„Positive schwarze Lebensläufe interessieren wohl nicht”

„Lie­ber Herr Klo­novs­ky, Sie schrie­ben vor kur­zem, dass wir die ame­ri­ka­ni­schen Ras­sis­mus-Sün­den über­neh­men, als wären es unse­re eige­nen. Selbst­ver­ständ­lich hat es auch bei uns Euro­pä­ern im 19. Jahr­hun­dert und davor Ras­sis­mus gege­ben – aller­dings auch erstaun­li­che Bei­spie­le von Tole­ranz und Offenheit.
Ich erin­ne­re an den Fall des schwar­zen spa­ni­schen Con­quis­ta­dors Juan Gar­ri­do (der ver­mut­lich als ers­ter den Wei­zen­an­bau in Ame­ri­ka ein­führ­te). Und Gar­ri­do war ja nur einer von vie­len frei­en Schwar­zen, die sich an der Erobe­rung Mexi­kos beteiligten.*
Schwar­ze Con­quis­ta­do­ren waren kei­ne sin­gu­lä­ren Fäl­le. Juan Lati­no (1518–1596) war schwarz – und Pro­fes­sor für latei­ni­sche Lite­ra­tur und Spra­che an der Uni­ver­si­tät Gra­na­da. Nach der spa­ni­schen Erobe­rung der Stadt. Anton Wil­helm Amo (1753–1784), gebür­ti­ger Gha­na­er, wur­de Pro­fes­sor an den Uni­ver­si­tä­ten Hal­le, Wit­ten­berg und Jena, bevor er als geach­te­ter Phi­lo­soph nach Gha­na zurück­kehr­te. Ange­lo Soli­man (um 1721 in Nige­ria – 1796 in Wien) kam zunächst als Skla­ve nach Öster­reich, wur­de dann dort als Kam­mer­die­ner und auch als Sol­dat ein­ge­setzt, und mach­te eine beacht­li­che Kar­rie­re. Vom Chef der Die­ner­schaft an einem Fürs­ten­hof und bevor­zug­tem Gesell­schaf­ter des Fürs­ten wur­de er unter Fürst Franz Josef von Liech­ten­stein 1773 zum Prin­zen­er­zie­her gemacht.
Soli­mans Lei­che wur­de zwar nach sei­nem Tod aus­ge­stopft – mit sei­nem vor­he­ri­gen Ein­ver­ständ­nis –, aber ähn­li­che uns heu­te scho­ckie­ren­de Prak­ti­ken wur­den auch an ande­ren, nicht-schwar­zen Men­schen voll­zo­gen (sie­he Domi­nik Gross, Die dienst­ba­re Lei­che, Kas­sel 2009; noch im letz­ten Jahr­hun­dert kon­ser­vier­te man ja z.B. Ein­steins Gehirn).
Und sogar im ras­sis­ti­schen Ame­ri­ka gab es Aus­nah­men von der Dis­kri­mi­nie­rung. Schon 1799 wur­de John Cha­vis, ein schwar­zer pres­by­te­ria­ni­scher Pries­ter und Leh­rer, an der Lee Uni­ver­si­ty of Vir­gi­nia ein­ge­schrie­ben. 1833 wur­de das Ober­lin Col­lege in Ohio gegrün­det, das von Anfang an auch für Schwar­ze und Frau­en offen war. 1849 erhielt Charles Reason (nomen est omen?) am New York Cen­tral Col­lege als ers­ter Schwar­zer in den USA eine Professur.
Als Sie, wahr­schein­lich als Pen­nä­ler, zum ers­ten Mal mit Shakespeare’s ‚Othel­lo’ in Kon­takt kamen, haben Sie sich wahr­schein­lich eben­so wie ich gewun­dert, dass Shake­speare da ein­fach einen schwar­zen Feld­herrn in euro­päi­schen Diens­ten beschreibt, ohne dass das irgend­wie als eine Aus­nah­me oder etwas abso­lut Befremd­li­ches dar­ge­stellt wird. Ein frei­er Schwar­zer zu die­ser Zeit in Euro­pa – und gar in einer Füh­rungs­rol­le? Allen Ernstes?
