15. August 2023

Michel Hou­el­le­becq ist einer der frei­es­ten Köp­fe und bedeu­tends­ten Schrift­stel­ler der Gegen­wart, wobei ich ihn weni­ger im sti­lis­ti­schen, arti­fi­zi­el­len Sin­ne, son­dern als lite­ra­ri­schen Seis­mo­gra­phen mei­nes Epöch­leins ver­eh­re (aus­führ­lich dazu hier). Ich habe von ihm so gut wie jede Zei­le gele­sen, und ich wer­de dies wei­ter tun, was auch immer er ver­öf­fent­licht. Zuletzt hat­te der Fran­zo­se ange­kün­digt, der Roman „Ver­nich­ten” wer­de sein letz­ter sein (die fina­len Dank­sa­gun­gen enden denn auch mit dem Satz: „Für mich ist es Zeit, auf­zu­hö­ren”), und man weiß nicht recht, was danach noch kom­men soll­te. Die Fra­ge, ob sich die­ses Auf­hö­ren ledig­lich aufs bel­le­tris­ti­sche Gen­re erstreckt, ist durch sein neu­es­tes Opus „Eini­ge Mona­te in mei­nem Leben“ beant­wor­tet: Es sind tage­buch­ar­ti­ge Auf­zeich­nun­gen, die sich über ein hal­bes Jahr erstre­cken, wobei ein Vor­fall so sehr im Mit­tel­punkt steht, dass es ohne ihn das gan­ze Buch nicht gäbe; das Dia­ris­ti­sche ist nur Vor­wand und Verpackung.

Was die­ses Ereig­nis betrifft, bie­tet es eini­gen Anlass, an Hou­el­le­becqs Zurech­nungs­fä­hig­keit im geschäft­li­chen und medi­en­öko­no­mi­schen Sin­ne zu zwei­feln. Es han­delt sich um einen durch die Öffent­lich­keit geis­tern­den „Por­no” mit lai­en­dar­stel­le­ri­scher Betei­li­gung des Autors, dem momen­tan, wie man sagt, ein juris­ti­sches Nach­spiel folgt. Der in medi­en­ty­pi­scher Echo­la­lie immer wie­der als „Pro­vo­ka­teur” und „Skan­dal­au­tor” beschrie­be­ne und als ras­sis­tisch, sexis­tisch und reak­tio­när eti­ket­tier­te Schrift­stel­ler ist einem lin­ken nie­der­län­di­schen soge­nann­ten „Künst­ler­kol­lek­tiv” namens „Kirac” („Kee­ping it Real Art Cri­tics”) auf den Leim gegan­gen, „das sich”, fin­det die taz, „in guter alter Pro­vo­tra­di­ti­on als Sand im Kunst­be­triebs­ge­trie­be ver­stan­den wis­sen möch­te”. Der Genepp­te beschreibt die Moti­ve der unap­pe­tit­li­chen Trup­pe weit tref­fen­der: Deren „Tech­nik” bestün­de dar­in, „das bestehen­de künst­le­ri­sche Milieu zu ver­un­glimp­fen, ja zu belei­di­gen, mit dem Ziel, sich einen Platz dar­in zu ver­schaf­fen”. War­um ein berühm­ter Autor auf sol­che Lemu­ren her­ein­fiel und sich von ihnen beim Sex fil­men ließ, bleibt ein obs­zö­nes Rät­sel; ich ver­mu­te eine Kom­bi­na­ti­on aus mut­wil­li­ger Welt­fremd­heit und luzi­fe­ri­scher Hybris, befeu­ert von Alko­hol und Dro­gen, aber was weiß ich schon.

Kurz­um, der soge­nann­te Star­au­tor geht in die Fal­le, hält die Mädels, die sich dabei fil­men las­sen wol­len, wenn er sie vögelt, für „recht­schaf­fe­ne Exhi­bi­tio­nis­tin­nen“, unter­zeich­net in wohl nicht gera­de nüch­ter­nem Zustand einen Film­ver­trag, in dem er sei­ne Per­sön­lich­keits­rech­te an die Pro­du­zen­ten abtritt, und wun­dert sich spä­ter über das Resul­tat. Bezie­hungs­wei­se, in sei­nen eige­nen Wor­ten, über die „uner­mess­li­che und selbst­mör­de­ri­sche Dumm­heit, die das männ­li­che Geschlecht bei sämt­li­chen Tier­ar­ten – natür­lich auch der mensch­li­chen – mit­un­ter an den Tag legt, wenn es um die Ver­tei­lung sei­nes Sper­mas geht“.

