5. November 2023

Die Sonn­ta­ge – end­lich ein­mal wie­der – den Küns­ten! Heu­te soll es aus­schließ­lich und durch­aus anti­zy­klisch um Tho­mas Mann gehen; wer mit dem Groß­erzäh­ler nichts anfan­gen kann, eyle also stracks wei­ter bzw. steh­le wei­nend sich aus die­sem Bund. Es wird näm­lich, oben­drein, elend lang!

Ein guter Bekann­ter, gebil­det, pro­mo­viert, intel­lek­tu­ell, fran­ko­phil (Rei­hen­fol­ge belie­big), über­rasch­te mich mit der Aus­kunft, er möge Tho­mas Mann nicht. Auf Nach­fra­ge stell­te sich her­aus, dass die­ses Nicht­mö­gen ihn prä­ven­tiv dar­an gehin­dert hat­te, den Dich­ter über­haupt gründ­lich zu lesen. Ja, die „Bud­den­brooks“ ken­ne er, ein paar Erzäh­lun­gen, die­sen oder jenen Essay aus zwei­ter Hand …

Auf die Fra­ge nach dem War­um folg­te eine der erwart­ba­ren Ant­wor­ten (dazu gleich): Die Per­sön­lich­keit Manns sei ihm unan­ge­nehm. Mei­ne Erwi­de­rung lau­tet in sol­chen Fäl­len, dass weni­ge Din­ge auf Erden gleich­gül­ti­ger sei­en als die soge­nann­te „Per­sön­lich­keit“ eines bedeu­ten­den Künst­lers. War­um soll­te man sich bei einem Schrift­stel­ler – nach den Wor­ten Hei­mi­to von Dode­rers ein Mensch, dem man viel­leicht ein­mal „im Stie­gen­haus begeg­net“, des­sen Pri­vat­le­ben aber ansons­ten ohne jeden Belang sei – für etwas anders als das Werk interessieren?

Ich fin­de die Per­son Tho­mas Mann auch nicht son­der­lich sym­pa­thisch, sofern man über­haupt aus der zeit­lich-räum­li­chen Fer­ne dar­über urtei­len kann oder soll­te. Sei­ne Art der Selbst­sti­li­sie­rung, sein Reprä­sen­ta­ti­ons­be­dürf­nis, sein unsinn­li­ches, pedan­ti­sches, obla­ten­haft sprö­des Wesen wider­stre­ben mir, aber ers­tens ist es, wie gesagt, voll­kom­men egal, was jemand über einen Schöp­fer sol­chen Kali­bers meint, zwei­tens bestehen hin­rei­chend vie­le Grün­de zu der Annah­me, dass sich hin­ter der Fas­sa­de eine scheue, ent­halt­sa­me und lei­den­de Exis­tenz ver­barg. „War nicht das gan­ze Leben pein­lich? Es gab wohl sel­ten ein sol­ches Inein­an­der von Qual und Glanz“, notier­te Mann am 20. Sep­tem­ber 1953, zwei Jah­re vor sei­nem Tod, in sein Tagebuch.

Als Erzäh­ler und vor allem als Sti­list, mit dem ver­gli­chen die meis­ten ande­ren Autoren wie Men­schen mit Wort­fin­dungs­stö­run­gen wir­ken, gehört der in die Lite­ra­tur deser­tier­te Lübe­cker Patri­zi­er­sohn zu mei­nen „Haus­göt­tern“, fast alle sei­ne Bücher habe ich mehr­fach gele­sen. Das ist natür­lich nichts Unge­wöhn­li­ches, im Gegen­teil, der Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger von 1929 ist als einer der wich­tigs­ten Pro­sa­schrift­stel­ler des 20. Jahr­hun­derts kano­ni­siert, x‑fach ver­filmt und in alle gro­ßen Spra­chen über­setzt wor­den, jeder (über 40) kennt ihn, und Mil­lio­nen haben ihn gele­sen – ich will hier kei­nes­wegs potem­kin­sche Kulis­sen her­bei­schie­ben oder gegen Wind­müh­len kämp­fen. Und doch stößt man, gera­de unter Intel­lek­tu­el­len und Schrei­bern, immer wie­der auf erheb­li­che Vor­be­hal­te einem Dich­ter gegen­über, der, Kleist hin, Kaf­ka und Dode­rer her, allein der Brei­te sei­nes Werks wegen als bedeu­tends­ter deut­scher Autor seit Goe­the bezeich­net wer­den darf, ja viel­leicht sogar muss.

Ver­ste­hen Sie, geneig­te Lese­rin, den fol­gen­den, ziem­lich aus­ufern­den Ein­trag denn als eine nach­drück­li­che Wer­bung dafür, die Wer­ke Tho­mas Manns – sei es erst­mals, sei es wie­der – zur Hand zu nehmen.

Mei­nem pole­mi­schen Las­ter (die­se For­mu­lie­rung stammt übri­gens von ihm) die Zügel las­send, begin­ne ich mit den geläu­fi­gen Ein­wän­den gegen den „Groß­schrift­stel­ler“. Es sind immer die­sel­ben; sie las­sen sich wie folgt auflisten.

Ers­tens: die Klas­sen­schran­ke. Ich glau­be, es war Peter Rühm­korf, der die­ses Wort gebrauch­te. „Man ist reich bei Ihnen zu Hau­se“, sagt Settem­b­ri­ni, der pro­gres­si­ve, jeden Tag den­sel­ben Anzug tra­gen­de Lite­rat, im „Zau­ber­berg“ zu Hans Cas­torp, und man war reich im Hau­se Mann. Ein Bür­ger­sohn, ein mit dem sil­ber­nen Löf­fel im Mund Gebo­re­ner, des­sen Per­so­nal einem Milieu ange­hört, das den in irgend­ei­ner Klein- oder Vor­stadt auf­ge­wach­se­nen Intel­lek­tu­el­len im bes­ten Fal­le gleich­gül­tig lässt, im Nor­mal­fall aber sein Res­sen­ti­ment her­vor­kit­zelt, des­sen Roma­ne und Erzäh­lun­gen in Häu­sern spie­len, für deren Aus­stat­tung einem lin­ken Autor bereits die beschrei­ben­den Wor­te feh­len wür­den – was blieb und bleibt denen hin­ter der Klas­sen­schran­ke ande­res übrig, als ihm mit Ableh­nung, Feind­se­lig­keit, Lek­tü­re­ver­wei­ge­rung zu begeg­nen? Aus die­ser Per­spek­ti­ve gehört Tho­mas Mann einer Welt von ges­tern an, die eigent­lich abge­schafft wer­den muss – man ist, was Bil­dung und Gesit­tung betrifft, ja auf dem bes­ten Wege dort­hin – und kei­ner­lei Inter­es­se mehr ver­dient. (Rühm­korf hat sei­ne Ableh­nung des Bür­ger­sohns spä­ter übri­gens dem Künst­ler gegen­über revidiert.)

Zwei­tens: Tho­mas Mann schrei­be gar zu dicke Bücher – das bezieht sich ins­be­son­de­re auf den Josephs-Roman – in einem, drit­tens, gra­vi­tä­ti­schen, alt­vä­ter­li­chen, manie­rier­ten Stil. Dazu fällt mir zwar nichts ein, doch ich zitie­re nach­her ein bisschen.

Vier­tens: Sei­ne Wer­ke sei­en intel­lek­tu­ell über­frach­tet. Die­ser Vor­wurf ist der ein­zi­ge, der vom Otto-Nor­mal-Leser erho­ben wird, und er ist ein zuver­läs­si­ger Indi­ka­tor der Popu­la­ri­tät und des Ver­kaufs­er­folgs. Die ohne Zwei­fel belieb­tes­ten Roma­ne sind der Erst­ling „Bud­den­brooks“ – eines der erstaun­lichs­ten und abge­klär­tes­ten Debüts aller Zei­ten – sowie das Alters­werk „Felix Krull“, und bei­de sind frei von intel­lek­tu­el­len Bür­den. Erst der „Zau­ber­berg“ ist mit jenem popu­la­ri­täts­un­för­der­li­chen Bal­last beschwert, näher­hin den Dia­lo­gen zwi­schen Naph­ta und Settem­b­ri­ni (die Refle­xio­nen der Haupt­fi­gur Hans Cas­torp über die Zeit, Leben und Tod wird man wohl nicht dazu­rech­nen), in weit stär­ke­rem Maße dann der „Dok­tor Faus­tus“ mit sei­nen zahl­rei­chen musik­theo­re­ti­schen, theo­lo­gi­schen und geschichts­phi­lo­so­phi­schen Pas­sa­gen. Den Gip­fel erreicht die Intel­lek­tua­li­sie­rung im Vor­spiel zur „Josephs“-Tetralogie, der „Höl­len­fahrt“, mit ihren berühmt-pracht­vol­len Eröff­nungs­sät­zen „Tief ist der Brun­nen der Ver­gan­gen­heit. Soll­te man ihn nicht uner­gründ­lich nen­nen?“ Was danach folgt, ist für Erst­le­ser, die weder die Bibel, noch Grund­zü­ge der Geschich­te des Alten Ägyp­tens und Vor­der­asi­ens, noch die alt­ori­en­ta­li­sche Göt­ter­welt ken­nen, eine Zumu­tung. (Las­sen Sie in die­sem Fal­le das Vor­spiel ein­fach weg, man kann es spä­ter immer noch oder über­haupt nicht lesen.)

Fünf­tens gibt es eini­ge poli­ti­sche Vor­be­hal­te gegen Mann. Die Pro­gres­sis­ten neh­men ihm übel, dass er ein Ver­tre­ter und Ver­fech­ter der bür­ger­li­chen und vor allem der deut­schen Hoch­kul­tur und ein wei­ßer Mann ist, die Rech­ten wer­fen ihm vor, dass er sich „dem Wes­ten“ ange­dient und sogar mit dem Kom­mu­nis­mus geflir­tet hat. Der Exi­lant hat nach dem Krieg den Stab über sei­ne in Deutsch­land geblie­be­nen Kol­le­gen gebro­chen; im Offe­nen Brief an Wal­ter von Molo schrieb er: „In mei­nen Augen sind Bücher, die von 1933–1945 in Deutsch­land über­haupt gedruckt wer­den konn­ten, weni­ger als wert­los und nicht gut in die Hand zu neh­men. Ein Geruch von Blut und Schan­de haf­tet ihnen an; sie soll­ten ein­ge­stampft wer­den.“ Das trug ihm die Feind­se­lig­keit vie­ler Autoren der „Inne­ren Emi­gra­ti­on” ein, die dem Flüch­ling vor­hiel­ten, er kön­ne ihre Lage über­haupt nicht beur­tei­len (und bei­de Sei­ten hat­ten recht).

