28. März 2022

The­men­tag Ukraine.

Ich habe mich in Wla­di­mir Putin getäuscht. Ich hielt ihn für einen Real­po­li­ti­ker. Ich hät­te nicht geglaubt, dass er in die Ukrai­ne ein­mar­schiert und einen gro­ßen Flä­chen­krieg beginnt; ich ver­mu­te­te, dass er allen­falls die bei­den „Repu­bli­ken” beset­zen, ähn­lich wie die Krim ein­kas­sie­ren und das Gan­ze via Volks­ab­stim­mung als Sezes­si­on ver­kau­fen wer­de. Staa­ten haben das Recht, Krie­ge zu füh­ren, aber die Grün­de, die Putin gelie­fert hat, recht­fer­ti­gen kei­nen Krieg, schon gar nicht Bom­ben auf Städ­te. Wahr­schein­lich hat er des­we­gen auch den rus­si­schen Medi­en ver­bo­ten, den Begriff война zu ver­wen­den. Dass er mus­li­mi­sche Söld­ner gegen ein sla­wi­sches Bru­der­volk ein­setzt, ent­kräf­tet zudem jedes sla­wo­phil-christ­lich-anti­li­be­ra­lis­ti­sche Argu­ment zu sei­nen Gunsten.

Putin selbst hat sich eben­falls getäuscht (oder „ver­po­kert”, wie Leser *** es nennt), näm­lich über die Qua­li­tät und die Moti­va­ti­on sei­ner – sowie umge­kehrt der ukrai­ni­schen – Streit­kräf­te. Der Nim­bus der rus­si­schen Armee ist inzwi­schen dahin, und damit auch der einer Groß­macht. Russ­land, das ist die Wirt­schafts­leis­tung Ita­li­ens mit Atom­waf­fen, ver­teilt auf der vier­fa­chen Flä­che der EU mit der Bevöl­ke­rungs­zahl unge­fähr Japans, geseg­net mit Roh­stof­fen, für die sich in Asi­en genug Abneh­mer fin­den wer­den. Die Ukrai­ne wird zwar schwer zer­stört, aber nach der­zei­ti­ger Lage wahr­schein­lich als ein Sie­ger aus dem Krieg her­vor­ge­hen, als eine neu­ge­bo­re­ne Nati­on, die nun­mehr über einen Grün­dungs­my­thos ver­fügt. Der rus­si­sche Füh­rer hat das genaue Gegen­teil von dem erreicht, was er woll­te. Dass sein ukrai­ni­scher Wider­part ein kor­rup­ter Clown ist (und sich in Deutsch­land von einem über­ge­schnapp­te For­de­run­gen stel­len­den Bot­schaf­ter ver­tre­ten lässt), min­dert nicht des­sen Schneid, „und das allein genügt uns” (Gun­nery Ser­geant Hart­man in „Full Metal Jacket”).

Im phä­no­ty­pi­schen Sin­ne bemer­kens­wert in die­sem Zusam­men­hang ist die Aus­kunft, die „Sei-kein-Chris­ti­an” Lind­ner dem besag­ten Bot­schaf­ter erteil­te, sofern des­sen Zeug­nis stimmt.

Gevat­ter Lind­ner ver­mag sich offen­bar nicht vor­zu­stel­len, dass ein Mann in sei­nem Amt bleibt, obwohl ihm Gefahr droht, womög­lich sogar der Tod; er dach­te wohl, Selen­s­kij wer­de sich unge­fähr wie Tho­mas Kem­me­rich verhalten.

Wer, pflegt Danisch zu fra­gen, wählt so was?

