Nur ein Diskurs kann uns retten

Der Starn­ber­ger Eme­ri­tus Jür­gen Haber­mas gilt als der bedeu­tends­te deut­sche Sozi­al­phi­lo­soph der Gegen­wart. War­um eigent­lich?


Kein zeit­ge­nös­si­scher deut­scher Den­ker wird im Aus­land öfter ver­legt und häu­fi­ger zitiert als Jür­gen Haber­mas. In den Buch­hand­lun­gen und Biblio­the­ken ste­hen sei­ne Wer­ke unter der Rubrik „Phi­lo­so­phie“. Mit dem­sel­ben Recht könn­ten sie frei­lich unter „Sozio­lo­gie“ fir­mie­ren. Man­che bezeich­nen Haber­mas des­halb als Sozi­al­phi­lo­so­phen. Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­ler wäre auch nicht falsch. And­rer­seits ist sein Anspruch enorm poli­tisch. Ist Haber­mas über­haupt ein Philosoph? 

Ihn sel­ber hat die­se Fra­ge offen­bar wenig beschäf­tigt. Zumin­dest woll­te er den Phi­lo­so­phen stets einen „pri­vi­le­gier­ten Zugang zur Wahr­heit“ abspre­chen. Er habe „Vor­be­hal­te gegen einen gewis­sen eli­tä­ren Ges­tus der deut­schen Man­da­ri­ne“, äußer­te er in einem Inter­view. Die „pla­to­ni­sche Ver­ach­tung der ‚Mas­sen‘“ sei „nach Kant unter deut­schen Phi­lo­so­phen beson­ders beliebt“ gewe­sen; heu­te aber sei eine „aus guten Grün­den ernüch­ter­te Phi­lo­so­phie“ allen­falls dazu da, „einen sybil­li­ni­schen Zeit­geist zu dechiffrieren“. 

Haber­mas‘ vom Ansatz her bemer­kens­wert uneli­tä­re Phi­lo­so­phie fragt, wie öffent­li­che demo­kra­ti­sche Wil­lens­bil­dung unter den Bedin­gun­gen der moder­nen Mas­sen­ge­sell­schaft funk­tio­nie­ren kann. Sie unter­sucht, im Duk­tus Imma­nu­el Kants gespro­chen, den Haber­mas gern als geis­ti­gen Ahnen bean­sprucht, die Bedin­gun­gen der Mög­lich­keit von Kom­mu­ni­ka­ti­on. Der Phi­lo­soph hat in die­sem Kon­text jede her­aus­ge­ho­be­ne Stel­lung ver­lo­ren, er ist nur eine Art Mode­ra­tor oder Tagesordnungspunkte-Abfrager. 

Ent­ge­gen einer land­läu­fi­gen Vor­stel­lung war Haber­mas übri­gens kein Schü­ler Theo­dor Ador­nos. Er pro­mo­vier­te bei Erich Roth­acker über ein emi­nent spe­ku­la­ti­ves The­ma (Schel­lings Welt­al­ter-Leh­re), wäh­rend sei­ne Habi­li­ta­ti­on bei Wolf­gang Abend­roth „Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit“ schon die künf­ti­ge Rich­tung wies. 1981 erschien zu Frank­furt sein Haupt­werk, die „Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns“ (TkH), in zwei Bän­den. Die Welt ist sich ver­wirk­li­chen­der Geist, hat­te Hegel gemeint; die Welt ist Nicht-Ich, Fich­te; die Welt ist Wil­le – Scho­pen­hau­er; Wil­le zur Macht – Nietz­sche; Sei­en­des, wel­ches das Sein ver­stellt – Heid­eg­ger; alles, was der Fall ist – Witt­gen­stein. Die Welt, wider­sprach nun Haber­mas, ist vor allem kom­mu­ni­ka­ti­ves Handeln. 