Er habe sich „immer geär­gert, wenn ich den eng­li­schen Sen­der hör­te, eine deut­sche Stadt war wie­der in Flam­men auf­ge­gan­gen, und Tho­mas Mann hielt sei­ne Reden dazu”, erklär­te Ernst Jün­ger vie­le Jah­re nach dem Krieg in einem Inter­view. „Im übri­gen bewun­de­re ich Tho­mas Mann als außer­or­dent­li­chen Sti­lis­ten. Er ist einer der weni­gen, der Ver­ant­wor­tung für die Spra­che zeig­te.” Der so ambi­va­lent Beur­teil­te hat­te Jün­ger zuvor – viel­leicht nicht gera­de sach­lich, aber sti­lis­tisch ein­wand­frei – beschei­nigt, er sei „ein eis­kal­ter Wol­lüst­ling der Bar­ba­rei” gewe­sen, was aber „nichts an sei­ner Bedeu­tung als Autor” ände­re. Sein Deutsch sei jeden­falls viel zu gut für die Nazis gewesen.

Einen sehr spe­zi­el­len Ein­wand gegen den ein­zi­gen Acht­tau­sen­der unter sämt­li­chen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gern mach­te sein spä­te­rer Nach­fol­ger Peter Hand­ke gel­tend – der 2008 den Münch­ner Tho­mas-Mann-Preis ent­ge­gen­nahm, um ihn sogleich als einen „Scheiß­preis“ zu ver­un­glimp­fen –, und zwar sinn­ge­mäß: Jeden Mor­gen habe die­ser Autor sich mit dem Bewusst­sein an den Schreib­tisch gesetzt, Tho­mas Mann zu sein, das sei die Per­spek­ti­ve aller sei­ner Wer­ke, und das sei letzt­lich illi­te­rat. Im Grun­de rich­tet sich die­se Kri­tik gene­rell gegen den aukt­oria­len Erzäh­ler, der all­wis­send und all­se­hend über den Din­gen steht. Sie trä­fe dann bei­spiels­wei­se auch Tol­stoi (wahr­schein­lich muss man sich als Gegen­pol Kaf­ka vor­stel­len). Aukt­oria­ler Erzäh­ler bedeu­tet, in jeden Kopf zu schau­en, auch den von Jesus Chris­tus, Napo­le­on oder Hei­ko Maas. Frag­los kul­mi­nier­te die­se Erzäh­ler­per­spek­ti­ve bei Tho­mas Mann, im „Joseph“ vor allem, und er besaß die Chuz­pe, das sie­ben­te Kapi­tel von „Lot­te in Wei­mar“ in der Ich-Form zu schrei­ben; er trau­te sich gar, mit der mor­gend­li­chen Erek­ti­on des 66jährigen zu begin­nen (Goe­thes Gedicht „Das Tage­buch“ genügt als Lek­tü­re­schlüs­sel), womit er sich als „Stell­ver­tre­ter Goe­thes auf Erden“ (Her­mann Kurz­ke) eta­bliert hatte.

In immer neu­en Anläu­fen und mit einer unglaub­li­chen, sich über Jah­re erstre­cken­den Geduld schrieb Tho­mas Mann sei­ne gro­ßen Roma­ne, Satz für Satz erle­sen gefügt und Wort für Wort in unend­li­cher Prä­zi­si­on zise­liert. Er sei unent­schie­den im Urteil, ob es sich nicht am Ende um „Kunst­hand­werk“ han­de­le, erklär­te mir Eck­hard Hen­scheid ein­mal, das „nur“ zwar aus­las­send, aber impli­zie­rend. Nun ja, und wenn schon, es ist das Hand­werk eines Meis­ters. Ein Bei­spiel aus dem Josephs­ro­man, die Titel­fi­gur erblickt erst­mals die Pyra­mi­den von Gizeh resp. Giza:

„Dort aber, am Ran­de der Wüs­te, sahen die Rei­sen­den, gera­de­aus­bli­ckend, ein ande­res Gebir­ge von Son­der­art sich erhe­ben; eben­mä­ßig-figür­lich gestal­tet, aus Drei­ecks­flä­chen, deren rei­ne Kan­ten in rie­si­ger Schrä­ge zu Spit­zen­punk­ten zusam­men­lie­fen. Es war aber nicht erschaf­fe­nes Gebir­ge, was sie da sahen, son­dern gemach­tes; es waren die gro­ßen Aus­trit­te, von denen die Welt wuß­te und die der Alte dem Joseph ange­zeigt auf der Rei­se, die Grab­mä­ler Chufu’s, Chef­rens und ande­rer Köni­ge der Vor­zeit, errich­tet von hun­dert­tau­send Hus­ten­den unter der Gei­ßel in jahr­zehn­te­lan­ger Fron und hei­li­ger Schin­de­rei aus Mil­lio­nen ton­nen­schwe­rer Bau­klöt­ze, die sie jen­seits in den ara­bi­schen Brü­chen gemetzt und zum Fluß geschleppt, hin­über­ge­schifft und äch­zend wei­ter­ge­schlit­tet bis zum liby­schen Ran­de, wo sie sie mit Hebe­zeu­gen unglaub­lich gehißt und zu Ber­ges­hö­he empor­ge­spitzt hat­ten, fal­lend und ster­bend mit hän­gen­der Zun­ge im Wüs­ten­brand vor über­na­tür­li­cher Anstren­gung, auf daß Gott­kö­nig Chu­fu tief innen dar­un­ter ruhe, durch ein Käm­mer­lein abge­sperrt vom ewi­gen Gewicht sie­ben Mil­lio­nen Ton­nen schwe­rer Stei­ne, ein Mimo­sen­zweig­lein auf sei­nem Herzen.“

Gewiss, das ist Kunst­hand­werk (und, was die fixe Idee hun­dert­tau­sen­der Skla­ven­ar­bei­ter betrifft, über­holt), aber mach’s einer besser.

Alle Roma­ne Tho­mas Manns haben ihre eige­ne Spra­che, einen eige­nen Ton und ein eige­nes Flui­dum, unge­fähr wie die Opern Richard Wag­ners. In jedem ersteht eine in sich geschlos­se­ne Welt, die der Leser förm­lich schme­cken, rie­chen, betas­ten kann, wäh­rend er mit dem Per­so­nal nach einer Wei­le wie mit guten Bekann­ten auf Du und Du steht (sofern ihm nicht die „Klas­sen­schran­ke“ den Weg ver­sperrt): die gesit­te­te und zugleich mor­bi­de Lübe­cker Patri­zi­er­haussphä­re der „Bud­den­brooks“; das nach bour­geoi­sen Tafel­freu­den, künst­li­chem Sau­er­stoff und Kar­bol rie­chen­de Betuch­ten­sa­na­to­ri­um, halb mon­dä­nes Hotel, halb Toten­reich, auf dem Davo­ser „Zau­ber­berg“; das enge, spie­ßi­ge, ver­tratsch­te, aber geis­tig ambi­tio­nier­te, den Über­men­schen in sei­ner Mit­te mit einer Mischung aus Ido­la­trie und Neid betrach­ten­de Wei­mar Goe­thes; die aus der Zei­ten­tie­fe geho­be­ne, von der „Got­tes­sor­ge“ durch­zo­ge­ne alt­ori­en­ta­li­sche Welt des Pen­ta­teuch in der Mensch­heits­dich­tung „Joseph und sei­ne Brü­der“; der düs­te­re, kunst­voll meh­re­re Zeit­ebe­nen, Mit­tel­al­ter und Musik, Gott und Teu­fel, Bür­ger­tum und Nazi­tum, Genia­li­tät und Wahn­sinn ver­bin­den­de, vom Geräusch der Bom­ben­flug­zeu­ge durch­tön­te „Dok­tor Faus­tus“; die bizarr-ödi­pa­le Buße- und Got­tes­gna­den­le­gen­de vom 17 Jah­re auf einem ein­sa­men Fel­sen im Meer über­le­ben­den „Erwähl­ten“; zuletzt die Eulen­spie­ge­lei des Felix Krull, ein Hans Cas­torp von der ande­ren Sei­te der Gesell­schafts­py­ra­mi­de, doch zum ero­ti­schen Wind­beu­tel und damit zum Auf­stieg begabt.

Die Erzäh­lun­gen sind in ihrem lite­ra­ri­schen Wert den Roma­nen durch­aus eben­bür­tig. Wie die Kla­ri­net­ten­fi­gur zu Beginn von Richard Strauss’ „Salo­me“ den Hörer sofort in eine schwü­le ori­en­ta­li­sche Mond­nacht ent­führt, ver­set­zen die ers­ten Sät­ze die­ser Geschich­ten den Leser sofort in eine je eige­ne Atmosphäre:

„Die Amme hat­te die Schuld.“ („Der klei­ne Herr Fried­mann“); „Wir vier waren wie­der ganz unter uns.“ („Gefal­len“); „Nach allem zum Schluß und als wür­di­ger Aus­gang, in der Tat, alles des­sen ist es nun der Ekel, den mir das Leben – mein Leben – den mir ‚alles das‘ und ‚das Gan­ze‘ ein­flößt, die­ser Ekel, der mich würgt, der mich auf­jagt, mich schüt­telt und mich nie­der­wirft, und der mir viel­leicht über kurz oder lang ein­mal die not­wen­di­ge Schwung­kraft geben wird, die gan­ze nichts­wür­di­ge und lächer­li­che Ange­le­gen­heit überm Knie zu zer­bre­chen und mich auf und davon zu machen.“ („Der Bajaz­zo“); „Es gibt Ehen, deren Ent­ste­hung sich die bel­le­tris­tisch geüb­tes­te Phan­ta­sie nicht vor­zu­stel­len ver­mag.“ („Lui­schen“); „Mün­chen leuch­te­te.“ („Gla­di­us Dei“); „Hier ist ‚Ein­fried‘, das Sana­to­ri­um!“ („Tris­tan“); „Selt­sa­me Orte gibt es, selt­sa­me Gehir­ne, selt­sa­me Regio­nen des Geists, hoch und ärm­lich.“ („Beim Pro­phe­ten“); „Die Erin­ne­rung an Tor­re di Vene­re ist atmo­sphä­risch unan­ge­nehm.“ („Mario und der Zau­be­rer“); „Die Geschich­te der schön­hüf­ti­gen Sita, Toch­ter des aus Krie­ger­blut stam­men­den Kuh­züch­ters Sum­an­tra, und ihrer bei­der Gat­ten (wenn man so sagen darf) stellt, blu­tig und sinn­ver­wir­rend, wie sie ist, die höchs­ten Anfor­de­run­gen an die See­len­stär­ke des Lau­schen­den.“ („Die ver­tausch­ten Köp­fe“); „In den zwan­zi­ger Jah­ren unse­res Jahr­hun­derts leb­te in Düs­sel­dorf am Rhein, ver­wit­wet seit mehr als einem Jahr­zehnt, Frau Rosa­lie von Tümm­ler mit ihrer Toch­ter Anna und ihrem Sohn Edu­ard in beque­men, wenn auch nicht üppi­gen Ver­hält­nis­sen.“ („Die Betrogene“).