Euro­pa wird einen Groß­teil der Rech­nung bezah­len, vor allem durch die Auf­nah­me der Flücht­lin­ge, aber auch der Wie­der­auf­bau der Ukrai­ne wird mit EU-Geld finan­ziert wer­den, also mit euro­päi­schen Steu­ern. Die Ame­ri­ka­ner wer­den sowohl ihre Roh­stof­fe als auch ihre Waf­fen los, vor­nehm­lich an Deutsch­land, das in Sachen Ener­gie­ver­sor­gung, Infra­struk­tur, Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung (vor allem was die Bil­dung und Leis­tungs­fä­hig­keit sei­ner Bewoh­ner betrifft) und mili­tä­ri­scher Schlag­kraft von den regie­ren­den Dumm­köp­fen – oder, wer weiß, was ihre Zie­le waren, viel­leicht auch Genies – immer mehr demo­lier­te EU-Kern­land. Es läuft schlecht für Russ­land, schlecht für Deutsch­land, gut für die Amis, und wäre Putin nicht ein­deu­tig der Kriegs­ver­ant­wort­li­che, müss­te man glatt an die alte Sen­tenz erin­nen, dass der Sinn und Zweck der NATO dar­in besteht, die Rus­sen drau­ßen und die Deut­schen unten zu halten.

Die Meu­te der indi­ge­nen Öffent­lich­keits­ar­bei­ter hat es sich wie­der im Rek­tum des Hege­mons bequem gemacht und ent­sen­det von dort­her ihr Gekläff; ein scha­ler Genuss, denn die USA sind ja gar nicht mehr der Hege­mon. Ange­sichts des­sen, was Chi­na anzu­bie­ten hat, ist das eine mehr als ambi­va­len­te Nach­richt. Die Kom­mu­nis­ten haben ein tra­di­ti­ons- und kul­tur­lo­ses, von der Idee des Indi­vi­du­ums befrei­tes, für jede Art Kon­trol­le emp­fäng­li­ches Staats­volk hin­ter­las­sen (die Bol­sche­wo­ken im Wes­ten arbei­ten an einem ver­gleich­ba­ren Pro­jekt), das gleich­zei­tig über mehr gemes­se­ne Hoch­in­tel­li­genz ver­fügt, sofern man den TIMSS-Stu­di­en vetrau­en kann, als die rest­li­che Welt (die­se Sor­ge haben die Woken im Wes­ten nicht); Chi­nas Ein­fluss wird also wach­sen. Die Welt bleibt ein Plu­ri­ver­sum, auch das lehrt der Ukrai­ne-Krieg, die Regeln der Pax Ame­ri­ca­na sche­ren Län­der wie Chi­na und Indi­en nicht (mehr). Ein Bekann­ter ver­such­te übri­gens, mich aufs Glatt­eis der Par­tei­nah­me zu locken, indem er frag­te, wo ich lie­ber leben wol­le: in Ame­ri­ka, Russ­land oder China?

Ich ant­wor­te­te: im Kaiserreich.
(Hal­den­wang?)

Was aber gibt es Posi­ti­ves, Genos­se? Nun, die Ukrai­ne erteilt dem Wes­ten Unter­richt in den Haupt­fä­chern Lan­des­ver­tei­di­gung und Natio­nal­stolz. Ein Volk wehrt sich gegen eine frem­de Macht, die es unter­wer­fen will. Möge das Schu­le machen, bevor die west­li­chen Völ­ker jenem Pro­zess zum Opfer gefal­len sind, den man erst danach beim Namen nen­nen darf. Allen­falls. (Es sei denn, man begrüßt ihn euphorisch.)

„Die Begeis­te­rung west­li­cher Libe­ra­ler wie Fran­cis Fuku­ya­ma für die Ukrai­ne soll­te die hie­si­ge Rech­te nicht all­zu sehr irri­tie­ren oder Zuflucht suchen las­sen bei rus­si­scher, einer­seits auf Alt­kom­mu­nis­ten, ande­rer­seits aber auf rech­te Dis­si­den­ten, mit­hin auf eine veri­ta­ble Quer­front aus­ge­rich­te­ter Aus­lands­pro­pa­gan­da”, schreibt der blitz- oder sie­ben­ge­schei­te Artur Abra­mo­vych in der JF. „Auch wenn Selen­s­kij sich in sei­nen Reden vor west­li­chen Par­la­men­ten an die hie­si­ge Rhe­to­rik anpaßt, tötet und stirbt doch kein ein­zi­ger Ukrai­ner in die­sen Tagen für die ‚Demo­kra­tie’; und auch die beharr­li­che Wei­ge­rung der Ukrai­ner, sich von natio­na­lis­ti­schen Kämp­fern in den eige­nen Rei­hen zu distan­zie­ren, wie es eini­ge Links­li­be­ra­le im Wes­ten von ihnen bereits for­dern, zeugt deut­lich davon, daß die Ukrai­ner für ihr Land und nicht für den Uni­ver­sa­lis­mus kämpfen.”

