8. Mai 2023

Tag des Sie­ges der spä­te­ren Fal­schen (über immer­hin die rich­ti­gen Verlierer).
Ges­tern lud mich ein Freund ins Hes­si­sche Staats­thea­ter Wies­ba­den, wo die Sopra­nis­tin Anna Netreb­ko zum zwei­ten Mal in einer kon­zer­tan­ten Auf­füh­rung des „Nabuc­co” sang, dies­mal dank eines Dau­er­re­gens ohne lär­men­de Pro­test­ler vor dem Opern­haus – aber viel­leicht hat­te sich deren Elan bereits bei der ers­ten Dar­bie­tung des Stücks am Frei­tag­abend erschöpft. Jeden­falls hät­te die berühm­te Sopra­nis­tin nach Ansicht der Demons­tran­ten nicht und am bes­ten nir­gends auf­tre­ten dür­fen. War­um, weiß nie­mand so ganz genau, doch das ver­hält sich bei Hexen­ver­fol­gun­gen ja oft so.

Was den Hexen aber letzt­lich immer zum Ver­häng­nis wur­de, war ihr Kon­takt mit dem Leib­haf­ti­gen. Nicht alles war schlecht im Mit­tel­al­ter (trotz der Kathedralen)!

Die hexen­sze­ne­ty­pi­sche Schutz­be­haup­tung, es habe sich bei dem besag­ten Kon­takt um die unbe­wuss­te Ver­bin­dung mit einem Incu­bus gehan­delt, ent­fällt also, und von der per­fi­den Masche, Satan im Nach­hin­ein halb­her­zig abzu­schwö­ren, lässt sich eine wach­sa­me kri­ti­sche Öffent­lich­keit nicht täuschen.

Um nicht län­ger als Rus­sen­he­xe zu gel­ten, muss die soge­nann­te Diva bzw. „Mör­der­sän­ge­rin” (so stand es auf einem Pla­kat) künf­tig und bis zum ukrai­ni­schen End­sieg vor jedem ihrer Auf­trit­te öffent­lich auf ein Putin-Por­trät defä­kie­ren und sich danach mit der rus­si­schen Fah­ne den Hin­tern abwi­schen; dar­un­ter wird man ihr kei­nen Sin­nes­wan­del abkau­fen; man wird ihr über­haupt den Sin­nes­wan­del nie abkau­fen, aber die osten­ta­ti­ve Unter­wer­fung wür­de, viel­leicht auch als Vor­ge­schmack auf künf­ti­ge, gera­de so genügen.

Über die Ver­an­stal­tung am Frei­tag­abend wur­de ich nur aus zwei­ter Hand, aber sehr gut unter­rich­tet. Es stan­den um die 200 Demons­tran­ten – die Poli­zei sprach von 400 und ver­hielt sich auch sonst sehr instru­iert – auf dem Platz vor dem Thea­ter, man­che phan­ta­sie­voll auf Kriegs­op­fer geschminkt, und sie rück­ten von dort immer wei­ter gegen das Haus vor. Des­sen Por­tal ist eine Kolon­na­de vor­ge­la­gert, die schließ­lich von den Pro­test­lern besetzt wur­de. Sodann ver­such­ten meh­re­re von ihnen, in das Gebäu­de ein­zu­drin­gen. Die Poli­zei unter­nahm – nichts. Nur die Secu­ri­ty ver­hin­der­te, dass die Stö­rung im Haus fort­ge­setzt wur­de. Das Publi­kum muss­te sich an den Tumul­tan­ten vor­bei­drän­geln und deren Schmä­hun­gen anhö­ren, weil es schließ­lich an einem Hexen­sab­bat teil­zu­neh­men gedach­te; besag­te Invek­ti­ven schlos­sen selbst­re­dend die der­zeit und wohl auch für­der­hin belieb­tes­te aller Beschimp­fun­gen ein, näm­lich, na was schon, den Ruf: „Nazis!”. Kon­zert­gän­ger, weil sie die Netreb­ko hören wol­len, als Nazis zu beschimp­fen: Char­man­ter und intel­li­gen­ter kann man für die Sache der Ukrai­ne kaum werben.