Wenn wir bei den Erzäh­lun­gen sind: 1912 erschien „Der Tod in Vene­dig”, Manns per­sön­lichs­tes Werk (kann ein Autor mehr von sich preis­ge­ben?). Ein erfolg­rei­cher Schrift­stel­ler in den bes­ten Jah­ren ver­liebt sich in einen Kna­ben, „stalkt” ihn und stirbt an sei­ner Pas­si­on, anstatt die von der Cho­le­ra heim­ge­such­te Lagu­nen­stadt zu ver­las­sen. Die­se zugleich homo­ero­ti­sche und päd­eras­ti­sche Geschich­te erschien unbe­an­stan­det und ohne einen Skan­dal aus­zu­lö­sen, wie sechs Jah­re vor­her auch die erwähn­te „Salo­me” unzen­siert über die Büh­ne gehen konn­te; man stel­le sich ver­gleich­ba­re Ver­stö­ße gegen den Kom­ment heu­te vor! Das angeb­lich stock­kon­ser­va­ti­ve Kai­ser­reich war tat­säch­lich weit libe­ra­ler als das bes­te Deutsch­land, das es je gab.

Tho­mas Mann erhielt den Nobel­preis aus­drück­lich für die „Bud­den­brooks”. Dazu eine Anek­do­te. Wäh­rend eines Besu­ches in der DDR, wo er wie ein Staats­gast emp­fan­gen und über Land chauf­fiert wur­de, stan­den Men­schen am Stra­ßen­rand, die offen­bar Kon­takt zu dem berühm­ten Schrift­stel­ler auf­zu­neh­men wünsch­ten. Die Auto­ko­lon­ne hielt auf Manns Bit­te, er stieg aus, und ihm nah­te ein alter Bau­er, der ein zer­le­se­nes Exem­plar des Fami­li­en­ro­mans in sei­nen rau­en, von lebens­lan­ger Arbeit gezeich­ne­ten Hän­den hielt und um ein Auto­gramm bat.

Wem so etwas wider­fährt, der hat alles erreicht. Zu höhe­ren Ehren kannst du als Autor nicht steigen.

Erwähn­te ich schon in mei­ner heu­ti­gen Hosi­an­na-Stim­mung, dass Tho­mas Mann ein lei­den­schaft­li­cher Rau­cher war?

Jeden­falls ist es Zeit, sub­jek­tiv zu wer­den. Mein Lieb­lings­ro­man von Tho­mas Mann ist der „Joseph”, ich habe ihn zum ers­ten Mal 1985 bei der Natio­na­len Volks­ar­mee und spä­ter eine Zeit­lang ein­mal pro Jahr gele­sen. Unter den Essays mag ich am meis­ten die „Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen”. Gewis­se Kau­sa­li­täts­nar­ren mögen einen Wider­spruch dar­in ent­de­cken: Wie kann jemand auf der einen Sei­te ein reak­tio­nä­res Pam­phlet schät­zen, das der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on zuge­rech­net wird und das der Ver­fas­ser spä­ter selbst ver­wor­fen hat, und auf der ande­ren einen Roman lie­ben, den der damals berühm­tes­te deut­sche Schrift­stel­ler im Exil schrieb, wohin ihn die­je­ni­gen quas­i­ko­n­ser­va­ti­ven Revo­lu­tio­nä­re getrie­ben hat­ten, die gera­de dabei waren, jenes Volk aus­zu­rot­ten, des­sen Ursprungs­my­thos er mit Sym­pa­thie und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen lite­ra­risch ver­mensch­lich­te, ja ver­mensch­heit­lich­te? Nein, das ist kein Wider­spruch. Die Nazis waren kei­ne kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­tio­nä­re, son­dern völ­ki­sche Sozia­lis­ten. Hen­ning von Tre­sc­kow und Graf Stauf­fen­berg waren kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­tio­nä­re. Der Staat Isra­el ist eine kon­ser­va­ti­ve Revolution.

Soll­te ich übri­gens eine Erzäh­lung favo­ri­sie­ren, käme wohl zuerst der „Tris­tan” in Betracht; das Auf­ein­an­der­tref­fen der in ihrer exis­ten­zi­el­len Gegen­stre­big­keit schwer zu über­tref­fen­den Anti­po­den Det­lev Spi­nell – Herr Klö­ter­jahn, hier der welt­frem­de, lebens­un­taug­li­che, kon­flikt­scheue, ver­klemm­te Ästhet, dort der prak­ti­sche, vul­gä­re, gro­bia­ni­sche, aber für­sorg­li­che Geschäfts­mann, ist ein­fach köst­lich geschildert.

Im Josephs­ro­man erreicht Mann sein Höchs­tes als Erzäh­ler und als Psy­cho­lo­ge. Wie er die Zeit vom ers­ten Ein­tref­fen der Brü­der am Hofe Pha­ra­os bis zu dem Augen­blick, an wel­chem Joseph sich ihnen end­lich zu erken­nen gibt, aus­dehnt und aus­kos­tet, wie er die Ahnung in Ben­ja­min, dem Jüngs­ten, auf­stei­gen und schließ­lich gleich­sam explo­die­ren lässt, das hat home­ri­sche Dimen­sio­nen, dafür stan­den Odys­seus und Pene­lo­pe Modell. Wie der Autor sich in die lei­den­de Mut-em-Enet ver­setzt, Poti­phars Weib, „eine ver­häng­nis­vol­le Erschei­nung”, die drei lan­ge Jah­re gegen ihre wach­sen­de Nei­gung zu dem schö­nen hebräi­schen Skla­ven und Haus­mei­er kämpft, bis sie alle Selbst­kon­trol­le ver­liert, das hat wie­der­um Proust’sche Dimen­sio­nen. Tief ist nicht nur der Brun­nen der Ver­gan­gen­heit, tief ist auch der Blick des Erzäh­lers in die Her­zen aller Betei­lig­ten. In jenes des Jaa­kob etwa, des Abra­ham­s­en­kels, der von Eli­phas ver­folgt wird, dem Sohn sei­nes Zwil­lings­bru­ders Esau – der Jüng­ling will sei­nen Vater dafür rächen, dass Jaa­kob sich, obwohl er der zweit­ge­bo­re­ne der Zwil­lin­ge ist, den Erst­ge­burts­se­gen erschli­chen hat –:

„Was nun geschah, war das Kläg­lich-Ehren­rüh­rigs­te, was über­haupt in Jaa­kobs Leben vor­kam, und wäre wohl geeig­net gewe­sen, die Wür­de eines ande­ren Selbst­ge­füh­les auf immer zu unter­gra­ben. Er muß­te, wenn er leben woll­te – und das woll­te er um jeden Preis, nicht aus gewöhn­li­cher Feig­heit, wie ernst­lich erin­nert wer­den soll, son­dern weil er geweiht war, weil auf ihm die von Abra­ham kom­men­de Ver­hei­ßung lag –, er muß­te den zorn­glü­hen­den Kna­ben, sei­nen Nef­fen, den so viel Jün­ge­ren, ihm so sehr Nach­ge­ord­ne­ten, der bereits – und mehr als ein­mal – das Schwert über ihn erhob, durch Fle­hen zu erwei­chen suchen, durch Selbst­er­nied­ri­gung, durch Trä­nen, durch Schmei­che­lei­en, durch win­seln­des Anru­fen sei­ner Groß­mut, durch tau­send Ent­schul­di­gun­gen, mit einem Wort: durch den bün­di­gen Beweis, daß es der Mühe nicht wert war, in ein sol­ches Bün­del Elend das Schwert zu stoßen.“

Die Flucht führt den Segen­s­trä­ger zu sei­nem Schwa­ger Laban, des­sen Ein­füh­rung sehr plas­tisch so anhebt:

„Jaa­kob gewann sogleich höchst zwei­deu­ti­ge Ein­drü­cke von die­sem Oheim. Er trug ein Paar böser Zei­chen zwi­schen den Augen, und das eine die­ser Augen war blin­zelnd zuge­zo­gen, wäh­rend er doch gera­de mit die­sem fast geschlos­se­nen Auge mehr zu sehen schien als mit dem offe­nen. Dazu kam, an der­sel­ben Sei­te, ein aus­ge­spro­chen unter­welt­li­cher Zug um den Mund, ein gelähm­tes Hän­gen des Mund­win­kels im schwarz­grau­en Bart, das einem saue­ren Lächeln ähnel­te und den Jaa­kob eben­falls bedenk­lich anmu­te­te. Übri­gens war Laban ein star­ker Mann, des­sen voll ergrau­tes Haar noch unter dem Nacken­schutz her­vor­quoll, ange­tan mit einem knie­lan­gen Leib­rock, in des­sen Gür­tel eine Gei­ßel und ein Mes­ser steck­ten und des­sen enge Ärmel die ner­vig hoch­ge­äder­ten Unter­ar­me frei­lie­ßen. Sie waren schwarz­grau behaart wie sei­ne mus­ku­lö­sen Schen­kel, und brei­te, war­me, eben­falls behaar­te Hän­de saßen dar­an, die Hän­de eines besit­zer­hal­ten­den, in düs­ter-erd­haf­te Gedan­ken ein­ge­schränk­ten Men­schen, eines rech­ten Erdenklo­ßes, wie Jaa­kob dach­te. Dabei hät­te der Ohm eigent­lich schön sein kön­nen von Ange­sicht mit sei­nen dick auf­lie­gen­den, noch ganz schwar­zen Brau­en, der flei­schi­gen, mit der Stirn in einer Linie ver­lau­fen­den Nase und den vol­len Lip­pen im Bart. Die Augen hat­te Rahel offen­kun­dig von ihm – Jaa­kob stell­te es mit den gemisch­ten Gefüh­len des Wie­der­erken­nens, der Rüh­rung, der Eifer­sucht fest, mit denen man sich über die erb­li­che Her­kunft und Natur­ge­schich­te teu­rer Lebens­er­schei­nun­gen belehrt: eine glück­li­che Beleh­rung, inso­fern sie uns in die Inti­mi­tät sol­cher Erschei­nun­gen drin­gen, uns gleich­sam hin­ter sie kom­men läßt, aber den­noch auch wie­der auf eine gewis­se Wei­se krän­kend, so daß unser Ver­hal­ten zu den Trä­gern sol­cher Vor­bild­lich­kei­ten sich aus Ehr­furcht und Abnei­gung eigen­tüm­lich zusammensetzt.“