Die Ukrai­ner ertei­len den Deut­schen außer­dem eine drin­gend gebo­te­ne Nach­hil­fe­stun­de in der Prü­fungs­fra­ge: Wie und wor­an erkennt man einen Flücht­ling?, an der bis­lang das gesam­te Kabi­nett geschei­tert ist, wobei sich die Innen- und die Außen­mi­nis­te­rin als beson­ders hart­hir­n­ig erwei­sen. In der Kos­ten-Nut­zen-Rech­nung letzt­lich noch posi­tiv zu Buche schlü­ge, sofern die Ukrai­ne oder ein Teil von ihr dem­nächst der EU bei­tritt, die Tat­sa­che, dass der von Links­ideo­lo­gen mal­trä­tier­ten und geplün­der­ten Uni­on Mil­lio­nen Men­schen mit einst­wei­len noch unge­wa­sche­nen Gehir­nen und nor­ma­len Vor­stel­lun­gen von Fami­lie, Hei­mat, Iden­ti­tät, Geschlecht, Migra­ti­on usw. zuwüch­sen, ein erheb­li­cher Teil außer­dem mit real­so­zia­lis­ti­schem Erfahrungshorizont.

Kame­rad Abra­mo­vych, gebür­ti­ger Ukrai­ner übri­gens, äußert sich auch zu Putins Kriegs­grün­den: „Weit plau­si­bler als die Theo­rie von der stän­di­gen Pro­vo­ka­ti­on durch den Wes­ten und stän­dig sich ver­schlech­tern­den Bedin­gun­gen für die Ost­ukrai­ne erscheint mit­hin die Annah­me, daß Putin erst die Wahl­nie­der­la­ge Donald Trumps sowie eine all­ge­mei­ne geis­tig-mora­li­sche Schwä­chung des Wes­tens abwar­te­te, um mit der Inva­si­on der Ukrai­ne zu begin­nen. So ist die rus­si­sche Inva­si­on ein Schlag ins Gesicht beson­ders all jener, die Putin, wie auch der Ver­fas­ser selbst, in den ver­gan­ge­nen Jah­ren für einen kalt berech­nen­den Real­po­li­ti­ker gehal­ten haben, der mit Kon­zes­sio­nen zu besänf­ti­gen sei.

Inzwi­schen müß­te er, selbst wenn er den Krieg noch gewän­ne, zur Besied­lung einer etwa­igen von der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on annek­tier­ten Ost­ukrai­ne oder einer ‚Volks­re­pu­blik’ Klein­ruß­land Depor­ta­tio­nen wie der Sowjet­dik­ta­tor Josef Sta­lin vor­neh­men, nur in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung: von Sibi­ri­en in den Wes­ten des Impe­ri­ums. Denn selbst in nahe­zu rein rus­sisch­spra­chi­gen Städ­ten wie Char­kow, wo die Bevöl­ke­rung bis zuletzt zu 70 Pro­zent für Par­tei­en stimm­te, die einen Nato- oder EU-Bei­tritt ablehn­ten, wird sich kaum noch jemand mit Ruß­land iden­ti­fi­zie­ren und in die­se, zu gro­ßen Tei­len von rus­si­schen Trup­pen zer­stör­ten Gebie­te zurück­keh­ren wollen.”

Es wird für min­des­tens eine Gene­ra­ti­on eine unüber­brück­ba­re Kluft zwi­schen Rus­sen und Ukrai­nern ent­ste­hen, sie wer­den als unver­misch­ba­re Feind­völ­ker neben­ein­an­der exis­tie­ren, und das wird Wla­di­mir Wla­di­mo­rowitschs Werk gewe­sen sein.

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Das alles ändert nichts dar­an, dass der Wes­ten sei­nen Teil zu die­sem Krieg bei­getra­gen hat; auch der klei­ne­re Schur­ke bleibt: ein Schurke.