Die Namen der Honig­fal­len­stel­ler fin­det man in den Medi­en, im Buch erhal­ten sie Ali­as­na­men: Der Draht­zie­her und Fil­mer ist der „Kaker­lak”, sei­ne bei­den Kopu­la­ti­ons­dienst­leis­te­rin­nen, die dem Autor angeb­lich als Fans bzw. als angeb­li­che Fans ver­kauft wur­den, hei­ßen „die Sau” und „die Pute” – „die Sau wünsch­te, dass unse­re sexu­el­le Begeg­nung vom Kaker­lak gefilmt wur­de, um ihren Only­fans-Account mit Mate­ri­al zu ver­sor­gen” –; zuletzt zün­gelt noch eine „Viper” ins Gesche­hen. Deren Beschrei­bung hören wir uns jetzt zur Gän­ze an (mich frag­te eine Lese­rin, ob ich die zitier­ten Pas­sa­gen immer abtip­pe; nein, ich dik­tie­re sie in mein Hän­di, mai­le sie mir und kor­ri­gie­re die drol­li­gen Feh­ler – etwa „dau­er­ir­ri­tiert” statt „dau­er­eri­giert” – des Aufnahmeprogramms *):

„Nie­de­re und trau­ri­ge Viper; dem Kaker­lak intel­lek­tu­ell über­le­gen, war sie ihm kör­per­lich zum Opfer gefal­len, sie wie­der­hol­te aus der Fer­ne das Schick­sal der Frau­en, die das Pech hat­ten, Pablo Picas­so über den Weg zu lau­fen – nur auf schä­bi­ge­re Wei­se, denn die moder­ne Welt stand ohne­hin vor dem Aus und konn­te nur noch Lum­pen ohne gro­ßen Belang beher­ber­gen. Im Anschluss an den Ers­ten Welt­krieg konn­te ein dau­er­eri­gier­ter Kre­tin noch die Kunst­welt erobern, vor­aus­ge­setzt, sei­ne See­le war häss­lich und aktiv genug. Picas­so ver­zerr­te Din­ge und vor allem Wesen zur Häss­lich­keit hin, weil sei­ne See­le häss­lich ist; und genau das brauch­te das 20. Jahr­hun­dert, um wirk­lich zu begin­nen. Picas­so stellt die Lust des dau­er­eri­gier­ten Kre­tins, die viel eher auf dem Bösen als auf Sex basiert, über alles ande­re. Er könn­te ein Gegen­stück zu de Sade im 20. Jahr­hun­dert ver­kör­pern, in ihm kommt die glei­che Grau­sam­keit zum Aus­druck, nur mit dem Unter­schied, dass Picas­so ein ganz spe­zi­fi­sches Talent zum Quä­len von Frau­en ent­wi­ckelt. De Sade ver­ach­te­te die Welt und woll­te sie zer­stö­ren, auf die Ziel­set­zun­gen hät­te ich mich zur Not mit ihm eini­gen kön­nen, nicht jedoch auf die Mit­tel, und die Mit­tel sind essen­zi­ell – Tol­stois sind respek­ta­bel, de Sades wider­wär­tig. Auch ohne aus­führ­li­che Recher­chen anstren­gen zu müs­sen, lehrt uns eine kur­ze Goog­le-Suche, dass der dau­er­eri­gier­te Kre­tin aus Spa­ni­en die Frau­en in Prin­zes­sin­nen und Fuß­ab­strei­fer unter­teil­te; sobald er sie gevö­gelt hat­te, wur­de die Prin­zes­sin zum Fuß­ab­strei­fer und zum Opfer sei­ner natür­li­chen Grau­sam­keit. Der Kaker­lak hat­te die Viper gevö­gelt, er hat­te sie geschwän­gert und es sich in ihrer Woh­nung bequem gemacht, so konn­te er ihr die täg­li­che Gegen­wart sei­nes Schwan­zes auf­bür­den, ohne dar­auf zu ver­zich­ten, sie auch so oft wie mög­lich zu ernied­ri­gen, indem er sie nötig­te, dabei zuzu­se­hen, wie er sich das Organ lut­schen ließ, ins­be­son­de­re von der Sau. Dass die Viper einen all­ge­mei­nen Hass auf Schwän­ze ent­wi­ckel­te, über­rascht daher nicht.”
Da die­se Frau auf eine für den Leser nicht recht nach­voll­zieh­ba­re Wei­se die ästhe­ti­sche Qua­li­tät der Auf­nah­men beein­flus­sen soll, mani­fes­tie­re sich ihr Hass auf die männ­li­che Sexua­li­tät in den Fil­men der Trup­pe, ja er ver­kör­pe­re deren eigent­li­ches Motiv. Die „Kirac”-Produkte sei­en genau das Gegen­teil von dem, was sie vor­täusch­ten: „Aus­ge­hend vom Prin­zip der Ver­herr­li­chung des Phal­lus, mün­de­te das Gan­ze in der Abscheu vor allen nor­ma­len Arten der Sexua­li­tät.” Beim Anschau­en weni­ger Minu­ten eines Vor­gän­ger­fil­mes, bei dem ein – wie­der­um „rech­ter” – nie­der­län­di­scher Autor vor­ge­führt wur­de, beschlich Hou­el­le­becq „zum ers­ten Mal im Leben das Gefühl, Sexua­li­tät habe etwas Schmut­zi­ges an sich; die Sexua­li­tät an sich, jen­seits von allem Absei­ti­gen”. Als er dann sich selbst sah, wur­de ihm ganz blü­mer­ant zumu­te; „bei dem Gedan­ken, die­se Auf­nah­men könn­ten gegen mei­nen Wil­len ver­brei­tet wer­den, ver­spür­te ich zum ers­ten Mal etwas, was mir den Schil­de­run­gen von Frau­en zu ähneln schien, die Opfer einer Ver­ge­wal­ti­gung wur­den. Zunächst ein schmerz­haf­tes Gefühl der Ent­eig­nung des eige­nen Kör­pers, eine dump­fe Feind­se­lig­keit ihm gegen­über, das Bedürf­nis, ihn zu bestra­fen. Ich konn­te mich nicht mehr waschen, mein Alko­hol- und Tabak­kon­sum war stark gestie­gen, ich wies sogar eini­ge Sym­pto­me von Buli­mie auf, kurz­um, ich tat mein Bes­tes, um mich zu zerstören.”