Jaa­kob ver­liebt sich bekannt­lich – in die­ser Geschich­te ist ja alles bekannt – in Lab­ans Toch­ter Rahel, doch der Erdenkloß schiebt ihm in der Hoch­zeits­nacht Rahels älte­re Schwes­ter Lea unter. Die­ser Betrug bricht dem Patri­ar­chen in sta­tu nas­cen­di fast das Herz, doch er wird ihm rei­chen Nach­wuchs besche­ren. Dage­gen ver­ge­hen Jah­re, bis ihm Rahel, die Rech­te, end­lich den Joseph schenkt. Das Kern­fa­mi­li­en­glück ist kurz, die Geburt Ben­ja­mins wird die Lieb­li­che das Leben kos­ten. „Gott, was tust du?” fragt Jaa­kob, als Rahel im Ster­ben liegt. „In sol­chen Fäl­len erfolgt kei­ne Ant­wort”, weiß der Erzäh­ler. Den hei­li­gen Satz, der Rahels Tod beschreibt, zitier­te ein Indis­kre­tin vom Spie­gel ein­mal als Beleg dafür, wie gut die­ser Tho­mas Mann schrei­ben konn­te; ich wer­de mich hüten (bei mei­nen spä­te­ren Lek­tü­ren habe ich die­se Stel­le aus­ge­las­sen). Joseph, der Sohn der Rech­ten und Lieb­ling, ist fünf­zehn, als Jaa­kob auch ihn ver­liert, und der Vater wird genö­tigt zu glau­ben, dass der Jun­ge von einem wil­den Tie­re zer­ris­sen wur­de. Der Schmerz lässt ihn zeit­wei­se an sei­nem Gott irre wer­den – bis die Furie der Gewöh­nung ihn abstumpft.

An die­sem Punkt der Geschich­te spricht der all­wis­sen­de Erzäh­ler: „Ach, from­mer Alter! Ahn­test du, welch ein ver­wir­ren­des Belie­ben sich wie­der ein­mal ver­birgt hin­ter dem Schwei­gen dei­nes wun­der­lich-heh­ren Got­tes, und wie unbe­greif­lich-glück­se­lig dir soll die See­le zer­ris­sen wer­den nach Sei­nem Rat! Da du jung warst im Flei­sche, zeig­te dir ein Mor­gen als Trug und Wahn dein innigs­tes Glück. Du wirst sehr alt wer­den müs­sen, um zu erfah­ren, daß, aus­gleichs­hal­ber, Trug und Wahn war auch dein bit­ters­tes Leid.“

Jetzt bin ich ins Zitie­ren ver­fal­len, was bei die­sem For­mu­lie­rungs­künst­ler und Wort­schöp­fer eine gro­ße Ver­su­chung dar­stellt. Tho­mas Mann hat das Copy­right auf zahl­rei­che plas­ti­sche Kom­po­si­ta; mir fal­len spon­tan die Wor­te „Ora­kell­al­ler” (so nennt er scha­ma­ni­sche Weis­sa­ger aus der Josephs­welt), „einen Zug von Edel­hys­te­rie” (den beschei­nigt er den Wag­ner­schen Hero­inen) oder „Mord­wanst” (über Her­mann Göring) ein. Aus der Pro­sa sei noch eine Pas­sa­ge ein­ge­rückt, als Über­lei­tung ins Essay­is­ti­sche, aus der Schluss­sze­ne von „Lot­te in Wei­mar”, in wel­cher Goe­the sei­ne eins­ti­ge Jugend­lie­be Char­lot­te Kest­ner, gebo­re­ne Buff, Wert­hers Lot­te, über­ra­schend mit der Kut­sche abholt und end­lich jenes Zwie­ge­spräch statt­fin­det, das sich beim Abend­essen in Goe­thes Haus am Frau­en­plan nicht erge­ben konn­te, weil noch ande­re Gäs­te anwe­send waren. 44 Jah­re lie­gen zwi­schen Wetz­lar und dem Jetzt des Romans, 44 Jah­re, in denen der Dich­ter zur Welt­be­rühmt­heit empor­ge­wach­sen ist und mit ihm Wert­hers Lot­te auch, wäh­rend ihr Vor­bild ein Aller­welts­le­ben führ­te und nun bereits ein biss­chen mit dem Kopf wackelt, aber ihr Ein­tref­fen in Wei­mar trotz­dem ein gesell­schaft­li­ches Ereig­nis dar­stellt, weil der jun­ge Goe­the in sie ver­liebt war. Char­lot­te macht also die merk­wür­di­ge Erfah­rung, dass sie als lite­ra­ri­sche Gestalt ungleich bekann­ter und bedeu­ten­der ist als in ihrer schlich­ten Wirk­lich­keit. Nicht ohne Groll sagt sie über alle in der Goe­the­schen Flam­me ver­glü­hen­den Aller­welts­men­schen, sich selbst vor allem mit­mei­nend: „Was sind sie denn, als Opfer Dei­ner Grö­ße. Ach, es ist wun­der­voll, ein Opfer brin­gen, jedoch ein bit­tres Los, ein Opfer sein!“

Goe­the ent­geg­net: „Lie­be See­le, laß mich dir innig erwi­dern zum Abschied und zur Ver­söh­nung. Du han­delst vom Opfer, aber damit ist’s ein Geheim­nis und eine gro­ße Ein­heit wie mit Welt, Leben, Per­son und Werk, und Wand­lung ist alles. Den Göt­tern opfer­te man, und zuletzt war das Opfer ein Gott. Du brauch­test ein Gleich­nis, das mir lieb und ver­wandt ist vor allen, und von dem mei­ne See­le beses­sen seit je: das von der Mücke und der töd­lich locken­den Flam­me. Willst du denn, daß ich die­se sei, wor­ein der Fal­ter begie­rig stürzt, bin ich im Wan­del und Aus­tausch der Din­ge die bren­nen­de Ker­ze doch auch, die ihren Leib opfert, damit das Licht leuch­te, bin auch wie­der der trun­ke­ne Schmet­ter­ling, der der Flam­me ver­fällt, – Gleich­nis alles Opfers von Leben und Leib zu geis­tigs­ter Wand­lung. Alte See­le, lie­be, kind­li­che, ich zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt. Einst ver­brann­te ich dir und ver­bren­ne dir all­zeit zu Geist und Licht.“

In sei­nem Goe­the-Essay notiert Mann, das „unge­woll­te, ehr­geiz­lo­se, stil­le und natür­li­che, fast pflan­zen­haf­te Wachs­tum aus unschein­ba­ren Anfän­gen ins All­be­deu­ten­de” sei „das Per­sön­lich-Lie­bens­wer­tes­te an Goe­thes gewal­ti­gem Lebens­werk“. Indes kön­ne „kein Zwei­fel bestehen, daß der ideel­le Glau­be, obgleich er bereit zum Mär­ty­rer­tum sein muß, geis­tig-glück­li­cher macht als jenes in einem hohen und voll­kom­men iro­ni­schen Sinn gesin­nungs- und wer­tungs­los-objek­ti­ve Dich­ter­tum, das alle Din­ge mit der­sel­ben Lie­be und Gleich­gül­tig­keit spie­gelt. Es sind in Goe­the, blickt man genau­er hin, sobald die Unschuld der Jugend­zeit vor­über ist, Züge eines tie­fen Grams und Miß­muts, einer sto­cken­den Unfreu­de, die ohne jeden Zwei­fel mit sei­ner ideel­len Ungläu­big­keit, sei­ner natur­kind­li­chen Indif­fe­renz, mit dem, was er sein Lieb­ha­ber­tum, sei­nen mora­li­schen Dilet­tan­tis­mus nennt, tief und unheim­lich zusam­men­hän­gen. Es gibt da eine eigen­tüm­li­che Käl­te, Bos­heit, Médi­s­ance, eine Blocks­ber­glau­ne und natur­elbi­sche Unbe­re­chen­bar­keit, der man nicht genug nach­hän­gen kann und die man mit­lie­ben muß, wenn man ihn liebt.“ Das ist fein beob­ach­tet und misst neben­her den gewal­ti­gen Raum aus, der sich zwi­schen Bewun­de­rung und Ido­la­trie auftut.