„Hät­te die durch einen von den USA orches­trier­ten Coup 2014 an die Macht gelang­te Regie­rung aus­drück­lich auf einen Bei­tritt zu NATO und EU ver­zich­tet, so wie zum Bei­spiel die Schweiz, und hät­te man die bei­den dar­auf­hin abtrün­ni­gen rus­sisch­spra­chi­gen Pro­vin­zen im Osten des Lan­des gehen las­sen, anstatt sie zu schi­ka­nie­ren und ter­ro­ri­sie­ren, und hät­te man so die poten­ti­el­le Bedro­hung für Russ­land redu­ziert, wäre es mit gro­ßer Sicher­heit nicht zur gegen­wär­ti­gen Kata­stro­phe gekom­men”, kom­men­tiert der liber­tä­re Den­ker Hans-Her­mann Hop­pe den Krieg auf der Web­sei­te des Lud­wig von Mises-Instituts.
„Auf anhal­ten­den Druck der USA, kom­bi­niert mit eige­ner Dumm­dreis­tig­keit, tat die ukrai­ni­sche Regie­rungs­cli­que nichts der­glei­chen und for­der­te wei­ter­hin eine NATO-Mit­glied­schaft. Damit wäre die Mili­tär­prä­senz der USA bis unmit­tel­bar an die Gren­ze des zum Feind­staat erklär­ten gro­ßen Russ­lands aus­ge­dehnt wor­den. Nie­mand konn­te des­halb dar­an zwei­feln, dass das Ver­hal­ten der ukrai­ni­schen Regie­rung von rus­si­scher Sei­te aus als unge­heu­re Pro­vo­ka­ti­on und ernst­haf­te Bedro­hung wahr­ge­nom­men wür­de. Das tat­säch­li­che, mitt­ler­wei­le vor­lie­gen­de Ergeb­nis die­ser Pro­vo­ka­ti­on war zwar nicht vor­her­seh­bar, aber es war durch­aus vor­her­seh­bar, dass das eige­ne Ver­hal­ten auch eine rus­si­sche Reak­ti­on wie die tat­säch­lich erfolg­te wahr­schein­li­cher machen würde.
Der Krieg in der Ukrai­ne, wie so oft in der Geschich­te, hat also kei­nes­wegs nur einen Vater, Putin, son­dern meh­re­re. Die der­zeit über­all im Wes­ten ver­brei­te­te, völ­lig ein­sei­ti­ge anti-Russ­land Hys­te­rie und Het­ze ist des­halb nicht nur fak­tisch inkor­rekt, son­dern sie soll vor allem von der eige­nen Rol­le in dem gegen­wär­ti­gen Dra­ma ablen­ken. Und sie soll uns ver­ges­sen machen, dass die USA und ihre NATO-Vasal­len wäh­rend der letz­ten 30 Jah­re weit mehr Kriegs­to­te und Kriegs­schä­den zu ver­ant­wor­ten haben als Russ­land seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on und gegen­wär­tig in der Ukraine.“
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Bei­sei­te gespro­chen: Hop­pes Essay han­delt nur neben­bei von der Ukrai­ne, er ver­schafft vor allem einen guten Ein­blick ins liber­tä­re Den­ken, das man für uto­pisch hal­ten mag, aber erfri­schend ist es allemal:

„Staa­ten, gleich wel­cher Ver­fas­sung, sind kei­ne wirt­schaft­li­chen Unter­neh­men. Im Unter­schied zu Letz­te­ren finan­zie­ren sich Staa­ten nicht durch den Ver­kauf von Pro­duk­ten und Dienst­leis­tun­gen an frei­wil­lig zah­len­de Kun­den, son­dern durch Zwangs­ab­ga­ben: durch Gewalt­an­dro­hung und ‑anwen­dung ein­ge­trie­be­ne Steu­ern (und durch von ihnen buch­stäb­lich aus dem Nichts geschaf­fe­nes Papier­geld). Bezeich­nen­der­wei­se haben Öko­no­men Regie­run­gen, das heißt die Inha­ber staat­li­cher Gewalt, des­halb auch als sta­tio­nä­re Ban­di­ten bezeich­net. Regie­run­gen und alle Per­so­nen, die auf ihrer Gehalts­lis­te ste­hen, leben von der Beu­te, die man ande­ren Per­so­nen geraubt hat. Sie füh­ren eine para­si­tä­re Exis­tenz auf Kos­ten einer unter­wor­fe­nen und als ‚Wirt’ die­nen­den Bevölkerung.