Gérard Depar­dieu und Ber­nard-Hen­ri Levy hät­ten ihn ermu­tigt, gegen „Kirac” zu pro­zes­sie­ren. Auf­grund des von ihm unter­schrie­be­nen Ver­trags (der voll­stän­dig im Buch abge­druckt ist) schei­nen die Chan­cen des Autors, den Film ein­zu­kas­sie­ren, nicht beson­ders groß zu sein. Egal wie der Rechts­streit aus­geht, die Bil­der sind in der Welt, und Michel ist in den Honig­brun­nen gefal­len. Dort stellt er eini­ge Betrach­tun­gen an, nicht ganz so fun­da­men­ta­le und daseins­um­stül­pen­de wie der Tho­mas Mann’sche Joseph wäh­rend sei­nes drei­tä­gi­gen unfrei­wil­li­gen Brun­nen­auf­ent­hal­tes, doch inter­es­sant sind sie allemal.

Zunächst sin­niert er über die Scham, ein Gefühl, das er eigent­lich für über­flüs­sig hält, zumin­dest in Bezug auf alles Sexu­el­le – was sei­ne Bereit­schaft zu die­sen absur­den Dreh­ar­bei­ten nicht unbe­dingt erklärt, aber irgend­wie illus­triert. Nun auf ein­mal ist es da, das ent­behr­li­che Gefühl; zwei­mal zitiert Hou­el­le­becq den letz­ten Satz aus Kaf­kas „Pro­zeß”, und er staunt dar­über, dass Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fer, die an ihrem Geschick kei­ner­lei Schuld haben, Scham emp­fin­den (was mir nur zu begreif­lich ist, weil für mei­ne Begrif­fe Schuld und Scham nicht beson­ders eng zusam­men­hän­gen). Die Schi­zo­phre­nie der gesam­ten Kon­stel­la­ti­on bezeugt der Pas­sus, in dem der „Skan­dal­au­tor” für Zeit­ge­nos­sen, die Ama­teur­por­nos ver­öf­fent­li­chen, ein „völ­li­ges Unver­ständ­nis” bekun­det: „Mir fällt es schon schwer zu begrei­fen, dass Men­schen ihre Urlaubs­fo­tos in sozia­len Netz­wer­ken pos­ten. Aber inti­me Auf­nah­men?” Und dann steigt er selbst für das alte Rein-raus-Spiel in die Bütt? Aber warum?