Sein Opus magnum möch­te die „nor­ma­ti­ven Grund­la­gen einer kri­ti­schen Gesell­schafts­theo­rie auf­klä­ren“. Die Phi­lo­so­phie soll fort­an nicht mehr sein als ein „Zubrin­ger“ für eine Theo­rie der Ratio­na­li­tät und in „koope­ra­ti­ver Bezie­hung“ vor allem zu den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten ste­hen. Haber­mas avan­cier­te zum Schutz­pa­tron aller Sozi­al­päd­ago­gen und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­ler. Der Geist des „Gut, dass wir dar­über geredet/gemeinsam dage­gen pro­tes­tiert haben“ erhielt durch ihn aka­de­mi­sche Wei­hen. Begrif­fe wie „Sen­si­bi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al“, „sub­sys­tem­spe­zi­fi­sche Sach­ge­setz­lich­kei­ten“ und „post­tra­di­tio­na­le Iden­ti­tät“ flutsch­ten in die bun­des­deut­schen Universitäten.

In der TkH ent­wirft Haber­mas einen Dua­lis­mus von „Lebens­welt“ (die Bür­ger) und „Sys­tem“ (Staat, Wirt­schaft etc.). Zwi­schen bei­den ver­mit­teln die Medi­en. Die Lebens­welt vor den Zumu­tun­gen von sei­ten des Sys­tems zu schüt­zen, ist der Sinn von Dis­kur­sen. Haber­mas baut sei­ne gesam­te Theo­rie auf die Idee, dass so etwas wie ein „zwang­lo­se® Zwang des bes­se­ren Argu­ments“ exis­tie­re. Der funk­tio­niert frei­lich nur, wenn die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­teil­neh­mer auf Wir­kun­gen oder gar Täu­schun­gen ver­zich­ten und der Dis­kurs „herr­schafts­frei“ abläuft, das heißt, alle Sprech­akt-Teil­neh­mer die glei­chen Chan­cen erhal­ten. Der gelun­ge­ne Dis­kurs ist die habermas’sche Escha­to­lo­gie, die Bür­ger­initia­ti­ve sein poli­ti­scher Lieb­lings­ak­teur. „Mei­ne theo­re­ti­schen Arbei­ten haben als Flucht­punkt den Impe­ra­tiv, men­schen­wür­di­ge Ver­hält­nis­se zu schaf­fen, in denen sich eine erträg­li­che Balan­ce zwi­schen Geld, Macht und Soli­da­ri­tät ein­spie­len kann“, ver­trau­te er 1994 dem „Köl­ner Stadt­an­zei­ger“ an. Die Bot­schaft der TkH ent­spricht unge­fähr dem, was die Mamis immer gesagt haben, wenn man mit blu­ti­ger Nase heim­kam: „Kin­der, ver­tragt euch!“ 

Der Anspruch die­ser Leh­re ist also poli­tisch, ihr Gel­tungs­rah­men, auch da folgt Haber­mas Kant, poten­ti­ell unbe­grenzt. „Aus den gewiß kon­flikt­rei­chen und schmerz­haf­ten Pro­zes­sen des Über­gangs zu mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaf­ten geht eine bereits über den Natio­nal­staat hin­aus­wei­sen­de Form der sozia­len Inte­gra­ti­on her­vor“, erklär­te er in sei­ner Pauls­kir­chen­re­de 1995. Die „gemein­sa­me Bin­dung an his­to­risch errun­ge­ne repu­bli­ka­ni­sche Frei­hei­ten“ sowie „eine im his­to­ri­schen Bewußt­sein ver­an­ker­te Loya­li­tät zu einer über­zeu­gen­den poli­ti­schen Ord­nung“ sei­en es, die mitt­ler­wei­le – oder halt irgend­wann – „über alle sub­kul­tu­rel­len Dif­fe­ren­zen hin­weg das wech­sel­sei­ti­ge Ein­ste­hen der Bür­ger für­ein­an­der moti­vie­ren“. Wo er der­glei­chen je beob­ach­tet hat­te, ließ der Tran­szen­den­tal­de­mo­krat lei­der unerwähnt. 