Hier­aus erge­ben sich eine Rei­he wei­te­rer Ein­sich­ten. Natur­ge­mäß bevor­zu­gen sta­tio­nä­re Ban­di­ten eine grö­ße­re Beu­te gegen­über einer klei­ne­ren. Das heißt: Staa­ten wer­den stets ver­su­chen ihr Steu­er­auf­kom­men zu erhö­hen und ihre Aus­ga­ben durch Papier­geld­ver­meh­rung wei­ter zu stei­gern. Je grö­ßer die Beu­te, umso mehr Gefäl­lig­kei­ten kön­nen sie sich selbst, ihren Ange­stell­ten und ihren Unter­stüt­zern erwei­sen. Doch sind die­sem Trei­ben natür­li­che Gren­zen gesetzt.

Zum einen müs­sen die Ban­di­ten dar­auf ach­ten, dass sie ihren ‚Wirt’, des­sen Arbeit und Leis­tung ihre para­si­tä­re Exis­tenz ermög­licht, nicht so stark belas­ten, dass die­ser sei­ne Arbeit ein­stellt. Und zum ande­ren müs­sen sie befürch­ten, dass ihre ‚Wir­te’ – und ins­be­son­de­re die pro­duk­tivs­ten unter ihnen – aus ihrem Herr­schafts­be­reich abwan­dern und sich andern­orts ansiedeln.”

Vor die­sem Hin­ter­grund, so Hop­pe, wer­de eine Rei­he his­to­ri­scher Pro­zes­se begreif­lich. Zum einen, war­um Staa­ten zur ter­ri­to­ria­len Expan­si­on und poli­ti­schen Zen­tra­li­sie­rung neig­ten, näm­lich um immer mehr „Wir­te” unter ihre Kon­trol­le zu brin­gen und deren Abwan­de­rung zu erschwe­ren – der Moloch aus EU und EZB sei vor­nehm­lich unter die­sem Aspekt zu betrach­ten –; zum ande­ren, war­um der „Wes­ten” in den ver­gan­ge­nen 500 Jah­ren zur welt­weit füh­ren­den Wirtschafts‑, Wis­sen­schafts- und Kul­tur­re­gi­on auf­ge­stie­gen ist.

Hop­pe: „Im Unter­schied ins­be­son­de­re zu Chi­na war Euro­pa seit dem frü­hen Mit­tel­al­ter bis in die jün­ge­re Ver­gan­gen­heit hin­ein durch ein hohes Maß an poli­ti­scher Dezen­tra­li­sie­rung mit hun­der­ten oder gar tau­sen­den unab­hän­gi­gen Herr­schafts­ge­bie­ten gekenn­zeich­net. Man­che His­to­ri­ker haben die­sen Zustand als ‚geord­ne­te poli­ti­sche Anar­chie’ beschrie­ben. Und es ist heu­te unter Wirt­schafts­his­to­ri­kern gän­gig, in die­sem qua­si-anar­chi­schen Zustand einen wesent­li­chen Grund für das soge­nann­te ‚Euro­päi­sche Wun­der’ zu erken­nen. Denn in einem Umfeld mit einer gro­ßen Viel­falt unab­hän­gi­ger klein­räu­mi­ger Herr­schafts­be­rei­che in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft zuein­an­der ist es ver­gleichs­wei­se ein­fach, mit den Füßen abzu­stim­men und sich den Räu­be­rei­en staat­li­cher Herr­scher durch Abwan­de­rung zu ent­zie­hen. Zur Abwehr die­ser Gefahr und um ansäs­si­ge Pro­du­zen­ten bei der Stan­ge zu hal­ten, ste­hen die­se Herr­schaf­ten dar­um stän­dig unter hohem Druck, sich hin­sicht­lich ihrer Aus­beu­te­rei zu mäßi­gen. Und die­se Mäßi­gung beför­dert umge­kehrt das wirt­schaft­li­che Unter­neh­mer­tum, die wis­sen­schaft­li­che Neu­gier und die kul­tu­rel­le Kreativität.”