Drin­nen im Saal gab es ans Aus­ras­ten gren­zen­de Ova­tio­nen; ich erleb­te am Sonn­tag einen begeis­ter­ten, aber wohl nur mat­ten Abglanz davon.

Da der poli­ti­sche Stra­ßen­lärm heu­te in den Thea­tern und Opern­häu­sern so all­prä­sent ist wie in der Lite­ra­tur, den Küns­ten und den Gazet­ten sowie­so, muss man wohl einen Teil des Jubels als Pro­test gegen die Geß­ler­hut­auf­stel­ler vor dem Haus und in den Medi­en wer­ten, wobei das à la mode design­te Modell des besag­ten Huts gelb ist und ein blau­es Band hat. Bemer­kens­wert war frei­lich, dass der Wies­ba­de­ner Inten­dant nicht ein­knick­te, obwohl ihm Lokal­po­li­ti­ker nahe­ge­legt hat­ten, er sol­le der Netreb­ko absa­gen, sie also prak­tisch zum Teu­fel jagen, nach­dem sich ukrai­ni­sche Stel­len, wohl das Kon­su­lat, beschwert hat­ten. Doch der bra­ve Mann mag sich gedacht haben, dass er, der Inten­dant, und nicht irgend­wel­che Lokal­po­li­ti­ker und Aus­land­sukrai­ner fest­le­gen, wer auf der ihm anver­trau­ten Büh­ne singt, zumal er ja einen Ver­trag mit der rus­si­schen Star­so­pra­nis­tin unter­schrie­ben hat­te und das Haus 24 Stun­den nach der Ankün­di­gung ihres Auf­tritts zwei­mal kom­plett aus­ver­kauft war. Angeb­lich soll er auch dreist gefragt haben, was in irgend­ei­nem straf­recht­lich rele­van­ten Sinn gegen die Dame vor­lie­ge und eine Kün­di­gung des Ver­tra­ges rechtfertige.

Die Diva sang übri­gens in der Ver­di-Oper die Par­tie der Abi­gail­le, der macht­gie­ri­gen angeb­li­chen Toch­ter des Nabuc­co (= Nebu­kad­ne­zar II.), deren Staats­streich schei­tert, wor­auf­hin sie sich ver­gif­tet und in der Final­sze­ne – wir sind in der Oper, dort bekom­men ster­ben­de Haupt­fi­gu­ren immer eini­ges zu sin­gen – um Ver­ge­bung fleht. Als Abi­gail­le ali­as Netreb­ko letzt­mals naht, singt der Chor „La mise­ra a che si trag­ge or qui?” (Was schleppt sich die Elen­de hier­her?), was mich erhei­ter­te. Zumal es wei­ter­geht mit ihren Wor­ten: „Io fui colpevole/Punita or ben ne sono! (Ich war schul­dig, nun bin ich bestraft!) … Or chi mi tog­lie al ferreo/Pondo del mio delit­to! (Wer nimmt mir jetzt das Eisen ab, die Last mei­nes Ver­bre­chens) … Te chi­amo te Dio te vene­ro! Non maled­ire, non maled­ire a me.” (Ich rufe dich Gott, ich bete dich an! Ver­flu­che nicht, ver­flu­che mich nicht.) Die Frev­le­rin bit­tet um Erbar­men, welch sub­ti­ler Zufall oder Zusam­men­fall! Dem FAZler ist er auch aufgefallen.

Ich habe frü­her nie auf die­ses Libret­to geach­tet, das mit dem alten Baby­lon so viel zu tun hat wie Ver­dis fröh­li­che Piaz­za-Musik, wie ja über­haupt die Text­bü­cher der ita­lie­ni­schen Oper oft bedenk­lich in Rich­tung der depri­mie­rend däm­li­chen TV-Shows die­ses zugleich so welt­klug-uralten und kin­di­schen Vol­kes chan­gie­ren. Doch mein Ehe­ge­spons, das zahl­rei­che Opern ein­stu­diert und vie­le Sän­ger beglei­tet hat, meint, es sei ein typisch deut­scher Spleen, sich beson­ders um die Text­bü­cher zu küm­mern, das kom­me von Wag­ner und Strauss, sei aber völ­lig unnö­tig; sie ach­te nie auf den Text, son­dern inter­es­sie­re sich stets nur für die Musik, für die Stim­men der Sän­ger, ob sie geschmack­voll phra­sie­ren, ihre Ein­sät­ze hin­be­kom­men etc.; schließ­lich hei­ße die Sache im Ita­lie­ni­schen bel can­to, nicht bel tes­to.