Bis in sei­ne anno 2005 erschie­ne­ne vor­erst letz­te Auf­satz­samm­lung beschwört Haber­mas den „kooperative(n) Cha­rak­ter des Wett­be­werbs um bes­se­re Argu­men­te“ und will des­sen Teil­neh­mer „zur Dezen­trie­rung ihrer Deu­tungs­per­spek­ti­ven anhal­ten“. Wel­ches Argu­ment letzt­lich über­zeu­ge, meint der Kom­mu­ni­ka­tor, dar­über „ent­schei­den nicht pri­va­te Ein­sich­ten, son­dern die im ratio­nal moti­vier­ten Ein­ver­ständ­nis gebün­del­ten Stel­lung­nah­men aller, die an der öffent­li­chen Pra­xis des Aus­tauschs von Grün­den teil­neh­men“. Die äußers­ten Her­aus­for­de­run­gen für die­ses Den­ken sind: 1. Adolf Hit­ler, 2. Robin­son Cru­soe vor der Ankunft Frei­tags, 3. die Realität. 

Wer es sich leicht machen will, kann zwar ange­hörs sol­cher Bekun­dun­gen aus dem Wol­ken­ku­ckucks­heim der Wünsch­bar­kei­ten ach­sel­zu­ckend auf die täg­li­chen Abend­nach­rich­ten und auf „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaf­ten“ wie Rüt­li-Schu­le, VW-Vor­stand oder Gaza-Strei­fen ver­wei­sen, aber das grif­fe zu kurz. Irgend­wie müs­sen die Men­schen ihre Kon­flik­te ja zu lösen ver­su­chen. Und wer Kon­flik­te „herr­schafts­frei“ lösen will, der muss wohl oder übel – das ken­nen vie­le aus ihrer Part­ner­schaft – reden, reden, reden. „Der End­zu­stand des habermas’schen Uni­ver­sums“, befand der Sys­tem­theo­re­ti­ker Niklas Luh­mann bün­dig, sei „Geschwätz“.

Was einen dis­kur­siv täti­gen Intel­lek­tu­el­len aus­macht, hat Haber­mas bei sei­ner Rede zur Ver­lei­hung des Kyo­to-Prei­ses wie folgt beschrie­ben: „In den 80er- bzw. 90er-Jah­ren habe ich mich in Debat­ten über die Auf­ar­bei­tung der NS-Ver­gan­gen­heit, den zivi­len Unge­hor­sam, den Modus der Wie­der­ver­ei­ni­gung, den ers­ten Irak­krieg, die Aus­ge­stal­tung des Asyl­rechts usw. ein­ge­mischt. Wäh­rend der letz­ten zehn Jah­re habe ich mich vor­wie­gend zu Fra­gen der euro­päi­schen Eini­gung und der Bio­ethik geäu­ßert. Seit der völ­ker­rechts­wid­ri­gen Inva­si­on in den Irak beschäf­tigt mich die post­na­tio­na­le Kon­stel­la­ti­on im Hin­blick auf die Zukunft des Kan­ti­schen Pro­jekts einer welt­bür­ger­li­chen Ord­nung.“ Aller­dings dür­fe der Intel­lek­tu­el­le „den Ein­fluss, den er mit Wor­ten erlangt, nicht als Mit­tel zum Macht­er­werb nutzen“.

Die­ser Gedan­ke führt stracks zum öffent­li­chen Wir­ken des Jür­gen Haber­mas. Ver­steht er es, sei­ner womög­lich etwas uto­pi­schen Theo­rie durch per­sön­li­che Vor­bild­haf­tig­keit Plau­si­bi­li­tät zu ver­lei­hen? Das berühm­tes­te Bei­spiel ist natür­lich der soge­nann­te His­to­ri­ker­streit 1986/87, den Ernst Nol­te mit der The­se aus­ge­löst hat­te, es exis­tie­re ein „kau­sa­ler Nexus“ zwi­schen den Mas­sen­mor­den der Bol­sche­wi­ken und jenen der Nazis. Damals gab es in der Bun­des­re­pu­blik immer noch genü­gend Leu­te, die das deut­sche Kind nicht mit dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Bade aus­schüt­ten woll­ten, und der Theo­re­ti­ker des kom­mu­ni­ka­ti­ven sah sich zur Pra­xis des exkom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns mehr oder weni­ger gezwun­gen. Über Nol­te hin­aus wit­ter­te er „apo­lo­ge­ti­sche Ten­den­zen“ in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Zeit­ge­schichts­schrei­bung, pran­ger­te drei wei­te­re Haupt­ver­ant­wort­li­che an und erweck­te beim Leser den Ein­druck, die­ses Quar­tett ver­fol­ge qua­si als Team das Ziel, den deut­schen Natio­na­lis­mus wiederzubeleben. 