Die his­to­ri­sche For­schung hat die The­ma­tik lan­ge ver­nach­läs­sigt (was sich bis­lang in einer rela­ti­ven Quel­len­ar­mut zeig­te), aber es wer­den seit eini­gen Jah­ren mehr Stu­di­en ver­öf­fent­licht, die Auf­schluss geben über die ganz ver­schie­de­nen Lebens­läu­fe von Schwar­zen in Euro­pa. Her­vor­zu­he­ben wären da z.B. der Auf­satz von Joan­eth Spi­cer, „Free men and women of Afri­can ancestry in Renais­sance Euro­pe”, in: J. Spi­cer, Reve­al­ing the Afri­can Pre­sence in Renais­sance Euro­pe, Wal­ters Art Muse­um, Bal­ti­more 2012. Schon der Her­aus­ge­ber, das Wal­ters Art Muse­um (Spi­cer ist dort Kura­to­rin), gewähr­leis­tet, dass das Werk  auch optisch hoch­in­ter­es­sant ist, denn es wird eine Fül­le von his­to­ri­schen Bil­dern von Schwar­zen gezeigt, von Malern wie Tin­to­ret­to, aber auch dem unbe­kann­ten flä­mi­schen oder deut­schen Meis­ter, der das im Wal­ters-Muse­um hän­gen­de ‚Por­trait of a Wealt­hy Afri­can’ mal­te (Buch, Sei­te 80, ist im Inter­net einsehbar).
Sehr lesens­wert (teil­wei­se auf Spi­cer Bezug neh­mend) ist auch der geschichts­wis­sen­schaft­li­che  ‚La Bel­la Donna’-Blog der Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin und Bio­lo­gin Gia­da Mag­da­le­na Alber­ti (einer schwar­zen Ita­lie­ne­rin), hier ins­be­son­de­re der Blog­ein­trag ‚Afri­can pre­sence in Renais­sance Euro­pe’ vom 7.11.2017. Zitat: ‚My rese­arch on Afri­cans in Euro­pe has led me to under­stand that asi­de from tho­se in slavery or ser­vi­tu­de the­re were examp­les of Afri­can gene­rals, saints**, car­di­nals, nobi­li­tiy, con­quis­ta­dors, condottieri/mercenaries, musi­ci­ans, cooks, pastry chefs, house­kee­pers, pages, assistants in apo­the­ca­ries, kit­chens, gar­dens, and sta­bles …  The­re is pic­to­ri­al evi­dence in pain­tings … that depicts Afri­cans going about their day on errands or even as ambassa­dors, saints, and wea­thy free men … With mixed-race mem­bers of the Por­tu­gue­se court and the Medi­ci court the rea­li­ty of Afri­can DNA flowing through the very cen­ter of Euro­pean High Renais­sance (see the line of des­cent from the Duke of Flo­rence, a man of Afri­can heri­ta­ge) is at least as inte­res­t­ing as the reac­tions this fact has provoked…’ –
Ein ande­res Buch, auf das die­ser Blog­ein­trag Bezug nimmt, ist Tho­mas Earles und Kate Lowes (eine Spe­zia­lis­tin für Schwarz­afri­ka­ner in Vene­dig***) inter­es­san­tes Werk ‚Black Afri­cans in Renais­sance Euro­pe’, Cam­bridge Univ. Pr. 2005.
Was aus die­sen Stu­di­en her­vor­geht, ist sicher­lich auch ein wei­te­rer Beleg für Ste­reo­ty­pi­sie­rung von Afri­ka­nern (wobei wir nicht ver­ges­sen soll­ten, dass alle Völ­ker ande­re, fremd­ar­ti­ge, ste­reo­ty­pi­sie­ren, auch Afri­ka­ner ste­reo­ty­pi­sie­ren Euro­pä­er), ande­rer­seits war aber in vie­len Fäl­len die Kar­rie­re­lei­ter für Schwar­ze nicht verschlossen.
Bei­spie­le von Juan Gar­ri­do bis zu Napo­le­ons Gene­ral Tho­mas Alex­and­re Dumas, und von Juan Lati­no bis Alex­and­re Dumas dem Älte­ren (Sohn des napo­leo­ni­schen Gene­rals) zei­gen dies so ein­drucks­voll, dass man sich über die Moti­ve wun­dern muss, die die­se Aspek­te afri­ka­ni­schen Lebens in Euro­pa igno­rie­ren. Posi­ti­ve schwar­ze Lebens­läu­fe inter­es­sie­ren wohl nicht.
Mit freund­li­chen Grüssen,
***
* sie­he: M. Restall, Black con­quis­ta­dors – armed Afri­cans in ear­ly Spa­nish Ame­ri­ca, in: ‚The Ame­ri­cas’, 2/2000.
R. Schwal­ler, Mula­ta, hija de negro y india, in: ‚Jour­nal of Social Histo­ry’, 3/2011.
** zum Bei­spiel Sankt Mau­ri­ti­us, die hei­li­ge Moni­ka, Pierre Tous­saint (der ers­te Mensch aus Ame­ri­ka, der hei­lig­ge­spro­chen wur­de), Sankt Mar­tin von Por­res und vie­le andere.