Das­sel­be galt für Tho­mas Manns Ver­hält­nis zu dem ande­ren gro­ßen Voll­ender, der ihn neben Goe­the zeit­le­bens am meis­ten beschäf­tigt hat. „Das Genie Richard Wag­ners setzt sich aus lau­ter Dilet­tan­tis­men zusam­men“, lau­tet der Kern­satz des Essays „Lei­den und Grö­ße Richard Wag­ners”, der den nied­lich­blö­den „Pro­test der Richard-Wag­ner-Stadt Mün­chen” gegen die „Kri­tik wert­be­stän­di­ger deut­scher Geis­tes­rie­sen” nach sich zog und ent­schei­dend zur Exkom­mu­ni­ka­ti­on Manns durch die Natio­nal­so­zia­lis­ten bei­trug. Der Geis­tes­rie­sen­be­schmut­zer hat­te außer­dem geschrie­ben, dass Wag­ners Werk sowohl „eine erup­ti­ve Offen­ba­rung deut­schen Wesens” als auch „eine schau­spie­le­ri­sche Dar­stel­lung davon” sei, deren „Intel­lek­tua­lis­mus und pla­ka­thaf­te Wirk­sam­keit bis zum Gro­tes­ken, bis zum Par­odi­schen geht und bestimmt scheint, ein neu­gie­rig schau­dern­des Welt­pu­bli­kum zu dem Aus­ru­fe hin­zu­rei­ßen: ‚Ah, ça c’est bien alle­man­de, par exemp­le!‘ Die­ses Deutsch­tum also, so wahr und mäch­tig es sei, ist modern gebro­chen und zer­setzt, deko­ra­tiv, ana­ly­tisch, intel­lek­tu­ell, und sei­ne Fas­zi­na­ti­ons­kraft, sei­ne ein­ge­bo­re­ne Fähig­keit zu kos­mo­po­li­ti­scher, zu pla­ne­ta­ri­scher Wir­kung kommt daher. Wag­ners Kunst ist die sen­sa­tio­nells­te Selbst­dar­stel­lung und Selbst­kri­tik deut­schen Wesens, die sich erdenken läßt, sie ist danach ange­tan, selbst einem Esel von Aus­län­der das Deutsch­tum inter­es­sant zu machen.“

Über Wag­ners Libret­ti heißt es: „Rein sprach­lich gese­hen haben sie oft etwas Schwuls­ti­ges und Baro­ckes, auch Kind­li­ches, etwas von groß­ar­ti­ger und selbst­herr­li­cher Unbe­ru­fen­heit – mit Ein­la­ge­run­gen von abso­lu­ter Genia­li­tät, von Kraft, Gedrun­gen­heit, Urschön­heit, die jeden Zwei­fel ent­kräf­ten – und doch das Bewußt­sein nicht aus­lö­schen, daß es sich nicht um Gebil­de han­delt, die inner­halb der Kul­tur der gro­ßen euro­päi­schen Lite­ra­tur und Dich­tung ste­hen, son­dern abseits davon.“ (Etwas von groß­ar­ti­ger und selbst­herr­li­cher Unbe­ru­fen­heit: Das ist glän­zend punktgenau.)

Über den „Par­si­fal”: „Das Kind­li­che mit dem Erha­be­nen zu ver­ei­ni­gen, mag gro­ßer Kunst auch sonst wohl gelun­gen sein; die Ver­ei­ni­gung aber des Mär­chen­treu­her­zi­gen mit dem Aus­ge­pich­ten, der Kunst­griff, das Höchst­ge­is­ti­ge als Orgie des Sin­nen­rau­sches zu ver­wirk­li­chen und ‚popu­lär‘ zu machen, die Fähig­keit, das Tief­gro­tes­ke in Abend­mahls­wei­he und klin­geln­den Wand­lungs­zau­ber zu klei­den, Kunst und Reli­gi­on in einer Geschlechts­oper von größ­ter Gewagt­heit zu ver­kop­peln und der­lei hei­li­ge Künst­le­run­hei­lig­keit mit­ten in Euro­pa als Thea­ter-Lour­des und Wun­der­grot­te für die Glau­bens­lüs­tern­heit einer mor­bi­den Spät­welt auf­zu­tun, – dies alles ist n u r roman­tisch, es ist in der klas­sisch-huma­nen, der eigent­lich vor­neh­men Kunst­sphä­re undenkbar.“

Im Grun­de zitie­re ich das nur, um mei­ne Bemer­kung zu unter­mau­ern, dass die meis­ten Autoren neben ihm wie Men­schen wir­ken, für die der Zugang zum tref­fen­den Wort nicht bar­rie­re­frei ist. Was nun Wag­ner betrifft, mag der Him­mel wis­sen, ob Tho­mas Mann sich bis­wei­len damit schmei­chel­te, dass er, dar­in dem Schöp­fer des „Rings”, der „Meis­ter­sin­ger” oder des „Par­si­fal” glei­chend, ein in täg­li­chen mühe­vol­len klei­nen Schrit­ten arbei­ten­der, gewis­ser­ma­ßen Wabe für Wabe set­zen­der Voll­brin­ger gro­ßen Stils war, dem das Schrei­ben so schwer und sto­ckend von der Hand ging wie dem ande­ren das Kom­po­nie­ren, dem gleich jenem immer alles aus­ufern­der geriet als geplant, der eben­falls eine Tetra­lo­gie schuf, hier der „Ring des Nibe­lun­gen”, dort „Joseph und sei­ne Brü­der”, bei­de Rie­sen­wer­ke jeweils aufs Mythisch-Urgan­ze zie­lend, bei­de ihre Schöp­fer mehr als ein Jahr­zehnt kos­tend, und der, kuri­os genug, eben­falls Wag­ner glei­chend die Arbeit am drit­ten Teil unter­brach, um zur Abwechs­lung und Erho­lung von der XXXL-Fron ein klei­nes, leich­tes, unter­halt­sa­mes Werk zu schaf­fen; bei ihm wur­de es „Lot­te in Wei­mar”, bei Wag­ner der „Tris­tan”. Womit die Gren­zen die­ses Ver­gleichs, den er selbst sicher­lich brüsk zurück­ge­wie­sen hät­te, mar­kiert wären.

Jetzt wird es Zeit, zur Erho­lung der Augen drei Stern­chen zu setzen.

***

Vor­hin nann­te ich die „Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen“ mei­nen Favo­ri­ten. Sie sind ein son­der­ba­res Werk: anrü­chig, sper­rig, ein Buch mit Haut­gout, und als Schrift eines heu­ti­gen Autors wären sie wohl eher ein Fall für den Ver­fas­sungs­schutz als für die Auf­nah­me in eine kom­men­tier­te Werk­aus­ga­be. Bereits die Form ist unge­wöhn­lich. Zu allen Zei­ten haben Roman­ciers Essays geschrie­ben, auch poli­ti­sche – aber einen von 650 Sei­ten? Das ist kein Essay mehr. Zu Leb­zei­ten des berühm­ten Autors haben die 1918 erschie­ne­nen „Betrach­tun­gen” kei­ne ein­zi­ge Über­set­zung erlebt, „mit Recht“ wie er selbst spä­ter notier­te. Für die Tho­mas-Mann-Phi­lo­lo­gie sind sie eine Art ille­gi­ti­mes Kind. Der spä­te­re Hit­ler-Geg­ner und Wan­der­pre­di­ger der Demo­kra­tie schrieb dar­in Sät­ze wie: „Fort also mit dem land­frem­den und absto­ßen­den Schlag­wort demokratisch!“

Eher unge­wöhn­lich auch, dass der Autor für die Nie­der­schrift sei­ner Streit- und Bekennt­nis­schrift, in der er sich für den Obrig­keits­staat und die his­to­ri­sche Son­der­rol­le des Deutsch­tums erklärt, bei­na­he genau­so viel Zeit benö­tig­te, wie er brauch­te, um sich von sei­nen Ansich­ten los­zu­sa­gen. Vier Jah­re nach Kriegs­en­de hielt Mann in Ber­lin die Rede „Von deut­scher Repu­blik“, die all­ge­mein als Bruch mit dem Geist der „Betrach­tun­gen“ gewer­tet wird. Seit­her exis­tiert das Rie­sen­pam­phlet (gemein­sam mit eini­gen klei­ne­ren Essays aus die­ser Zeit, etwa „Gedan­ken im Krie­ge” oder „Fried­rich und die gro­ße Koali­ti­on”) wie ein Fremd­kör­per in sei­nem Gesamt­werk. Frei­lich ist es sti­lis­tisch so glanz­voll, dass allein das ästhe­ti­sche Ver­gnü­gen der Lek­tü­re die Auf­nah­me in den Kanon rechtfertigt.

Der erwähn­te Haut­gout hat denn auch, zumin­dest außer­halb gewis­ser demo­kra­ti­scher Esel­s­zir­kel, weni­ger damit zu tun, dass es sich um ein reak­tio­nä­res Buch han­delt – war­um soll­te ein Autor nicht reak­tio­när sein? -, son­dern damit, dass hier einer daheim am Schreib­tisch pole­mi­siert, sei­ten­lang die Herr­lich­keit des Sol­da­ten­tums und die „Ver­ede­lung des Mensch­li­chen durch den Krieg“ rühmt und sogar davon Mit­tei­lung zu geben weiß, dass Kriegs­blin­de ihr Schick­sal weit bes­ser zu tra­gen ver­stün­den als Tau­be. Das ist mehr als frivol.

Als eine Art sol­da­ti­schen Dienst hat Mann sei­ne Arbeit an dem Bekennt­nis­buch gleich­wohl emp­fun­den. Er war ein­sam wäh­rend des Welt­kriegs, von Freun­den und sei­ner Fami­lie wur­de er poli­tisch eher geschnit­ten. Bru­der Hein­rich, der Deutsch­lands Kriegs­teil­nah­me grund­sätz­lich ablehn­te, hat­te 1915 den Kon­takt zu ihm abge­bro­chen. Als Entente-freund­li­cher „Zivi­li­sa­ti­ons­li­te­rat“ geis­tert der Bru­der durch die Schrift, ihm gel­ten selt­sam aktu­ell wir­ken­de Bemer­kun­gen wie jene, „daß die deut­sche Selbst­kri­tik schnö­der, bös­ar­ti­ger, radi­ka­ler, gehäs­si­ger ist als die jedes ande­ren Vol­kes, eine schnei­dend unge­rech­te Art von Gerech­tig­keit, eine zügel­lo­se, sym­pa­thie­lo­se, lieb­lo­se Her­ab­set­zung des eige­nen Lan­des nebst inbrüns­ti­ger, kri­tik­lo­ser Ver­eh­rung anderer“.
Die „Betrach­tun­gen“ sind ein selbst­ent­blö­ßen­des, selbst­quä­le­ri­sches, gleich­sam mit offe­nem Visier geschrie­be­nes Werk. Durch „unend­li­ches Zitie­ren und Anru­fen star­ker Eides­hel­fer“ sucht der Autor sich die Ver­bün­de­ten, die er in sei­nem Umfeld nicht fin­det: immer wie­der Nietz­sche und Goe­the, Scho­pen­hau­er und Wag­ner, sei­ten­lang Dos­to­jew­ski und Hans Pfitz­ner, natür­lich auch vie­le heu­te ver­ges­se­ne zeit­ge­nös­si­sche Autoren. 2561 mar­kier­te und noch ein­mal andert­halb­tau­send indi­rek­te Zita­te hat der Her­aus­ge­ber der kom­men­tier­ten Aus­ga­be, Her­mann Kurz­ke, als Manns Quel­len ermit­telt, bis in die Tagespresse.