Nun ja, Haber­mas hat­te sich im Eifer des dis­kur­si­ven Gefechts ein paar zita­ti­ve Unge­nau­ig­kei­ten geleis­tet. Zum Bei­spiel hat­te Nol­te gar nicht „um Ver­ständ­nis für die anti­mo­der­nen Impul­se“ der Nazis gewor­ben, son­dern nur auf die gesamt­eu­ro­päi­sche Vor­ge­schich­te des NS-Ras­sis­mus hin­ge­wie­sen. Andre­as Hill­gru­ber hat­te nicht von „bewähr­ten Hoheits­trä­gern der NSDAP“ geschrie­ben, son­dern unter­schie­den zwi­schen jenen, die sich in den Tagen von Zusam­men­bruch und Flucht bewähr­ten und jenen, die erbärm­lich ver­sag­ten. Nol­te hat­te nicht vom „Welt­ju­den­tum“ gespro­chen, wie Haber­mas behaup­te­te, son­dern nur von „Juden in aller Welt“. Und dem Kon­sens-Voll­stre­cker selbst war genau das unter­lau­fen, was er sei­nen Geg­nern unter­stell­te, näm­lich die Baga­tel­li­sie­rung eines Mas­sen­mor­des; „Ver­trei­bung der Kula­ken“ hat­te er geschrie­ben und die Wor­te „vom Pla­ne­ten“ irgend­wie vergessen…

Letzt­lich gelang es Haber­mas aber (mit Unter­stüt­zung durch gesin­nungs­be­freun­de­te His­to­ri­ker), vier nam­haf­te deut­sche Geschichts­pro­fes­so­ren zu brand­mar­ken, ohne sich auch nur mit einem Satz auf ihr The­ma ein­zu­las­sen, allein indem er ihnen vor­warf, sie näh­men „mit Hil­fe his­to­ri­scher Ver­glei­che maka­bre Auf­rech­nun­gen“ vor, wie sie „bis­her nur in rechts­ra­di­ka­len Krei­sen zir­ku­lier­ten“, betrie­ben also „ent­las­ten­den Revi­sio­nis­mus“. Zwei der vier wur­den das Stig­ma nie mehr los, Hill­gru­ber nicht, weil er kurz nach jenen Atta­cken und von die­sen augen­schein­lich nicht unbe­rührt starb, wäh­rend Nol­te bis heu­te als Paria gilt, obwohl sei­ne Theo­rie qua­si durch die Hin­ter­tür Ein­gang in die Geschichts­wis­sen­schaft gefun­den hat. 

Wich­ti­ger als die his­to­ri­schen Tat­sa­chen, lehr­te Haber­mas, sei der Gebrauch, den man von ihnen mache. „Nach wie vor gibt es die ein­fa­che Tat­sa­che, daß auch die Nach­ge­bo­re­nen in einer Lebens­form auf­ge­wach­sen sind, in der d a s mög­lich war. Mit jenem Leben­zu­sam­men­hang, in dem Ausch­witz mög­lich war, ist unser eige­nes Leben nicht etwa durch kon­tin­gen­te Umstän­de, son­dern inner­lich ver­knüpft.“ Gegen sol­che Spitz­fin­dig­keit kam kei­ner an. Lei­der hat­te sich sein Sancho Pan­sa, der His­to­ri­ker Hans-Ulrich Weh­ler, spä­ter ver­plap­pert und bekun­det, es sei in die­sem Streit bloß um die „kul­tu­rel­le Hege­mo­nie“ gegan­gen. Seit­her muss jeder deut­sche His­to­ri­ker, der sich mit der NS-Zeit beschäf­tigt, über­le­gen, ob die Erwäh­nung gewis­ser Fak­ten ihrem rich­ti­gen Gebrauch bezie­hungs­wei­se sei­ner Kar­rie­re even­tu­ell im Wege steht. 