Na, mei­net­we­gen. Als Stim­men­fes­ti­val taugt eine Ver­di-Oper alle­mal, sogar der bizar­re „Nabuc­co”, und in Wies­ba­den stan­den neben der Netreb­ko, deren Organ nach wie vor bemer­kens­wert wohl­klin­gend und von sofort wie­der­erkenn­ba­rer Fär­bung ist – da wackelt nichts, die Spit­zen­tö­ne sit­zen, das Pia­no ist sen­sa­tio­nell –, zwei wei­te­re erst­klas­si­ge Inter­pre­ten auf der Büh­ne, Žel­j­ko Lučić in der Titel­par­tie und Fleur­an­ne Brock­way als Fene­na (in den Ensem­ble­sze­nen stach die Aus­tra­lie­rin da und dort sogar die Hauptum­ju­bel­te aus). Viel wich­ti­ger aber war, dass es sich um eine kon­zer­tan­te Auf­füh­rung han­del­te und man folg­lich, ers­tens, von den Kas­pe­rei­en des Regie­thea­ters ver­schont blieb, zwei­tens das Orches­ter und der Diri­gent, in die­sem Fal­le der famo­se und mit Ita­lia­ni­tà füh­ren­de Micha­el Gütt­ler, gut zu sehen waren, und, drit­tens, die Sän­ger vor dem Orches­ter stan­den, was der Hör­bar­keit der Stim­men sehr zugu­te kam – dem amu­si­schen Gros der Regis­seu­re ist es ja egal, ob sie mit ihren gro­tes­ken Ideen die Sän­ger am Sin­gen hin­dern –, zumal ein büh­nen­ge­wohn­tes Per­so­nal auch bei sol­chen Auf­füh­run­gen schau­spie­le­risch agiert, die Sän­ger wis­sen schließ­lich, wor­um es in dem Stück geht, und ein paar Requi­si­ten (Kos­tü­me, Schwert, Kro­ne) sind rasch bereit­ge­stellt. Als Sali­e­ri sei­ne Maxi­me Pri­ma la musi­ca, poi le paro­le aus­gab, konn­te er ja nicht ahnen, wie drin­gend nötig die Ergän­zung poi la regia ein­mal wer­den wür­de.
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Die Ukrai­ner mer­zen gera­de die rus­si­sche Spra­che und die rus­si­sche Kul­tur bei sich im Lan­de aus. Das ist zwar welt­ge­schicht­lich nichts Neu­es, aber in einem Volk, des­sen Kul­tur mit jener des rus­si­schen qua­si amal­ga­miert ist, eine beson­de­re Bru­ta­li­tät. Ich wüss­te übri­gens nicht, dass in der Sowjet­uni­on nach dem deut­schen Angriff 1941 kein Beet­ho­ven oder Bach mehr gespielt, kein Goe­the und kein Hei­ne mehr gele­sen wor­den wären, und mir ist eben­falls nicht bekannt, dass die Nazis Tol­stoi, Pusch­kin oder Tschai­kow­ski ver­bo­ten hät­ten. Ich ver­mag mich der Fol­ge­rung nicht zu ver­schlie­ßen, dass ein ange­grif­fe­nes Volk das natür­li­che Recht besitzt, sich zu ver­tei­di­gen, doch die­ses kor­rup­te Kie­wer Regime wird mir mit jedem Tag suspek­ter, und ich fin­de es rotz­frech, wie Ukrain­ever­tre­ter auf den mora­li­schen Hüh­ner­au­gen deut­scher Offi­zi­el­ler her­um­tram­peln und nicht nur stän­dig neue For­de­run­gen stel­len – Waf­fen, Wie­der­auf­bau­hil­fen, Flücht­lings­ver­sor­gung –, son­dern den Deut­schen oben­drein vor­schrei­ben wol­len, was sie abge­ben sol­len, wor­auf sie ver­zich­ten kön­nen, woher sie ihre Ener­gie bezie­hen und am Ende noch, wer bei ihnen auf­tre­ten darf.