In den zeit­lo­ses­ten Pas­sa­gen spricht Tho­mas Mann als Ver­tre­ter des L’art pour l’art gegen den Geist der Mas­sen­de­mo­kra­tie. „Laßt“, ruft er aus, „jeden Traum des sozia­len Eudä­mo­nis­mus sich erfül­len, die pazi­fi­zier­te Espe­ran­to-Erde Wirk­lich­keit wer­den: Luft­om­ni­bus­se brau­sen über einer weiß­ge­klei­de­ten, ver­nunft­from­men, staat­los-geei­nig­ten, ein­spra­chi­gen, tech­nisch zur letz­ten Sou­ve­rä­ni­tät gelang­ten, elek­trisch fern­se­hen­den Mensch­heit: die Kunst wird noch leben, und sie wird ein Ele­ment der Unsi­cher­heit bil­den, die Mög­lich­keit, Denk­bar­keit des Rück­falls bewahren.“

Im Buch gibt es heu­te als unzu­tref­fend gel­ten­de Pro­phe­zei­un­gen wie jene, dass „der viel­ver­schrieene Obrig­keits­staat die dem deut­schen Vol­ke ange­mes­se­ne, zukömm­li­che und von ihm im Grun­de gewoll­te Staats­form ist und bleibt“ – wer beob­ach­tet, wie ein Groß­teil der aktu­el­len Rest­deut­schen sich für die Impf- und Mas­ken­pflicht enga­gier­te, treu­deutsch den schlei­chen­den Will­kom­mens­sui­zid mit­voll­zieht, der Kli­ma­ret­tungs­dik­ta­tur ent­ge­gen­seufzt und gegen „rechts” kämpft, wird geich­wohl zustim­men –, aber auch unbe­strit­ten zutref­fen­de wie die, dass in „einer Welt­de­mo­kra­tie von deut­schem Wesen nichts übrig­blei­ben wür­de“. Über­haupt lägen „Wert, Wür­de und Reiz aller Natio­nal­kul­tur”, notiert der Unpo­li­ti­sche, „aus­ge­macht in dem, was sie von ande­ren unter­schei­det, denn nur dies eben ist dar­an Kul­tur, zum Unter­schie­de von dem, was allen Natio­nen gemein­sam und nur Zivi­li­sa­ti­on ist“.

Das Gegen­satz­paar  „Kul­tur” ver­sus „Zivi­li­sa­ti­on”, eine der berühm­ten und spä­ter von inter­es­sier­ter Sei­te in den Ruch der NS-Weg­be­rei­tung gebrach­ten „typisch deut­schen” Dicho­to­mien, ist das Leit­mo­tiv des Groß­essays – des­we­gen erhält Bru­der Hein­rich ja den Stem­pel „Zivi­li­sa­ti­ons­li­te­rat”. Der Autor der „Betrach­tun­gen” ruft die Kul­tur­men­schen auf, „der poli­ti­schen Auf­klä­rung geis­tig die Gefolg­schaft zu ver­wei­gern”. Denn: „Ihr öli­ger Edel­mut, ihre selbst­ge­fäl­li­ge Gläu­big­keit wer­den einen sol­chen Men­schen anwi­dern, nicht nur weil er das ‚Glück’, das die­se Auf­klä­rung ver­heißt, als unmög­lich erkennt, son­dern weil es ihm als gar nicht wünsch­bar, als men­schen­un­wür­dig, geist- und kul­tur­wid­rig, kuh­fried­lich-wie­der­käu­er­haft und see­len­los erscheint.“

Heu­te, da, an den Uni­ver­si­tä­ten begin­nend und in den Vor­städ­ten und Pro­blem­be­zir­ken sich fort­set­zend, nach der west­li­chen Kul­tur auch Schritt für Schritt die west­li­che Zivi­li­sa­ti­on abge­räumt wird, ver­liert das ehr­wür­di­ge Gegen­satz­paar, das ein­mal jedem Gebil­de­ten geläu­fig war, sei­nen Sinn und darf sich für den nächs­ten Äon ver­eint zur Ruhe betten.

Es ist die Artil­le­rie sei­ner Spra­che, mit wel­cher sich der unpo­li­ti­sche Betrach­ter zum Kriegs­teil­neh­mer mach­te. Er ficht für das Kai­ser­reich, gegen das der Wes­ten einen „Ver­nich­tungs­kampf“ füh­re, er ver­höhnt die „hoch­her­zi­gen Unter­neh­mun­gen des demo­kra­ti­schen Berei­che­rungs­trie­bes: im Buren­krie­ge, im Opi­um­krie­ge, im spa­nisch-ame­ri­ka­ni­schen Krie­ge“, ihn ekelt, wie „der Mensch­heit Hoch­be­grif­fe, wie Wahr­heit, Gerech­tig­keit, Frei­heit durch die poli­ti­sche Gos­se gezo­gen, miß­braucht, besu­delt, ver­hunzt, ver­heu­chelt und ent­wür­digt wur­den“ und „vor dem Gei­fer, den die­se Wör­ter im Mau­le der demo­kra­ti­schen öffent­li­chen Welt­mei­nung erregten“.

Nach Ansicht von Her­mann Kurz­ke sind „auch die kras­ses­ten Mei­nun­gen des Buches” nichts ande­res als Lite­ra­tur. „Das gan­ze auf­ge­reg­te natio­nal­kon­ser­va­ti­ve Geschrei der Betrach­tun­gen“, so Kurz­ke, sei „eine Rol­le“. Es fragt sich, ob dies auch für den zuwei­len stau­nens­wer­ten Unsinn gilt, den Mann über Sta­lins Sowjet­uni­on und den unaus­weich­li­chen Kom­mu­nis­mus äußer­te; „die gut­mü­ti­gen Rie­sen“ nann­te er etwa anno 1950 Russ­land und die USA. Und war sein Ein­satz gegen Hit­ler­deutsch­land auch nur eine Rol­le? Wer will dar­über ent­schei­den? Frei­lich liegt der Wert alles mit Talent Geschrie­be­nen vor­züg­lich in sei­ner lite­ra­ri­schen Qua­li­tät begrün­det und erst in zwei­ter Linie im Inhalt. Fried­rich Schil­ler, um einen Kron­zeu­gen anzu­ru­fen, hat auf die gerin­ge­re Halb­werts­zeit von Wahr­heits­vor­stel­lun­gen gegen­über jenen von Schön­heit insis­tiert; „Schrif­ten, die einen von ihrem logi­schen Gehalt unab­hän­gi­gen Effekt machen”, erklär­te er für bedeu­ten­der als sol­che, die blo­ße Theo­rien vor­tra­gen. Die­sen Effekt machen die „Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen” immer noch.

Bis heu­te unein­ge­schränkt zutref­fend sind jene Pas­sa­gen der Streit­schrift, in denen Tho­mas Mann sich die Bra­ten­rie­cher des Zeit­geists vor­knöpft. Er nennt sie die „Klei­nen, Nich­ti­gen, Spürn­ä­si­gen, die davon leben, daß sie Bescheid wis­sen und Fähr­te haben, jenes Bedien­ten- und Läu­fer­ge­schmeiß der Zeit, das unter unauf­hör­li­chen Kund­ge­bun­gen der Gering­schät­zung für alle weni­ger Mobi­len und Behen­den dem Neu­en zur Sei­te trabt“ – und schließt bün­dig: „Sie sind nichts.“ Er glau­be nicht, „daß es Wesen und Pflicht des Schrift­stel­lers sei, sich ‚mit Geheul’ der Haupt­rich­tung anzu­schlie­ßen, in der die Kul­tur sich eben fort­be­wegt“, und ihn graust vor dem „schäumende(n) ‚Gerechtigkeits’-Rachen der öffent­li­chen Bestie“.

Um mit mei­nem Lieb­lings­satz zu schlie­ßen: „Bin ich libe­ral, so bin ich es im Sin­ne der Libe­ra­li­tät, nicht des Liberalismus.“

***

Der ers­te Lite­ra­tur­kri­ti­ker, der Tho­mas Mann gro­ßen Erfolg vor­her­sag­te, Samu­el Lub­lin­ski, war Jude. Er pries die „Bud­den­brooks” 1902 im Ber­li­ner Tage­blatt und pro­phe­zei­te dem Roman, dass er zum Klas­si­ker auf­stei­gen und über Gene­ra­tio­nen gele­sen wer­de. Ein Jude war auch Manns gehäs­sigs­ter Geg­ner: Alfred Kerr. Der ver­fass­te unter ande­rem das fol­gen­de Spott­ge­dicht auf „Tho­mas Bodenbruch”.

I.

Als Kna­be war ich schon verknöchert;
Ob knap­per Gaben knurr-ergrimmt.
Hab dann die Lit­tra­tur gelöchert
Mit Bür­ger- und Patrizierzimt.
Sprach immer stolz mit Breite
Von mei­ner Väter Pleite.

II.

Ich dich­te nicht — ich drockse.
Ich träu­me nicht — ich ochse.
Ich las­se Wor­te kriechen,
Die nach der Lam­pe riechen,
Ich leder­nes Kommis’chen.

Ich ken­ne kei­ne Blitze,
Kein Feu­er, das erhitzt.
Ich schrei­be mit dem Sitze,
Auf dem man sitzt.

Im Grund bin ich nicht bös —
Nur skrophulös.

III.

Voll hem­men­der Bedenklichkeit
Und zau­dern­der Entfaltung,
Staf­fier‘ ich mei­ne Kränklichkeit
Als „Hal­tung“.

IV.

Meist hock‘ ich, ein gereiz­tes Lamm.
Musik­los, aber arbeitsam.

Mein Zustand zeugt gehei­me Tücke
(Man ist nicht eben ein Genie) —
Roma­ne wer­den …. Schlüsselstücke:
„Das geht auf Den!“, „Das geht auf Die!“
Ich male zur Genüge
(Ach, müh­sam, tei­gig, tonig)
Die kör­per­lichs­ten Züge —
Mich selbst ver­schon‘ ich …

(…)

VI.

Ein Trost: ich schla­ge den Rekord
Im Gründ­li­chen, Langstieligen,
Ich blei­be nach wie vor ein Hort
Gebil­de­ter Familien.
Sie äußern kei­nen Widerspruch
Und schät­zen Tho­mas Bodenbruch.
Ich bin doch voll und ganz
Die Lust des Mittelstands.