Trotz sei­nes Unver­ständ­nis­ses habe er in die­ser Zur­schau­stel­lung „etwas Bewun­derns­wer­tes” gese­hen, „auf­grund des Mutes, den es erfor­der­te, der völ­li­gen Gleich­gül­tig­keit gegen­über gesell­schaft­li­chen Nor­men, die sich dar­in offen­bar­te, gepaart mit dem Umstand, dass sie letzt­lich recht hat­ten, dass die Sexua­li­tät in ihrem Ursprung kei­ner­lei Ver­bin­dung zum Bösen hat­te; ich sah sogar einen Akt der Groß­zü­gig­keit dar­in, des­sen Unmo­ti­viert­heit mich beeindruckte.”

Hier tren­nen sich unse­re Ansich­ten; ich hal­te Men­schen, die ihren pri­va­ten Fick, sit venia ver­bo, fil­men und ins Netz stel­len, kei­nes­wegs für groß­zü­gig, son­dern für schwach­sinns­nah obs­zön. Und natür­lich grün­det das Böse (auch, viel­leicht sogar vor allem) im Sexu­el­len, die Ver­ge­wal­ti­gung etwa ist struk­tu­rell dort ange­legt, sozu­sa­gen evo­lu­ti­ons­ge­wollt, der Eifer­suchts­mord des­glei­chen. Wie soll­te es auch in Rein­heit zu haben sein, das größ­te Ver­gnü­gen, das die Natur ihren Geschöp­fen ermög­licht, um die nächs­te Gene­ra­ti­on ins Dasein zu rufen?

Bekannt­lich hat der Mensch die Ver­bin­dung zwi­schen Lust und Zeu­gung gekappt, Freund Hou­el­le­becq als typi­scher Déca­dent ist kin­der­los, und die gele­gent­li­che Ver­ab­so­lu­tie­rung des Sexu­el­len zu einer Art Theo­di­zee in sei­nen Büchern bekommt dadurch für mich etwas absto­ßend Dege­ne­rier­tes, wie ich es auch absto­ßend fin­de, ab einem gewis­sen Alter noch sei­nen Kör­per zur Schau zu stel­len; ich mei­ne über­haupt, man soll­te jeden Scham­rest, der sich in den Köp­fen der dege­ne­rier­ten West­ler fin­det, wie eine Kost­bar­keit hegen. Schließ­lich gehö­ren Scham und Zivi­li­sa­ti­on zusam­men. Gleich­sam als List der Ver­nunft („Ver­nunft” im hegel­schen Sin­ne; ich glau­be an nichts der­glei­chen) hat die Epo­che der sexu­el­len Ent­hem­mung eine der Prü­de­rie aus­ge­löst, das Pen­del schlägt in die ande­re Rich­tung, teils als Fol­ge des femi­nis­ti­schen Gene­ral­ver­dachts gegen den Mann an sich, teils als Back­lash des Reli­giö­sen, vor allem durch die mäh­li­che Isla­mi­sie­rung West­eu­ro­pas, und da sich vor allem Kon­ser­va­ti­ve und Mos­lems fort­pflan­zen, gehen wir wohl – lei­der – ver­klemm­ten und – gott­lob – weni­ger obs­zö­nen Zei­ten ent­ge­gen. Hou­el­le­becq nennt es „jene gewal­ti­ge Bewe­gung in Rich­tung Ase­xua­li­tät, die den Beginn des 21. Jahr­hun­derts kenn­zeich­net, die Flut­wel­le, die die Moder­ne über den schlich­ten Umweg der demo­gra­phi­schen Aus­lö­schung dem Ruin ent­ge­gen­spül­te“. Er ist der reprä­sen­ta­ti­ve Autor der Aus­ster­ben­den, das hat er selbst oft genug betont.