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PS: „Nach mei­nen Recher­chen”, notiert Freund ***, „wur­de übri­gens rus­si­sche Musik, auch Tschai­kovs­ky, nach dem Kriegs­be­ginn 1941 in Deutsch­land nicht oder kaum mehr gespielt. Kei­ne Ahnung, ob es ein wirk­li­ches Ver­bot oder eine ent­spre­chen­de Anwei­sung gab oder ob die ‚Kul­tur­schaf­fen­den’ selbst ‚im Her­zen spür­ten’, was die Stun­de geschla­gen hat­te. Man (oder bes­ser man­cher) war und ist hier­zu­lan­de eben mit feins­ter Wit­te­rung qua­si hochbegabt.

Tos­ca­ni­ni diri­gier­te in New York wäh­rend der gesam­ten Dau­er des Krie­ges deut­sche Musik, dar­un­ter umfang­reichs­te Kon­zer­te mit Wag­ner. Die BBC bestritt etwa 60 Pro­zent ihrer Klas­sik­sen­dun­gen mit deut­scher Musik und waren ganz offen­sicht­lich nicht der Mei­nung, es beför­de­re die Kriegs­zie­le, wenn man der eige­nen Bevöl­ke­rung die Mat­thä­us­pas­si­on, Beet­ho­ven-Sin­fo­nien, die Zau­ber­flö­te etc. etc. vor­ent­hiel­te. Sogar die Sowjets spiel­ten jede Men­ge Mozart und Beet­ho­ven. Ledig­lich die Deut­schen…, ach las­sen wir das!”

PS zum PS: „Die Reichs­mu­sik­kam­mer  gab am 12 Juli 1941 bekannt, dass ‚die Wer­ke rus­si­scher Kom­po­nis­ten bis auf wei­te­res aus­nahms­los nicht auf­ge­führt wer­den. Sinn­ge­mäß ist auch die öffent­li­che Dar­bie­tung rus­si­scher Volks­lie­der unstatt­haft’. Auch die von mir zuvor gelob­te BBC hat­te offen­bar noch leben­de bzw. vor nicht all­zu lan­ger Zeit ver­stor­be­ne deut­sche Kom­po­nis­ten auf einer ‚ene­my music list’, dar­un­ter auch etli­che aus­ge­wie­se­ne Regime­geg­ner, Exi­lan­ten und Juden (!). Man woll­te den deut­schen und öster­rei­chi­schen Musik­ver­la­gen kei­ne Tan­tie­men zukom­men las­sen. Die 60 Pro­zent deut­scher Musik im Pro­gramm sind also offen­bar vor­wie­gend mit den tan­tie­men­frei­en Bach, Mozart, Beet­ho­ven, Brahms etc. erzielt worden.”

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PPS: Auch die­se Maschi­nen­pis­to­len könn­ten längst in der Ukrai­ne sein!