Tho­mas Mann hei­ra­te­te in eine jüdi­sche Fami­lie ein und zeug­te mit sei­ner Frau sechs halachisch-jüdi­sche* Kin­der. Sein Ver­le­ger Samu­el Fischer war Jude. Gleich­wohl blieb auch er nicht von den tren­di­gen und für lite­ra­ri­sche Erken­nungs­dienst­ler offen­bar kar­rie­re­dien­li­chen Anti­se­mi­tis­mus-Anwür­fen ver­schont – die, by the way, nicht mehr en vogue sind, der Kurs­ver­fall der Anti­se­mi­tis­mus-Aktie ist ekla­tant; ich bin gespannt, auf wel­che Unter­stel­lung und Bevöl­ke­rungs­grup­pe sich die­se Schlan­gen­men­schen der Gesin­nungs­kon­trol­le als nächs­tes verlegen.

In sei­ner als Buch ver­öf­fent­lich­ten Magis­ter­ar­beit „Ent­ar­te­te Esprit­ju­den und heroi­sche Zio­nis­ten. Jüdi­scher Nietz­schea­nis­mus in der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Theo­dor Les­sing und Tho­mas Mann” kon­sta­tiert Artur Abra­mo­vych die Uner­gie­big­keit, ja Sinn­lo­sig­keit des Kon­zepts „Lite­ra­ri­scher Anti­se­mi­tis­mus“ (ich habe den Text in den Acta bespro­chen). Statt­des­sen unter­sucht der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler den jüdi­schen Nietz­schea­nis­mus, zu dem wesen­haft die Kri­tik der Assi­mi­la­ti­on als Sym­ptom der déca­dence gehör­te, und die Über­schnei­dun­gen mit dem soge­nann­ten „Lite­ra­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus” sind frap­pie­rend. „Der wohl größ­te deut­sche Dich­ter die­ser Zeit soll auf die­sel­be Art zu Fall gebracht wer­den wie das Kai­ser­reich”, ver­weist Abra­mo­vych auf die ideo­lo­gi­schen Moti­ve der Anti­se­mi­ten­rie­cher. Die eta­blier­te Sekun­där­li­te­ra­tur zu Tho­mas Mann ver­ste­he Anti­se­mi­tis­mus „schlicht­weg als die Emp­fin­dung der Anders­ar­tig­keit von Juden“, stellt der jüdi­sche Magis­ter fest und fragt, war­um die Ent­de­ckung von Anders­ar­tig­keit und Fremd­heit zwangs­läu­fig als nega­tiv zu gel­ten habe. Die Ant­wort weiß nur der Wind der Woke­ness

Um es zu wie­der­ho­len, bis es „sitzt”: Bei die­sen inter­es­sier­ten Nar­ren gilt jede einer jüdi­schen Per­son zuge­schrie­be­ne Beson­der­heit, Eigen­art und Anders­ar­tig­keit als Anti­se­mi­tis­mus, min­des­tens als ein Ver­brei­ten von anti­se­mi­ti­schen Kli­schees, Vor­ur­tei­len, „Ste­reo­ty­pen”, die im erken­nungs­dienst­li­chen Para­de­fall von einem in der sei­ner­zei­ti­gen anti­se­mi­ti­schen Zeit­geist­ma­ri­na­de ein­ge­leg­ten Autor völ­lig auto­ma­tisch und ganz unbe­wusst pro­du­ziert wur­den, unge­fähr so auto­ma­tisch wie zwei Gene­ra­tio­nen spä­ter zufäl­lig in einem ande­ren Zeit­geist mari­nier­te Lite­ra­tur­kund­ler ihre Ermitt­lungs­ak­ten gegen „lite­ra­ri­sche Anti­se­mi­ten” herstellen.

Mer­ke: Anti­se­mi­tis­mus ist so etwas wie die sexu­el­le Beläs­ti­gung der Germanisten.
(Das war ein Selbst­zi­tat. Noch mer­ke ich’s.)

Nur auf eine ein­zi­ge Figur und angeb­li­che Juden­ka­ri­ka­tur in Tho­mas Manns Werk will ich in die­sem Zusam­men­hang ein­ge­hen, den Impre­sa­rio Saul Fit­el­berg aus dem „Dok­tor Faus­tus”. Es ist zuge­ge­ben die­je­ni­ge Gestalt, bei der mich die per­fi­de Prä­sum­ti­on am meis­ten in den Har­nisch zu brin­gen ver­mag, denn ich fin­de Fit­el­berg rüh­rend (kön­nen Kari­ka­tu­ren rüh­ren?); oben­drein lässt sich aus die­sem kur­zen, vir­tu­os geschrie­be­nen Mono­log mehr über die ver­track­te deutsch-jüdi­sche Geschich­te ler­nen als aus sämt­li­chen Ermitt­lungs­ak­ten der lite­ra­ri­schen Antisemitismusdetektoren.

Der Musik­agent Fit­el­berg wird unan­ge­mel­det bei Adri­an Lever­kühn in des­sen Kom­po­nis­ten­klau­se im baye­ri­schen Pfeif­fe­ring vor­stel­lig, stan­des­ge­mäß in einer Limou­si­ne mit Chauf­feur (und von der Wir­tin, wenn ich mich recht ent­sin­ne, als „spin­ner­ter Uhu” ange­kün­digt), um sich dem über die Gren­zen sei­nes Lan­des hin­aus von einem eso­te­ri­schen Ruhm umweh­ten men­schen­scheu­en Ton­set­zer als Mana­ger anzu­die­nen. Äußer­lich wie ein Snob wir­kend, ent­puppt sich die­ser Impre­sa­rio als ein empa­thi­scher, kennt­nis­rei­cher, psy­cho­lo­gisch ver­sier­ter Mann, der tie­fer Ein­bli­cke in die See­le des Kom­po­nis­ten fähig ist, was der Roman sti­lis­tisch so dar­stellt, dass Fit­el­berg alle abweh­ren­den Reak­tio­nen Lever­kühns auf sei­ne Vor­schlä­ge selbst vor­weg­nimmt, so dass die Sze­ne sich als ein ein­zi­ger Mono­log entrollt.

Der unan­ge­mel­de­te Besu­cher stellt sich vor mit den Wor­ten: „Fit­el­berg, das ist ein ekla­tant jüdi­scher Name. Ich habe das Alte Tes­ta­ment im Lei­be, und das ist eine nicht weni­ger ernst­haf­te Sache als das Deutsch­tum – es schafft im Grun­de gerin­ge Dis­po­si­ti­on für die Sphä­re der Val­se bril­lan­te. Zwar ist es ein deut­scher Aber­glau­be, daß es da drau­ßen nur Val­se bril­lan­te gibt und Ernst nur in Deutsch­land. Und doch, man ist als Jude skep­tisch gesinnt gegen die Welt, zuguns­ten des Deutsch­tums, auf die Gefahr hin natür­lich, sich Fuß­trit­te ein­zu­han­deln für sei­ne Nei­gung. Deutsch sein heißt ja vor allem: volks­tüm­lich – und wer glaubt einem Juden Volks­tüm­lich­keit? Nicht nur, daß man sie ihm nicht glaubt, man gibt ihm ein paar über den Schä­del, wenn er die Zudring­lich­keit hat, sich dar­in zu ver­su­chen. Wir Juden haben alles zu fürch­ten vom deut­schen Cha­rak­ter, qui est essen­ti­el­le­ment anti-sémi­tique, – Grund genug für uns natür­lich, uns zur Welt zu hal­ten, der wir Unter­hal­tung und Sen­sa­tio­nen arran­gie­ren, ohne daß das besag­te, daß wir Wind­beu­tel oder auf den Kopf gefal­len sind.“

Als Pars pro toto sei Klaus Harp­p­recht, Ver­fas­ser einer emsig-pedan­ti­schen zwei­bän­di­gen Tho­mas-Mann-Bio­gra­phie, ange­führt, der die­sen Pas­sus zitiert und kom­men­tiert: „So konn­te ein wohl­mei­nen­der Autor – viel­leicht – einen jüdi­schen Erden­bür­ger in den zwan­zi­ger Jah­ren daher­re­den las­sen. Viel­leicht. Doch im Jahr 1946?“

Die nicht beson­ders komi­sche Poin­te ist, dass die Fit­el­berg-Epi­so­de unge­fähr 1929 spielt. Die­se Gou­ver­nan­te von Bio­graph, übri­gens Reden­schrei­ber von Wil­ly Brandt, Mit­ar­bei­ter des ZDF und der Zeit, 2018 ver­stor­ben, ver­lang­te also allen umer­zo­ge­nen Erns­tes, ein Autor möge eine lite­ra­ri­sche Figur der spä­ten 1920er wie einen Men­schen mit dem Kennt­nis­stand von 1946 spre­chen las­sen, damit die lesen­den Klei­nen nicht auf fri­vo­le Gedan­ken kom­men können.

Fit­el­berg fährt fort: „Soll­ten wir Juden, die wir ein pries­ter­li­ches Volk sind, auch wenn wir in Pari­ser Salons minau­die­ren, uns nicht zum Deutsch­tum hin­ge­zo­gen füh­len und uns nicht iro­nisch stim­men las­sen von ihm gegen die Welt und die Kunst für die klei­ne Freun­din? Volks­tüm­lich­keit wäre für uns eine den Pogrom her­aus­for­dern­de Frech­heit. Wir sind inter­na­tio­nal, – aber wir sind pro-deutsch, sind es wie nie­mand sonst in der Welt, schon weil wir gar nicht umhin­kön­nen, die Ver­wandt­schaft der Rol­le von Deutsch­tum und Juden­tum auf Erden wahr­zu­neh­men. Une ana­lo­gie frap­pan­te! Glei­cher­wei­se sind sie ver­haßt, ver­ach­tet, gefürch­tet, benei­det, glei­cher­ma­ßen befrem­den sie und sind befrem­det. Man spricht vom Zeit­al­ter des Natio­na­lis­mus. Aber in Wirk­lich­keit gibt es nur zwei Natio­na­lis­men, den deut­schen und den jüdi­schen, und der aller ande­ren ist Kin­der­spiel dege­gen, – wie das Stock­fran­zo­sen­tum eines Ana­to­le France die rei­ne Mon­dä­ni­tät ist im Ver­gleich mit der deut­schen Ein­sam­keit – und dem jüdi­schen Erwähltheitsdünkel…“

Harp­p­recht kom­men­tiert: „Wie konn­te es ihm wider­fah­ren, da er doch län­ger als ein Jahr­zehnt, dank des ‚Joseph‘, in der Welt des Alten Tes­ta­ments gelebt hat­te, den schwie­ri­gen Aus­er­wählt­heits­glau­ben der Juden mit dem bio­lo­gis­ti­schen Supe­rio­ri­täts­wahn der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ras­sis­ten in einem Atem zu nen­nen: nach den Unge­heu­er­lich­kei­ten, von denen er als einer der ers­ten mit der gebo­te­nen Klar­heit gespro­chen hat­te? Hat­te sei­ne Selbst­kon­trol­le versagt?”