Eine wei­te­re gro­ße Stun­de der TkH schien gekom­men, als mit Erich Hon­ecker einer der ful­mi­nan­tes­ten Dis­kurs­ver­wei­ge­rer der Neu­zeit von der poli­ti­schen Büh­ne abtrat und auf ost­deut­schen Stra­ßen kom­mu­ni­ka­tiv gehan­delt wur­de, dass es nur so summ­te. Lei­der erwies sich die von Haber­mas viel­be­klag­te Kluft zwi­schen „Pra­xis­pri­mat“ und „Theo­rie­de­fi­zit“ wie­der­um als unüber­steig­bar. Im März 1990 schrieb er sich in sei­nem heu­te viel zu sel­ten gele­se­nen Arti­kel „Der DM-Natio­na­lis­mus“ den gan­zen Ver­ei­ni­gungs­frust von der See­le: „Deut­sche Inter­es­sen wer­den in Deut­scher Mark gewo­gen und durch­ge­setzt. Gewiß, schlim­mer als die­ser Code war die Spra­che der Stu­kas. Aber obs­zön ist der Anblick des deut­schen Mus­kel­spiels alle­mal.“ Nun schwan­gen sich die Nach­kom­men der Stu­ka-Pilo­ten auf den „vor­po­li­ti­schen Krü­cken von Natio­na­li­tät und Schick­sals­ge­mein­schaft“ ein­fach über der­glei­chen Beden­ken hin­weg! Statt die Lands­leu­te „im Hau­ruck-Ver­fah­ren ins eige­ne Boot zu zie­hen“, hät­te die Bun­des­re­pu­blik „an die Soli­da­ri­tät aller Euro­pä­er und an die geschicht­li­che Ver­pflich­tung West­eu­ro­pas gegen­über allen mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Nach­barn appel­lie­ren kön­nen“, pro­tes­tier­te Haber­mas – so wie der bra­ve Mann, frei nach Schil­ler, an die eige­ne Fami­lie zuletzt denkt. Doch selbst wenn er Haber­mas‘ Vor­schlä­ge gele­sen haben wür­de, hät­te ein Hel­mut Kohl damit unge­fähr soviel anfan­gen kön­nen wie Bis­marck mit Nietz­sches Kri­tik an der Reichs­grün­dung. Die Ossis wie­der­um woll­ten kei­ne Dis­kur­se, son­dern rei­sen und sich ver­nünf­ti­ge Sachen kau­fen, und die welt­his­to­risch bei­spiel­lo­se mate­ri­el­le Soli­da­ri­täts­leis­tung dafür erbrach­te zu Haber­mas‘ Ent­set­zen aus­ge­rech­net die „vor­po­li­ti­sche“ Nati­on. Dabei hat­ten die Deut­schen doch wegen Ausch­witz „die Mög­lich­keit ein­ge­büßt, ihre poli­ti­sche Iden­ti­tät auf etwas ande­res zu grün­den als auf uni­ver­sa­lis­ti­sche staats­bür­ger­li­che Prinzipien“. 