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Bernd Zel­ler. Wer sonst?
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Vor ein paar Tagen drück­te ich mei­nem Jüngs­ten Edgar Allan Poes Erzäh­lung „Der Gold­kä­fer” in die Hand; ich hoff­te, die Geschich­te um die Ent­zif­fe­rung einer von Pira­ten fabri­zier­ten dop­pelt ver­schlüs­sel­ten Geheim­bot­schaft könn­te ihn inter­es­sie­ren. Als ich in sei­nem Alter war, hat­te ich mei­ne engels­ge­dul­di­ge Mama genö­tigt, in der von Poe geschil­der­ten, eher pri­mi­ti­ven Geheim­schrift – jeder Buch­sta­be des Alpha­bets wird von einem Zei­chen ver­tre­ten – Tex­te zu ver­fas­sen, die ich dann nach der Metho­de ent­schlüs­sel­te, die der Prot­ago­nist der Erzäh­lung, Mr. Leg­rand, dem Ich-Erzäh­ler darlegt.
Als ich nach 45 oder mehr Jah­ren wie­der in den „Gold­kä­fer” hin­ein­las, stell­te ich fest, dass die Erzäh­lung nach heu­ti­gen Kri­te­ri­en eigent­lich ver­bo­ten wer­den müss­te, so oft wie das Wort „Neger” dar­in auf­taucht (was den Buben aber offen­bar deut­lich weni­ger trig­ger­te als die Zumu­tung, fünf­zig eng­be­druck­te Sei­ten lesen zu sol­len): „Auf die­sen Streif­zü­gen beglei­te­te ihn (Mr. Leg­rand) gewöhn­lich ein alter Neger namens Jupi­ter, den man schon frei­ge­las­sen hat­te, ehe noch die Ver­hält­nis­se der Fami­lie eine üble Wen­dung nah­men, den aber weder Dro­hun­gen noch Ver­spre­chun­gen dazu beweg­ten, das auf­zu­ge­ben, was er als sein Die­n­er­recht betrach­te­te, näm­lich sei­nem jun­gen ‚Mas­sa Will’ auf Schriff und Tritt zu fol­gen.” Sogar das noch schlim­me­re Wort „Nig­ger” kommt dar­in vor, wobei es Jupi­ter selbst ist, der es ver­wen­det – Schwar­ze dür­fen das bekannt­lich bis heu­te, aber der Autor war halt weiß und gehört aus­sor­tiert. Oder umge­schrie­ben. Meint unter vie­len ande­ren Beleh­rungs- und Betreu­ungs­me­di­en auch der Deutsch­land­funk.
Es waren meist Grün­de der Pie­tät und Ver­ständ­lich­keit, die zu Ein­grif­fen in älte­re Tex­te führ­ten. Wie ich dar­über den­ke, muss ich nicht erklä­ren, doch zwei Fra­gen an die­je­ni­gen, die die­se Art lite­ra­ri­schen Gou­ver­nan­ten­tums und poli­ti­scher Erzie­hung gut­hei­ßen, hät­te ich schon, und zwar:
– Was es „schon immer” gege­ben hat, also, um einen über­schau­ba­ren Zeit­raum anzu­set­zen, in den ver­gan­ge­nen 500 Jah­ren, sol­len wir nicht genau das ableh­nen, dekon­stru­ie­ren, ver­ur­tei­len, nie wie­der tun? War das nicht die schreck­li­che Zeit der wei­ßen Herr­schaft, des Patri­ar­chats, der Aus­beu­tung, der Unter­drü­ckung von Allem und Jedem? War­um pro­pa­giert der Staats­funk, dass irgend­et­was gut sein könn­te, was „schon immer” üblich war?
– Wenn nütz­li­che Mit­glie­der der Gesell­schaft, denen ver­sagt ist, selbst Lite­ra­tur zu pro­du­zie­ren, sich nun die alten Tex­te vor­neh­men, um alles dar­in umzu­schrei­ben, was bei heu­ti­gen kul­tur­sen­si­blen Woken all­er­gi­sche Schocks aus­lö­sen könn­te, wie will man der nächs­ten woken oder, wie Die­ter Boh­len sagen wür­de, mega­wo­ken Gene­ra­ti­on dann noch erklä­ren, was ras­sis­ti­sche, sexis­ti­sche, kolo­nia­lis­ti­sche, patri­ar­cha­li­sche, wei­ße Lite­ra­tur ist?
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Auf den Punkt.
(Netz­fund)
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Zu den der­zeit zwar nicht mehr in deut­schem Raub­be­sitz, dafür aber in aller Mun­de befind­li­chen Ben­in­bron­zen schreibt Leser ***, es sei­en „wun­der­ba­re Kunst­wer­ke, oder, wie unse­re hoch­ge­bil­de­te Aus­sen­mi­nis­te­rin sagt, ‚Kunst­stü­cke’. Aber selbst die blut­trie­fends­ten Kul­tu­ren kön­nen Kunst her­vor­brin­gen. Muss man des­halb vor ihnen einen Knie­fall machen?
Was es mit der Ben­in-Kul­tur auf sich hat­te, lässt sich in den Berich­ten zahl­rei­cher Rei­sen­der weit­ge­hend über­ein­stim­mend nach­le­sen. Als Bei­spiel von vie­len möch­te ich Ihnen eini­ge Zita­te aus dem Buch des Anthro­po­lo­gen Hen­ry Ling Roth von 1903 ‚Gre­at Ben­in, Its Cus­toms, Art and Hor­rors’ vor­stel­len. Ich möch­te aus­drück­lich dar­auf hin­wei­sen, dass es sich hier nicht um Schau­er­mär­chen, son­dern um his­to­risch-eth­no­lo­gi­sche Fak­ten han­delt. Die Ben­in-Kul­tur war geprägt von Men­schen­op­fern, in einer Zahl, die selbst geeig­net wäre, die Mas­sen-Abschlach­tun­gen der Mayas oder Azte­ken in den Schat­ten zu stel­len. Geop­fert wur­den mit Vor­lie­be (wenn auch nicht aus­schliess­lich) Skla­ven, aber auch Kriegs­ge­fan­ge­ne und Straf­tä­ter. Die zur Opfe­rung vor­ge­se­he­nen Skla­ven wur­den oft in einem eige­nen gros­sen Ver­schlag gehalten.