*** Schwarz­afri­ka­ner, die frü­her als Skla­ven nach Vene­dig kamen, wur­den nor­ma­ler­wei­se im Lauf ihres Lebens frei­ge­setzt; sehr vie­le wur­den Gon­do­lie­ri – eine Zunft, in die es immer schwer war, hineinzukommen.”
***
Pas­send dazu: Wie sich bin­nen fünf Jah­ren eine Defi­ni­ti­on ändert.
***

Leser *** möch­te fol­gen­des ergänzen:

„Poli­a­na Baum­gar­ten ist eine in Ber­lin leben­de deut­sche Fil­me­ma­che­rin und Video­jour­na­lis­tin (Ber­li­ner Far­ben, MOXN, pre­ta). Auf Face­book klagt sie: In Deutsch­land sind schwar­ze Men­schen vor allem im Nied­rig­lohn­sek­tor über­re­prä­sen­tiert. Das sei ein Bei­spiel für struk­tu­rel­len und insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus. Auf die Idee, dass nicht immer die Haut­far­be der Grund dafür ist, kommt sie nicht. Auch den auto­chtho­nen Wei­ßen, denen die deut­sche Spra­che in Wort und Schrift nicht geheu­er ist, die kei­ner­lei Qua­li­fi­ka­tio­nen vor­wei­sen kön­nen, bleibt der Auf­stieg in die Geschäfts­lei­tung ver­wehrt, und sie müs­sen eben­falls im Nied­rig­lohn­sek­tor schuf­ten. Wei­ter schreibt Frau Baum­gar­ten: Es zeigt, dass schwar­ze Frau­en ein­fach kei­ne Chan­ce haben, an Jobs zu kom­men, in denen sie irgend­ei­ne Art von Wür­de erfahren.

Eine kur­ze Recher­che im Inter­net belegt ein­drucks­voll das Gegenteil:
Prof. Dr. Mai­sha-Mau­re­en-Auma, Zen­trum für Trans­dis­zi­pli­nä­re Geschlech­ter­stu­di­en, Hum­boldt-Uni­ver­si­tät, Ber­lin // Ami­na­ta Bel­li, Fern­seh­mo­de­ra­to­rin und Repor­te­rin // Ami­na­ta Tou­ré, Poli­ti­ke­rin Bünd­nis 90/Die Grü­nen // Tupo­ka Oget­te, Trai­ne­rin, Bera­te­rin Ras­sis­mus // Ali­ce Has­ters, Jour­na­lis­tin, Buch­au­to­rin // Had­net Tes­fai, Hör­funk- und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin // Sara Nuru, Germany‘s Next Top­mo­del // Mo Asumang  Film­re­gis­seu­rin, Fern­seh­mo­de­ra­to­rin, Best­sel­ler-Autorin // Sal­wa Houm­si, Mode­ra­to­rin, Jour­na­lis­tin und DJa­ne // May Ayim †, Dich­te­rin, Päd­ago­gin und Akti­vis­tin der afro­deut­schen Bewe­gung // Aud­re Geral­di­ne Lor­de, †, Gast­pro­fes­sur am John‑F.-Kennedy-Institut FU Ber­lin, zwi­schen 1984 und 1992 // Katha­ri­na Ogun­toye, Schrift­stel­le­rin, His­to­ri­ke­rin // Ika Hügel-Mar­shall, Künst­le­rin und Akti­vis­tin // Dayan Kodua, Miss Schles­wig-Hol­stein, Schau­spie­le­rin // Noah Sow, Autorin, Musi­ke­rin // Gra­da Kilo­m­ba, Sti­pen­dia­tin der Hein­rich-Böll-Stif­tung, pro­mo­vier­te Gra­da Kilo­m­ba an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin // Flo­rence Kasum­ba, Schau­spie­le­rin, Musi­cal­dar­stel­le­rin, Syn­chron­spre­che­rin // Sharon Dodua Otoo, Publi­zis­tin und Akti­vis­tin, Inge­borg-Bach­mann-Preis // Mah­ret Ifeo­ma Kup­ka, Kunstwissenschaft/Medientheorie, Phi­lo­so­phie, Aus­stel­lungs­de­sign und VWL // Dr. Syl­vie Nant­cha, CDU–Stadträtin, Mit­glied Fach­kom­mis­si­on ‚Flucht­ur­sa­chen’ im Bun­des­ka­bi­nett // Pier­ret­te Gabri­el­le Herz­ber­ger-Fofa­na, Poli­ti­ke­rin und EU-Abge­ord­ne­te in der Frak­ti­on der Grü­nen // Than­di Sebe, Schau­spie­le­rin // Nai­ma