Er habe, schreibt Hou­el­le­becq, „die Auf­klä­rung nie gemocht, die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on rief zuneh­men­de Abscheu in mir vor, ich war wei­ter­hin über­zeugt, dass eine Gesell­schaft auf Dau­er ohne Reli­gi­on nicht mög­lich und erst recht nicht wün­schens­wert ist.“ Ob und wor­an Mon­sieur Hou­el­le­becq, der sich zwi­schen­zeit­lich zum Katho­li­zis­mus bekehrt zu haben schien, nun­mehr aber erklärt, sein Ver­hält­nis zum Chris­ten­tum sei „nie schlech­ter gewe­sen”, tat­säch­lich glaubt, geht in der Wirr­nis dia­ris­ti­scher Augen­blicks­ein­ge­bun­gen unter: „Ich glau­be nicht an Ideen; ich glau­be an Men­schen” (Sei­te 79). „Ich glau­be nicht stär­ker an die Mate­rie als an den Geist” (Sei­te 103). „Ich glau­be an Mess­ge­rä­te, an Ergeb­nis­se, die auf den Ska­len die­ser Gerä­te ange­zeigt wer­den, und an mathe­ma­ti­sche Bezie­hun­gen, die sich zwi­schen die­sen Ergeb­nis­sen her­stel­len las­sen” (Sei­te 104).

Nun, Strin­genz und Logik sind genau­so Glau­bens­din­ge wie Gott oder die Men­schen­ge­macht­heit des Kli­ma­wan­dels, also, bis zur Aus­ru­fung irgend­ei­ner Logo‑, Theo- oder Kli­ma­to­kra­tie, Pri­vat­sa­che. Als Pri­vat­mensch ist Frank­reichs größ­ter leben­der Autor immer ein ent­zü­cken­der Solip­sist gewe­sen, sogar dann, wenn er nolens volens einen Por­no ver­öf­fent­licht hat. Mei­ne Lieb­lings­an­ek­do­te mit Houellebecq’scher Betei­li­gung spielt auf Bere Island in West Cork (Irland), wo ihn eine Jour­na­lis­tin in sei­nem Haus besuch­te und sich wäh­rend des Gesprächs erkun­dig­te, ob gera­de Ebbe oder Flut sei. Die Ant­wort ist es wert, in Erz gegra­ben zu wer­den: Ja, da bewe­ge sich etwas, aber er zie­he die Vor­hän­ge zu.

Sou­ve­rän ist, wer dar­über ent­schei­det, was er zur Kennt­nis nimmt und was nicht. Etwa: „Aus der COVID-Kri­se habe ich mich nach den ers­ten drei Mona­ten aus­ge­klinkt, ich konn­te die rund um die Uhr lau­fen­de Son­der­sen­dung zu die­ser unin­ter­es­san­ten Pan­de­mie nicht mehr ertragen.”

Oder: „Bei dem Klein­krieg vor eini­gen Jah­ren, der mit der Anne­xi­on der Krim ende­te, war ich völ­lig über­rascht, ich hat­te geglaubt, die Ukrai­ne und die Krim wür­den noch zu Russ­land gehö­ren; bei der glei­chen Gele­gen­heit erfuhr ich von der Exis­tenz der bal­ti­schen Staa­ten. Gewis­se Aus­wir­kun­gen des Zusam­men­bruchs der UdSSR waren mir also entgangen.”

Oder aber: „Mein Ver­hält­nis zum fran­zö­si­schen Jour­na­lis­mus begann, wie ich gegen mei­nen Wil­len fest­stel­len muss­te, ins rein Juris­ti­sche abzudriften.”

Der Leser mit einem Fai­ble für die Ver­wei­ge­rung von Fort­schritts­dienst und gesell­schaft­li­cher Mit­wir­kung kommt auch in die­sen Noti­zen wie­der auf sei­ne Kos­ten. Und jener mit einer Aver­si­on gegen links selbst­ver­ständ­lich auch: „Die Pro­le­ta­ri­er hat­ten vom Mar­xis­mus nur eine ein­zi­ge Sache ange­nom­men, im Übri­gen die ein­zig rich­ti­ge, dass sie näm­lich die wah­ren Erzeu­ger und recht­mä­ßi­gen Besit­zer der Güter der Erde waren. Die lin­ken Par­tei­en hat­ten die Auf­ga­be, ihnen zu die­nen, und nicht umge­kehrt. Wirk­ten sie bei irgend­ei­nem The­ma, wie bei­spiels­wei­se der Ein­wan­de­rung, dem Wunsch des Vol­kes ent­ge­gen, ver­lo­ren Sie augen­blick­lich ihre Berechtigung.“

„Gan­ze Bevöl­ke­rungs­grup­pen zu zwin­gen, sich Neu­an­kömm­lin­ge ein­zu­ver­lei­ben, die sie mit zuneh­men­der Hef­tig­keit ablehn­ten, erin­ner­te mich ent­fernt an das Stop­fen von Gän­sen und erschien mir mit­tel­fris­tig unmög­lich, ja sogar selbst­mör­de­risch, man kann ein Volk nicht ewig gegen sei­nen Wil­len regie­ren, selbst Machia­vel­li hät­te mir da nicht widersprochen.“

Des­we­gen soll es ja kein Volk mehr geben, Mon­sieur H.! Mais nous verrons.