When Moffat and Smith visi­ted the city in 1840, we are told that ‚At an open space near the mar­ket place, they were sho­cked by the sight of what may be ter­med a Gol­go­tha, a place whe­re human skulls were heaped up and blea­ching in the sun. Still more were they dis­gus­ted by see­ing in the out­skirts of the town, not far from the king’s place of resi­dence, the bodies of men who had been but recent­ly behea­ded, with tur­key buz­zards fee­ding on them, and on the roof of a hut clo­se by, two corp­ses in a sit­ting pos­tu­re. The stench from an open pit near this revol­ting spot was almost insuf­fera­ble, pro­cee­ding, as they belie­ved, from human bodies in a sta­te of putrefaction’ …
About twen­ty years later, the­se hor­rors were ful­ly con­firm­ed by Bur­ton. One day he wri­tes, ‚As we advan­ced, the ave­nue shrank to a nar­row lane, and in its deep sha­de we saw green and mil­de­wed skulls lying about like peb­bles. We thence emer­ged upon a broad open space, which we after­wards cal­led the Field of Death. It was, inde­ed, a Gol­go­tha, an Acel­da­ma. Among­st the foul tur­key buz­zards bas­king in the sun, and the catt­le gra­zing upon the growth of a soil wate­red with blood, many a ghast­ly white object met the sight, loath­so­me remains of negle­c­ted huma­ni­ty, the vic­tims of cus­toms and simi­lar solem­ni­ties. Our first idea was that we were led into the city by this road that an impres­si­on might be pro­du­ced upon us. After­wards, it beca­me appa­rent that all the high­ways con­duc­ting to the palace are simi­lar­ly furnished’.
And on ano­ther occa­si­on he wri­tes: ‚In the her­ba­ge, on the right of the path appeared the figu­re of a man bare to the waist, with arms exten­ded, and wrists fas­ten­ed to a frame­work of pee­led sticks plan­ted behind him. For a moment we thought the wretch might be ali­ve, but a few steps con­vin­ced us of our mista­ke. He had been cru­ci­fied after the Afri­can fashion… A rope of ‚tie-tie’, fast bound round the neck to a sta­ke behind, had been the imme­dia­te cau­se of death; the fea­tures still expres­sed stran­gu­la­ti­on, and the deed had been so recent that though the flies were the­re, the tur­key buz­zards had not yet found the eyes. The black­ness of the skin and the gene­ral appearance pro­ved that the suf­fe­r­er was a slave. No emo­ti­on wha­te­ver, except hol­ding the nose, was shown by the crowds of men and women that pas­sed by, nor was the­re any sign of asto­nish­ment when I retur­ned to sketch the hor­rid scene…
Clo­se to the king’s palace, the spot whe­re ano­ther death had taken place ; we wal­ked the­re and found a corp­se lying stark naked upon its back. A few peo­p­le were stan­ding by loo­king with the utmost insou­ci­ance at a hor­rid spec­ta­cle. The miserable’s legs had been bro­ken at mid-shin with awful vio­lence, a deep gash was under the ramus of the left jaw, and in the hot clear mor­ning air, the fea­tures had alre­a­dy beco­me swol­len and sha­pe­l­ess. This was a gra­tui­tous barbarity…
The cap­tu­ring of vic­tims by night casts a lurid light on the ter­ror which must have con­ti­nuous­ly hover­ed over the heads of the Bini, for at one time even their king took part in the­se mas­sa­cres at night…” *
(H. Ling Roth, op. cit., pp. 63).
Es wäre ein Leich­tes gewe­sen, sich über die Natur der Ben­in-Kul­tur zu infor­mie­ren, selbst ein Blick in die eng­li­sche Wiki­pe­dia unter den ein­schlä­gi­gen Begrif­fen hät­te aus­ge­reicht, sich einen Ein­druck zu ver­schaf­fen, z.B. ‚Ben­in Expe­di­ti­on of 1897’, hier der Abschnitt ‚The Puni­ti­ve Expe­di­ti­on’, Zitat E. Hux­ley: ‚As we neared Ben­in City, we pas­sed seve­ral human sacri­fices, live women slaves gag­ged and peg­ged on their backs to the ground, the abdo­mi­nal wall being cut in the form of a cross, the unin­ju­red gut han­ging out. The­se poor women were allo­wed to die like this in the sun.’ *
Aller­dings ist selbst das Lesen von Wiki­pe­dia-Arti­keln wohl zu viel ver­langt von jenen erbärm­li­chen Bil­dungs­all­er­gi­kern, die uns regieren.”