Es lebe – zumal wir seit eini­ger Zeit die Groß­mäch­te mili­tä­risch ver­läss­lich schei­tern sehen – die Klein­staa­te­rei! Es lebe die Auto­no­mie! Es leben die Sezessionen!

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Noch zum Vorvorigen.

Eins.

Nein! Doch! Ooh!

(Link)

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Zwei.

Es ist zwar das gute Recht jedes Lan­des oder Staa­tes, auf sei­nem Ter­ri­to­ri­um For­schung für was auch immer zu betrei­ben, also kann die Ukrai­ne auch Bio­waf­fen­la­bo­re unter­hal­ten (sofern sie kei­ne Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen­kon­troll­ver­trä­ge ver­letzt). Aber dass der Sohn des aktu­el­len Prä­si­den­ten der USA damit zu schaf­fen haben soll, ver­leiht der Sache scho a G’schmäckle.

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Drei.

Den legen­dä­ren Vor­trag von Geor­ge Fried­man aus dem Jahr 2015 habe ich hier bereits zitiert, aber ein da capo kann nicht scha­den:

„Das Haupt­in­ter­es­se der US-Außen­po­li­tik wäh­rend des letz­ten Jahr­hun­derts, im Ers­ten und Zwei­ten Welt­krieg und im Kal­ten Krieg waren die Bezie­hun­gen zwi­schen Deutsch­land und Russ­land. Ver­eint sind sie die ein­zi­ge Macht, die uns bedro­hen kann. Unser Haupt­in­ter­es­se war sicher­zu­stel­len, dass die­ser Fall nicht eintritt.

Wenn Sie ein Ukrai­ner sind und Aus­schau hal­ten, wer Ihnen hel­fen kann, dann kom­men als Ein­zi­ge die Ver­ei­nig­ten Staa­ten in Fra­ge. Vor zehn Tagen war der Ober­be­fehls­ha­ber der ‚US-Army Euro­pe’ Gene­ral Ben Hod­ges zu Besuch in der Ukrai­ne. Er kün­dig­te dort an, dass US-Aus­bil­der dem­nächst offi­zi­ell in die Ukrai­ne kom­men sol­len, nicht nur inof­fi­zi­ell. Er hat dort tat­säch­lich Orden an die ukrai­ni­schen Kämp­fer ver­teilt, obwohl es gegen mili­tä­ri­sches Pro­to­koll ist, dass Sol­da­ten Orden von frem­den Armeen anneh­men. Doch er tat das, weil er damit zei­gen woll­te, dass die ukrai­ni­sche Armee sei­ne Armee ist. Dann ging er weg und ver­kün­de­te in den Bal­ti­schen Staa­ten, dass die Ver­ei­nig­ten Staa­ten Pan­zer, Artil­le­rie und ande­re Mili­tär­aus­rüs­tung in den bal­ti­schen Staa­ten, Polen, Rumä­ni­en und Bul­ga­ri­en in Stel­lung brin­gen würden. (…)

Bei all die­sen Hand­lun­gen agie­ren die Ver­ei­nig­ten Staa­ten außer­halb des Rah­mens der NATO, weil NATO-Ent­schei­dun­gen von allen NATO-Mit­glie­dern ein­stim­mig getrof­fen wer­den müs­sen und jedes Land ein Veto ein­le­gen kann. Der Punkt bei der gan­zen Sache ist, dass die USA ein ‚Cor­don Sani­taire’, um Russ­land her­um auf­bau­en. Und Russ­land weiß das. Russ­land glaubt, die USA beab­sich­ti­gen die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on zu zer­schla­gen. Ich den­ke, wir wol­len sie nicht töten, son­dern ihnen nur ein wenig weh tun. Jeden­falls sind wir wie­der beim alten Spiel. (…)