Ver­trau­en ist gut, Kon­trol­le ist bes­ser, summ­te schon der Genos­se Lenin, und noch bes­ser ist die Selbst­kon­trol­le, die bei Sozia­lis­ten dann frei­wil­li­ge Selbst­kon­trol­le heißt. Harp­p­recht setz­te also die „deut­sche Ein­sam­keit” eines Lever­kühn in eins mit dem NS-Ras­sen­dün­kel, und sol­che intel­lek­tu­el­le Leg­asthe­nie ver­sperr­te, oben­drein zwei­bän­dig, Platz in mei­ner Biblio­thek! Nun, das immer­hin ist behoben.

Wie defi­niert sich eigent­lich eine „Kari­ka­tur”? Eine „Per­si­fla­ge”? Ein „Ste­reo­typ”? Bei sehr kal­tem Lich­te bese­hen ist jeder Mensch eine Kari­ka­tur, jedes Leben eine Per­si­fla­ge, jedes Men­schen Ver­hal­ten ein Stell­dich­ein von Ste­reo­ty­pen, und die sind natur­ge­mäß von jenem Kol­lek­tiv geprägt, dem die in Rede ste­hen­de Per­son qua Geburt und Zufall ange­hört. Ein ohne­hin mit dem Stil­mit­tel der iro­ni­schen Distanz arbei­ten­der Autor wie Tho­mas Mann pro­du­ziert ein Per­so­nal, das sich, ob jüdisch oder nicht, in einer gewis­sen Kari­ka­tur- und Per­si­fla­ge­nä­he bewegt, beson­ders was die Neben­fi­gu­ren betrifft. Man kann schwer­lich behaup­ten, dass er die Lübe­cker Gesell­schaft oder das Per­so­nal auf dem Zau­ber­berg oder die deutsch­na­tio­nal-proto­fa­schis­ti­schen Dis­kus­si­ons­zir­kel im „Faus­tus“ nicht genau­so iro­ni­siert habe wie sei­ne jüdi­schen oder jüdisch gele­se­nen Figu­ren. Adri­an Lever­kühn etwa hat zwei glü­hen­de ält­li­che Ver­eh­re­rin­nen, Meta Nacke­dey und Kuni­gun­de Rosen­stiel, eine „kno­chi­ge Jüdin“, und bei­de glei­chen sich in ihrer Kurio­si­tät wie eine Zeit-Redak­teu­rin der ande­ren. Bei Richard Wag­ner ist es ja das­sel­be: Wäh­rend in sei­nen Opern eine Juden­ka­ri­ka­tur nach der ande­ren zuta­ge geför­dert wur­de – getreu­lich der Devi­se fol­gend: Ist jemand im Leben Anti­se­mit, muss er es auch im Werk sein –, über­sa­hen die Ermitt­ler geflis­sent­lich die Arier­ka­ri­ka­tu­ren. Was ist der tum­be Schla­ge­tot Sieg­fried ande­res als eine Kari­ka­tur? Und ver­su­chen Sie mal, Wotan als „Juden“ zu inter­pre­tie­ren: Sofort wür­de er zur Kari­ka­tur! Aber kei­ner der Juden­fahn­der hat bis­lang eine Idee bei­gesteu­ert, wie Wag­ner es, im dra­ma­tur­gi­schen Sin­ne, denn hät­te anders machen sol­len. Oder müssen.

Was Tho­mas Mann angeht, könn­te man ihm die per­ma­nen­te Iro­ni­sie­rung als Hoch­mut und Anma­ßung vor­wer­fen, doch der aukt­oria­le Erzäh­ler ist eben der am meis­ten gott­ähn­li­che, und aus der Sicht Got­tes ist jeder Mensch ein biss­chen lächer­lich (zugleich aber auch rüh­rend; unter­schla­gen wir nicht die Sym­pa­thien, die Tho­mas Mann sei­nem Per­so­nal zugleich ent­ge­gen­bringt). Die meis­ten sei­ner Cha­rak­te­re behan­delt er als fehl­ba­re, unfrei­wil­lig komi­sche Men­schen­we­sen, die Gott wahr­schein­lich nur des­halb geschaf­fen hat, weil er sich in sei­ner schöp­fer­li­chen Ein­sam­keit ein biss­chen amü­sie­ren möch­te. Hel­den fin­den sich in Tho­mas Manns Wer­ken nicht – aller­dings auch kei­ne wirk­li­chen Schur­ken; höher als das gemüts­ver­schat­tet-teu­fels­bün­de­ri­sche Genie Adri­an Lever­kühn steigt, tie­fer als der Eheer­schlei­cher Bene­dikt Grün­lich in den „Bud­den­brooks“ sinkt kei­ne sei­ner Figu­ren. Dass Mann bei alle­dem wenig Nei­gung zur Selbst­iro­nie, aber des­to mehr zur Selbst­sti­li­sie­rung zeig­te, wür­de wie­der in das unin­ter­es­san­te Pri­vat­le­ben eines mei­net­hal­ben unsym­pa­thi­schen Autors füh­ren. Bemer­kens­wer­ter­wei­se hat er sei­ne dich­ter­fürst­li­che Selbst­in­sze­nie­rung mit der von ihm ver­füg­ten pos­tu­men Ver­öf­fent­li­chung sei­ner Tage­bü­cher voll­kom­men über den Hau­fen gewor­fen. Ob man dort auch „Anti­se­mi­ti­sches” gefun­den hat, ist mei­ner Auf­merk­sam­keit ent­gan­gen; ich bin geneigt zu sagen: gottlob.

Gern her­bei­ge­stemmt wird in die­sem Zusam­men­hang eine Äuße­rung Tho­mas Manns aus dem Jahr 1918: „Bei uns ist der Mit­re­gent ein schmie­ri­ger Lite­ra­tur­schie­ber wie Her­zog, der sich durch Jah­re von einer Kino-Diva aus­hal­ten ließ, ein Geld­ma­cher und Geschäfts­mann im Geist, von der groß­städ­ti­schen Schei­ße­le­ganz des Juden­ben­gels, der nur in der Ode­on­bar zu Mit­tag aß, aber Ceconi’s Rech­nung für die teil­wei­se Aus­bes­se­rung sei­nes Kloa­ken­ge­bis­ses nicht bezahl­te. Das ist die Revo­lu­ti­on! Es han­delt sich so gut wie aus­schließ­lich um Juden.”

Tja, so war es wohl. Kann, übri­gens, auch ein unge­stell­tes Foto anti­se­mi­tisch sein?

Ent­schei­dend und die Fra­ge nach Manns „lite­ra­ri­schem Anti­se­mi­tis­mus” vom Tisch wischend ist die Tat­sa­che, dass in jener Zeit, da in Deutsch­land die Ver­nich­tung der Juden beschlos­sen und in einem erschre­cken­den Aus­maß exe­ku­tiert wur­de, der bedeu­tends­te leben­de deut­sche Autor im Exil sei­nen größ­ten, innigs­ten, am meis­ten mit sei­nem Gegen­stand sym­pa­thi­sie­ren­den Roman über die Ent­ste­hung des Juden­tums schrieb. Als die Natio­nal­so­zia­lis­ten dem Juden­tum das Ende berei­ten woll­ten, rief Tho­mas Mann es lite­ra­risch ins Leben.

***

Den Unter­stel­lun­gen von Kon­junk­tur­rit­tern des Zeit­geis­tes – wel­ches Zeit­geis­tes auch immer – gebührt nicht das letz­te Wort, und auch nicht einer Replik dar­auf. Der Dich­ter selbst möge es haben:

(Aus: „Mei­ne Arbeits­wei­se“, Essays Band 3, 1919–1925.)

* Nicht halachisch-jüdisch, belehrt mich Freund ***, denn die Urgroß­mutter von Katia Mann und Mut­ter von Hed­wig Dohm war kei­ne Jüdin. (Ein Jude, aber eben­falls kein halachi­scher war, am anti­se­mi­ti­schen Ran­de bemerkt, der Mör­der von Kurt Eisner.)

PS: „Zu der Sze­ne mit dem Bau­ern, dem Mann begeg­ne­te”, sen­det Freund *** „noch eine klei­ne Fuß­no­te: Mein Groß­va­ter war zwar kein Bau­er, aber Werks­elek­tri­ker (bei Agfa), und in sei­nem Bücher­schrank stand ‚Bud­den­brooks’, die soge­nann­te Nobel­preis-Aus­ga­be. Der Groß­va­ter war zwar NSDAP-Mit­glied, das Buch blieb aber auch nach 1933 im Schrank. Heu­te steht es in mei­nem Regal. Ver­mut­lich hat­te mein Groß­va­ter die soge­nann­te Klas­sen­schran­ke – eher eine Klas­sen­mar­kie­rung – in dem Roman wahr­ge­nom­men, aller­dings mit Inter­es­se. Er pfleg­te näm­lich sonn­tags mit einem guten Man­tel mit Pelz­kra­gen aus­zu­ge­hen, in dem er aus­sah wie der Herr Fabrik­di­rek­tor. Mann wur­de tat­säch­lich quer durch die sozia­len Schich­ten gele­sen, jeden­falls zu einer Zeit, als sich vie­le Arbei­ter und Bau­ern kul­tu­rell nach oben ori­en­tier­ten. Und auf der ande­ren Sei­te kam TM zwar aus einer groß­bür­ger­li­chen Welt, schrieb aber ohne jeden Dün­kel über das Dienst­per­so­nal und Arbei­ter. Ida Jung­mann in ‚Bud­den­brooks’ ist nicht weni­ger lie­be­voll gezeich­net als der Unter­neh­mer Alo­is Per­ma­ne­der; zu den Arbei­tern, die er in lübi­schem Platt die Wahl Tho­mas Bud­den­brooks zum Sena­tor kom­men­tie­ren lässt, gibt es kei­ne Her­ab­las­sung. Das war bei dem soge­nann­ten Arbei­ter­dich­ter Kurt Bartel (Kuba) schon ganz anders.”

 

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