* Über­set­zung: „Als Moffat und Smith die Stadt 1840 besuch­ten, wur­de uns gesagt, dass ’sie auf einem offe­nen Platz in der Nähe des Markt­plat­zes scho­ckiert waren von dem Anblick des­sen, was man ein Gol­ga­tha nen­nen könn­te, einen Ort, an dem mensch­li­che Schä­del auf­ge­häuft waren und in der Son­ne bleich­ten. Noch mehr waren sie ange­wi­dert, als sie am Ran­de der Stadt, nicht weit von der Resi­denz des Königs, die Lei­chen von Män­nern sahen, die gera­de erst geköpft wor­den waren und nun von Trut­hahn­bus­sar­den (eine Gei­er­art – M.K.) gefres­sen wur­den, und auf dem Dach einer nahe gele­ge­nen Hüt­te zwei Lei­chen in sit­zen­der Hal­tung. Der Gestank aus einer offe­nen Gru­be in der Nähe die­ses wider­li­chen Ortes war fast uner­träg­lich und ging, wie sie glaub­ten, von mensch­li­chen Kör­pern im Zustand der Ver­we­sung aus’…

Etwa zwan­zig Jah­re spä­ter wur­den die­se Schre­cken von Bur­ton voll­stän­dig bestä­tigt. An einem Tag schreibt er: ‚Als wir wei­ter­gin­gen, schrumpf­te die Allee zu einer schma­len Gas­se zusam­men, und in ihrem tie­fen Schat­ten sahen wir grü­ne und schim­me­li­ge Schä­del her­um­lie­gen wie Kie­sel­stei­ne. Von dort gelang­ten wir auf eine wei­te offe­ne Flä­che, die wir spä­ter Todes­feld nann­ten. Es war in der Tat ein Gol­ga­tha, ein Acel­da­ma (Blut­a­cker; Fried­hof in Jeru­sa­lem – M.K.). Zwi­schen den trä­gen Trut­hahn­bus­sar­den, die sich in der Son­ne wärmten, und dem Vieh, das auf dem blut­ge­tränk­ten Boden wei­de­te, begeg­ne­te man­ches gespens­tisch wei­ße Objekt unse­rem Anblick, abscheu­li­che Über­res­te ver­wil­der­ter Mensch­lich­keit, Opfer von Bräu­chen und ähn­li­chen Fei­er­lich­kei­ten. Unse­re ers­te Idee war, dass wir auf die­ser Stra­ße in die Stadt geführt wur­den, um einen Ein­druck auf uns zu machen. Spä­ter stell­te sich her­aus, dass alle Stra­ßen, die zum Palast füh­ren, ähn­lich ein­ge­rich­tet sind.’ 