* „Ich ver­mu­te, dass Ihnen die­ser etwas umständ­li­che Weg ein­fach Freu­de berei­tet; soll­te dem nicht so sein, möch­te ich Sie auf einen etwas ein­fa­che­ren Weg auf­merk­sam machen: Die Fa. Alpha­bet (Goog­le) bie­tet ein Tex­terken­nungs­pro­gramm an, mit dem man Text ein­fach abfo­to­gra­fiert und dann ver­schi­cken kann, z.B. als Mail. Die App heisst ‚Goog­le Lens’. Die Feh­ler­quo­te bei der Tex­terken­nung ist mini­mal, aber nicht feh­ler­frei, erfor­dert also trotz­dem ein Gegen­le­sen. Die­se Arbeit bleibt Ihnen also nicht erspart.”
(Leser ***)

***

Wenn wir gera­de bei berühm­ten zeit­ge­nös­si­schen Autoren sind:

Mer­ke: Can­cel Cul­tu­re ist eine ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sche Unter­stel­lung der Rech­ten. Das Ver­ge­hen von Frau Row­ling besteht dar­in, dass sie an die Exis­tenz von ledig­lich Mann und Frau „glaubt” wie der­zeit knapp acht Mil­li­ar­den ande­re Men­schen auch, also eine zumin­dest sym­bo­lisch ver­bren­nens­wer­te Ket­ze­rin ist. Bemer­kens­wert, dass die Inqui­si­to­ren des Muse­ums in Seat­tle es wagen, den Namen einer Autorin zu til­gen, deren Bücher die gan­ze Welt kennt – „Har­ry Pot­ter” ist in über 80 Län­dern erschie­nen, die Gesamt­auf­la­ge liegt bei einer hal­ben Mil­li­ar­de Exemplaren.

Mir fällt zu die­ser spe­zi­el­len Art einer Dam­na­tio memo­riae – Til­gung des Ver­fas­ser­na­mens bei einem Werk, das zu popu­lär ist, um es eben­falls der Feme zu über­ant­wor­ten – nur das Bei­spiel der „Lore­ley” im Drit­ten Reich ein: Hei­nes Gedicht, viel­fach ver­tont, in der bekann­tes­ten Ver­si­on von Fried­rich Sil­cher – es gab wohl kei­nen deut­schen Chor, der es nicht sang –, fir­mier­te dort als das Werk eines unbe­kann­ten Autors.*

* „Sehr geehr­ter Herr Klo­novs­ky, die­se ‚Loreley’-Legende ist wohl unaus­rott­bar. Es gibt bis heu­te kei­nen Beleg dafür.” (Leser***)

***

Blei­ben wir heu­te bei den Büchern.

Leser *** sand­te mir die­ses Meis­ter­werk der DDR-Kin­der­li­te­ra­tur („Für Leser ab 7 Jah­ren an”). Es stammt aus dem Jahr des Mauerbaus.

Der Neger Jim spielt Akkor­de­on in einer Hafen­knei­pe von Mar­seil­le. Dort­hin ver­schlägt es den mit­tel­lo­sen, hun­gern­den, kran­ken Flücht­ling Peter, der selbst­ver­ständ­lich nicht aus der DDR, son­dern aus dem Drit­ten Reich nach Frank­reich geflo­hen ist – wenn bel­le­tris­ti­sche Bücher im größ­ten „Lese­land” unter der Son­ne in Staa­ten des „nicht­so­zia­lis­ti­schen Wäh­rungs­sys­tems” han­del­ten, dann fast immer vor der Grün­dung des real­so­zia­lis­ti­schen Pen­dants. Wäh­rend Peters Zustand die rohen Gesel­len in der Spe­lun­ke nicht son­der­lich rührt, nimmt der mit­lei­di­ge Jim ihn mit in sei­ne klei­ne Woh­nung und pflegt ihn dort gesund.

Schnitt.

War­um ich das zitie­re? Nun, weil Claas Relo­ti­us und ich glau­ben, dass die­ser Art Lite­ra­tur wie­der eine gro­ße Zukunft beschie­den sein wird. Nur am Titel müss­te noch etwas gear­bei­tet werden.

 

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