Sebe, Schau­spie­le­rin // Anne Che­bu, Fern­seh­mo­de­ra­to­rin und Buch­au­to­rin // Tyfa­nie Nzi­la-Bal­ley, Bot­schaf­te­rin der Evan­ge­li­schen Kir­che // Mai­sha-Mau­re­en Auma, auch Mai­sha-Mau­re­en Eggers, Hoch­schul­leh­re­rin im Bereich Diver­si­ty Stu­dies // Lei­la Aki­nyi, Rap­pe­rin // Imeh Itu­en, Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin und Kli­ma­ak­ti­vis­tin, Ber­li­ner BIPoC-Kli­ma­kol­lek­tiv ‚Black Earth’ // Ami­na Ndao, Pod­cast ‚Sport­ge­flüs­ter’ // Ami­na­ta Bel­li, Fern­seh­mo­de­ra­to­rin und Repor­te­rin // Ali­ce Haru­ko Has­ters, Jour­na­lis­tin, Buch­au­to­rin und Pod­cas­te­rin // Bar­ba­ra Becker, Schau­spie­le­rin und Desi­gne­rin // Maria­ma Jaman­ka, Olym­pia­sie­ge­rin im Zwei­er­bob // Malai­ka Miham­bo, Gold­me­dail­le im Weit­sprung bei den Welt­meis­ter­schaf­ten 2019 in Doha // Eunice Beck­mann, Fuß­ball­spie­le­rin, 1. FC Köln // Dja­mi­la Böhm, Leicht­ath­le­tin, 400-Meter-Hür­den­lauf // Sarah-Lee Hein­rich, Bun­des­spre­che­rin der Grü­nen Jugend. Und vie­le mehr.
War­um unter­schlägt Frau Baum­gar­ten die­se deut­schen WOC? Weil die­se erfolg­rei­chen Frau­en sich nicht mehr zum Opfer und als Beweis für struk­tu­rel­len und insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus eignen?
In jedem Land der Welt fin­det man Ras­sis­mus, natür­lich auch in Deutsch­land, aber ein Ort des Schre­ckens ist die­ses Land den­noch nicht. Als Ein­wan­de­rungs­land belieb­ter als Kana­da, Aus­tra­li­en und die Schweiz und bei­na­he so beliebt wie die USA (Quel­le: SZ). Deutsch­land zeigt sich in Ber­lin und ande­ren Groß­städ­ten welt­of­fen und tole­rant, aber auch mal unbeug­sam hei­mat­treu in einem nie­der­bay­ri­schen Dorf. Das soll­te Frau Baum­gar­ten aus­hal­ten kön­nen. Ein erheb­li­cher Teil der Schwar­zen Com­mu­ni­ty ist hier gebo­ren. War­um fällt es ihnen so schwer, die­ses Land trotz sei­ner Unzu­läng­lich­kei­ten, Schwä­chen und Män­gel viel­leicht nicht zu lie­ben, aber wenigs­tens zu respek­tie­ren? Statt­des­sen wird im Schul­ter­schluss mit den ÖR, der Zeit, Süd­deut­schen, taz, Deutsch­land­funk, Mis­sy Maga­zin und Twitter&Co genör­gelt, geklagt, ange­mahnt, pro­tes­tiert, empört. Man könn­te glau­ben, der Ku-Klux-Klan hät­te in Sach­sen eine Depen­dance errich­tet. Sie for­dern Aner­ken­nung und Par­ti­zi­pa­ti­on und bekom­men sie auch. Nicht nur täg­lich in den TV-Spots der Wer­be­trei­ben­den, dort sind POC inzwi­schen über­re­prä­sen­tiert. An wohl jeder Uni gibt es eine sozio­lo­gi­sche Fakul­tät, die sich mit Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung aus­ein­an­der­setzt. Im Bun­des­netz­werk TANG haben sich 600 Ver­ei­ne und Ein­zel­per­so­nen zusam­men­ge­schlos­sen und enga­gie­ren sich für die Inter­es­sen von Men­schen mit schwar­zen Wurzeln.
Mei­ne Sym­pa­thie oder Anti­sym­pa­thie mache ich nicht an der Haut­far­be fest. Der sich aso­zi­al beneh­men­de wei­ße Arsch ist mir eben­so zuwi­der wie der schwar­ze. Man muss das aber sagen dür­fen, ohne dass die Ras­sis­mus-Poli­zei einschreitet.”
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