Und bei einer ande­ren Gele­gen­heit schreibt er: ‚Im Gras, rechts vom Weg, erschien die Gestalt eines bis zur Tail­le nack­ten Man­nes, mit aus­ge­streck­ten Armen, die Hand­ge­len­ke an einem Gerüst aus geschäl­ten Stö­cken befes­tigt, die hin­ter ihm in den Boden ein­ge­rammt waren. Einen Moment lang dach­ten wir, der arme Teu­fel wäre am Leben, aber nach ein paar Schrit­ten über­zeug­ten wir uns von unse­rem Irr­tum. Er war nach afri­ka­ni­scher Art gekreu­zigt wor­den… Ein Seil als ‚Kra­wat­te’, fest um den Hals an einen Pfahl gebun­den, war die unmit­tel­ba­re Todes­ur­sa­che; die Gesichts­zü­ge drück­ten immer noch Ersti­ckung aus, und die Tat war so frisch, dass, obwohl die Flie­gen bereits da waren, die Trut­hahn­bus­sar­de ihre Auf­merk­sam­keit noch nicht dar­auf gerich­tet hat­ten. Die Schwär­ze der Haut und das all­ge­mei­ne Erschei­nungs­bild bewie­sen, dass der Lei­den­de ein Skla­ve gewe­sen war. Die vie­len Män­ner und Frau­en, die vor­über­gin­gen, zeig­ten kei­ner­lei Regung, außer dass sie sich die Nase zuhiel­ten, und es gab auch kein Anzei­chen von Ver­wun­de­rung, als ich zurück­kam, um die schreck­li­che Sze­ne zu zeichnen …

In der Nähe des Königs­pa­las­tes hat­te sich ein wei­te­rer Tod ereig­net; wir gin­gen dort­hin und fan­den eine Lei­che, die split­ter­nackt auf dem Rücken lag. Ein paar Leu­te stan­den dane­ben und betrach­te­ten mit äußers­ter Unbe­küm­mert­heit ein ent­setz­li­ches Schau­spiel. Die Bei­ne des Elen­den waren mit ent­setz­li­cher Gewalt in der Mit­te des Schien­beins gebro­chen wor­den, eine tie­fe Wun­de befand sich unter dem lin­ken Kie­fer, und in der hei­ßen, kla­ren Mor­gen­luft waren die Züge bereits geschwol­len und form­los gewor­den. Es war eine grund­lo­se Bar­ba­rei … Die Gefan­gen­nah­me von Opfern bei Nacht wirft ein grel­les Licht auf den Ter­ror, der unun­ter­bro­chen über den Köp­fen der Bini geschwebt haben muss, denn einst nahm sogar ihr König an die­sen nächt­li­chen Mas­sa­kern teil…”

** Über­set­zung: „Als wir uns Ben­in City näher­ten, kamen wir an meh­re­ren Men­schen­op­fern vor­bei, leben­den Skla­vin­nen, gekne­belt und auf dem Rücken lie­gend am Boden befes­tigt, die Bauch­de­cke in Kreuz­form auf­ge­schnit­ten, der unver­letz­te Darm hing her­aus. Die­se armen Frau­en durf­ten so in der Son­ne sterben.”

Der bru­ta­le Ein­bruch des Kolo­nia­lis­mus in die schwar­ze Hoch­kul­tur been­de­te auch die­se jahr­hun­der­te­al­ten Gebräuche.

Das Wet­ter.

 

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