Die Fra­ge, die sich jetzt für die Rus­sen stellt: Wer­den sie die Ukrai­ne wenigs­tens als eine neu­tra­le Puf­fer­zo­ne erhal­ten, oder wird der Wes­ten so weit in die Ukrai­ne vor­drin­gen, dass er nur noch 100 Kilo­me­ter von Sta­lin­grad und 500 Kilo­me­ter von Mos­kau ent­fernt ist. Für Russ­land ist der Sta­tus der Ukrai­ne eine exis­ten­zi­el­le Bedro­hung. Und die Rus­sen kön­nen das nicht igno­rie­ren. Und wie weit wer­den die USA gehen, falls Russ­land sich wei­ter­hin an die Ukrai­ne klammert? (…)

Die Fra­ge, auf die wir kei­ne Ant­wort haben, ist, wie wird Deutsch­land sich ver­hal­ten. Die unbe­kann­te Varia­ble in Euro­pa sind die Deut­schen. Wäh­rend die USA die­sen Sicher­heits­gür­tel auf­bau­en, nicht in der Ukrai­ne, son­dern west­lich davon und die Rus­sen einen Weg suchen, den west­li­chen Ein­fluss in der Ukrai­ne zurück­zu­drän­gen – wis­sen wir nicht wie die deut­sche Hal­tung aus­fal­len wird.

Deutsch­land befin­det sich in einer sehr eigen­ar­ti­gen Lage. Der ehe­ma­li­ge Bun­des­kanz­ler Ger­hard Schrö­der sitzt im Auf­sichts­rat von Gaz­prom. Die Deut­schen haben eine sehr kom­ple­xe Bezie­hung zu den Rus­sen. Die Deut­schen wis­sen selbst nicht, was sie tun sol­len. Sie müs­sen ihre Waren expor­tie­ren, die Rus­sen kön­nen ihnen ihre Waren abneh­men. Ande­rer­seits, wenn sie die Frei­han­dels­zo­ne ver­lie­ren, dann müs­sen sie etwas ande­res auf­bau­en. Die Urangst der USA ist, dass deut­sches Kapi­tal und deut­sche Tech­no­lo­gien sich mit rus­si­schen Roh­stof­fen und rus­si­scher Kraft ver­bin­den – eine ein­zig­ar­ti­ge Kom­bi­na­ti­on, vor der die USA seit Jahr­hun­der­ten eine Höl­len­angst haben. 

Wie wird sich das also abspie­len? Die USA haben ihre Kar­ten bereits auf den Tisch gelegt: die Linie zwi­schen dem Bal­ti­kum und dem Schwar­zen Meer. Die rus­si­schen Kar­ten lagen schon immer auf dem Tisch: Das Min­des­te was sie brau­chen ist eine neu­tra­le Ukrai­ne, kei­ne pro-west­li­che. Weiß­russ­land ist eine ande­re Frage.

Wer mir nun sagen kann, was die Deut­schen tun wer­den, der kann mir auch sagen, wie die Geschich­te der nächs­ten zwan­zig Jah­re aus­se­hen wird. Aber lei­der haben sich die Deut­schen noch nicht ent­schie­den. Und das ist immer das Pro­blem Deutsch­lands. Wirt­schaft­lich sehr mäch­tig, geo­po­li­tisch sehr fra­gil. Und es weiß nie, wie es bei­des ver­söh­nen kann. Seit 1871 ist das die deut­sche Fra­ge, die Fra­ge Euro­pas. Den­ken Sie über die deut­sche Fra­ge nach, denn sie kommt jetzt wie­der auf uns zu. Wir müs­sen uns ihr jetzt stel­len, und wir wis­sen nicht wie. Wir wis­sen nicht was die Deut­schen tun werden.”

(Das Ori­gi­nal­vi­deo fin­den Sie hier, der inter­es­san­te Teil beginnt beim Frage-Antwort-Spiel.)

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Abschlie­ßend ein biss­chen What­a­bou­tism.

