie den Kern der rasenden, von Jago brandbeschleunigten Eifersucht des Flottenkommandanten, nämlich seine Fremdheit in einer weißen Umgebung. Siegreich, aber heimatlos, stark, aber ohne Fundamente, in Liebe entflammt, aber voller Misstrauen: Verdi hat das extrem Ambivalente dieser Gestalt eindrucksvoll in Töne gesetzt. Jago ist daneben ein Allerwelts-Bühnenschurke (mit einer überflüssigen Bekenner-Arie), Desdemona eine rührende, aber schlichte Figur.
Sowohl gesanglich als auch darstellerisch fällt die Titelpartie unter Extremsport. Mit der „Esultate!“-Siegesverkündigung hat der Interpret sofort mit vollster Stimme präsent zu sein, im Duett „Gia nella notte densa“ muss er im Pianissimo „morendo“ (ersterbend) seine Liebe gestehen, später dann, wenn er Desdemona für treulos hält, „soffocato“ (erstickt) singen, er hat drei markerschütternde „Sangue!“ (Blut!)- Racheschreie auszustoßen, im „Dio mi potevi“-Monolog die Weltverlorenheit Hamlets zu verfünffachen, er muss ironisch sein, drängend, verzweifelt, entfesselt – –
Gemeinhin gilt der Otello als die Paraderolle von Mario del Monaco, aber gegen diesen jeder Subtilität abholden bronzestimmigen Brüller hegte ich immer einen Soupcon. Für mich hat Ramon Vinay am überzeugendsten das Wilde, Gebrochene, Lauernde, Besessene, immer latent Gefährliche der Figur gesungen und gespielt, und mancher Desdemona mag es vor der Schlussszene sanft gegraust haben. Es gibt drei Einspielungen mit ihm, bei einer steht Gottvater selber am Pult, in seiner, wenn ich’s recht überschaue, einzigen Aufnahme einer italienischen Oper. Was diese ja noch zusätzlich nobilitiert.
Verdi: Otello; Dragica Martinis, Ramon Vinay, Paul Schöffler, Anton Dermota u.a.; Chor der Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker; Wilhelm Furtwängler (Orfeo)
Erschienen in: eigentümlich frei Januar 2016