Anläss­lich des Todes der frü­he­ren US-Außen­mi­nis­te­rin Made­lei­ne Alb­right sei an ein TV-Inter­view erin­nert, in dem Alb­right auf die Fra­ge, ob das US-ame­ri­ka­ni­sche Embar­go gegen den Irak, das eine hal­be Mil­li­on ira­ki­scher Kin­der dem Hun­ger­tod über­ant­wor­tet hat, die­sen Preis wert gewe­sen sei, erwi­der­te: „Es ist die­sen Preis wert.”
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Geor­ge W. Bush teil­te via twit­ter mit, dass Putins Angriffs­krieg ein Ver­bre­chen sei (so oder so ähn­lich; ich fin­de den Tweet gera­de nicht), was sich mit Scham­lo­sig­keit oder Demenz begrün­den lässt, aber so oder so nicht einer gewis­sen Pikan­te­rie entbehrt.

PS: Leser *** hat ihn mir geschickt.

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Noch mehr What­a­bou­tism.

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Wol­len wir uns abschlie­ßend an den Koso­vo­krieg und die Bom­bar­die­rung Bel­grads erinnern?

„Die NATO bom­bar­dier­te in der ers­ten Kriegs­nacht meh­re­re ser­bi­sche Che­mie und Petro­che­mie­wer­ke in einem Vor­ort von Bel­grad. Gro­ße Men­gen an gif­ti­gen und krebs­er­re­gen­den Stof­fen tra­ten dabei in Was­ser und Luft aus. Die Schwa­den aus den bren­nen­den Fabri­ken hüll­ten Pance­vo in eine Gift­wol­ke. Sie bestand aus einer ätzen­den und gif­ti­gen Mischung von Chlor­was­ser­stoff, Vinyl­chlo­rid, Schwe­fel­di­oxid und Phos­gen, das vor allem für sei­nen Ein­satz als Lun­gen­kampf­stoff im Ers­ten Welt­krieg bekannt ist. Ärz­te sol­len schwan­ge­ren Frau­en zur Abtrei­bung und für zwei Jah­re zur Ver­mei­dung von Schwan­ger­schaf­ten gera­ten haben, weil sie Fehl­bil­dun­gen bei Kin­dern befürch­te­ten. Wäh­rend der Bom­ben­näch­te waren die Gift­kon­zen­tra­tio­nen teil­wei­se der­art hoch, dass Ursu­la Ste­phan (dama­li­ge Vor­sit­zen­de der Stör­fall­kom­mis­si­on der Bun­des­re­gie­rung) von ‚che­mi­scher Krieg­füh­rung mit kon­ven­tio­nel­len Waf­fen’ sprach.

Der ers­te gro­ße Angriff auf ein bedeu­ten­des inner­städ­ti­sches Objekt galt in der Nacht vom 22. zum 23. April dem Gebäu­de des Ser­bi­schen Rund­funks (RTS) in der Aber­dar­e­va-Stra­ße in Bel­grad. 16 Zivi­lis­ten wur­den dabei getö­tet und der Sen­de­be­trieb des Fern­se­hens für weni­ge Stun­den unter­bro­chen. Der nächs­te gro­ße Angriff in Bel­grad erfolg­te in der Nacht vom 29. zum 30. April auf die Gebäu­de des Gene­ral­stabs der Streit­kräf­te Jugo­sla­wi­ens und das bereits beschä­dig­te Gebäu­de der Bun­des­po­li­zei. Bei die­sem Angriff wur­de auch der Bel­gra­der Fern­seh­turm zer­stört, da er der ‚geg­ne­ri­schen Unter­drü­ckungs­ma­schi­ne­rie dien­te’. Bei dem Angriff star­ben laut amnes­ty inter­na­tio­nal 19 Menschen.”

(Quel­le.)

Ins­ge­samt fie­len anno 1999 die Bom­ben der NATO-Flug­zeu­ge „auf 300 Schu­len, 176 Kul­tur­denk­mä­ler, auf Kran­ken­häu­ser und auf 23 mit­tel­al­ter­li­che Klös­ter in Ser­bi­en. Eine F‑15 beschoss einen Per­so­nen­zug auf offe­ner Stre­cke”, notiert der in sei­nen Zah­len­an­ga­ben nor­ma­ler­wei­se ver­läss­li­che Bru­no Bandu­let in der aktu­el­len Aus­ga­be von eigen­tüm­lich frei.

Mit dem Vor­wurf des What­a­bou­tis­mus ver­sucht immer jemand, von sei­nen dop­pel­ten Maß­stä­ben abzulenken.

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