Was wür­de jetzt kom­men? Vier­tes Reich? Drit­ter puni­scher Krieg? Haber­mas schwan­te anschei­nend Schlimms­tes. „Wir hier sind“, schrieb er im Novem­ber 1991 ver­zwei­felt an Chris­ta Wolf, „auf die libe­ra­len und lin­ken Intel­lek­tu­el­len in der ehe­ma­li­gen DDR ange­wie­sen, wenn das Netz einer halb­wegs zivi­len poli­ti­schen Kul­tur unter den neu­en Belas­tun­gen nicht rei­ßen soll.“ Die Belas­tun­gen nah­men zu, das Netz spann­te sich immer wei­ter. „Das deut­sche Son­der­be­wußt­sein rege­ne­riert sich von Stun­de zu Stun­de. Der gan­ze intel­lek­tu­el­le Müll, den wir uns vom Hal­se geschafft hat­ten, wird wie­der auf­be­rei­tet.“ (Haber­mas im Inter­view mit der Frank­fur­ter Rund­schau, 12. Juni 1993). „Wenn wir nicht zum deut­schen Mief zurück­wol­len“ (Haber­mas vor einer Enquete-Kom­mis­si­on des Bun­des­tags im Mai 1994), dann hilft nur die „selbst­kri­ti­sche Erin­ne­rung an Ausch­witz“ (in „Sinn und Form“, 2/1994). Haber­mas erin­ner­te sich s e l b s t k r i t i s c h an Ausch­witz! Er nahm das Haken­kreuz auf sich! Damit hat­te er sie alle abge­hängt: Mit­scher­lich, Weiz­sä­cker, Süss­muth, Hamm-Brü­cher, Söl­le, alle. 

Zwar wur­den in den Fol­ge­jah­ren sowohl die obs­zön mus­ku­lö­se D‑Mark als auch die Regie­rung Kohl abge­schafft, aber der Seis­mo­graph vom Starn­ber­ger See blieb hoch­sen­si­bel. Noch im Mai 2005 warn­te Haber­mas zusam­men mit ande­ren deut­schen Spit­zen­in­tel­lek­tu­el­len in „Le Mon­de“ vor der Ableh­nung des EU-Ver­fas­sungs­ent­wurfs durch die Fran­zo­sen und beschwor „kata­stro­pha­le Kon­se­quen­zen“. Für wen? „Für Polen und die ande­ren neu­en Mit­glie­der der Uni­on, die von Frank­reich nicht zwi­schen dem wie­der­ver­ei­nig­ten Deutsch­land und dem rus­si­schen Impe­ri­um allein gelas­sen wer­den dür­fen.“ Nach­dem das Vier­te Reich nicht mehr wirk­lich droh­te, gab es immer­hin noch die Gefahr der vier­ten pol­ni­schen Tei­lung. Spä­tes­tens hier stellt sich die Fra­ge, ob ein Den­ker, der das nach zwei ver­hee­ren­den Kriegs­nie­der­la­gen schwerst trau­ma­ti­sier­te, durch­pa­zi­fi­zier­te, allen­falls noch halb­sou­ve­rä­ne, all­mäh­lich ver­grei­sen­de und ver­schwin­dens­be­rei­te Deutsch­land für eine Gefahr hält, nicht sel­ber eine bezie­hungs­wei­se noch bei Trost ist. 

Auch bei ande­ren Inter­ven­tio­nen ließ Haber­mas gele­gent­lich das bes­se­re Argu­ment zuguns­ten der Invek­ti­ve im Köcher. Bei­spiels­wei­se als er dem FAZ-Jour­na­lis­ten Lorenz Jäger öffent­lich beschei­nig­te, er sei „als Rechts­au­ßen der Feuil­le­ton-Redak­ti­on ein­schlä­gig bekannt“ (wofür in Deutsch­land bei­na­he der Ver­fas­sungs­schutz zustän­dig ist). Oder als er den Phi­lo­so­phen Peter Slo­ter­di­jk als „neu­heid­nisch“ klas­si­fi­zier­te. Die­ses Wort – er hat­te es schon gegen Heid­eg­ger ins dis­kur­si­ve Tref­fen geführt – klang so wun­der­bar rück­stän­dig, nach Immo­ra­lis­mus und Men­schen­op­fer, sogar ein biss­chen nach Rosen­berg und Himm­ler. Außer­dem ver­wei­ger­te sich der „Neu­hei­de“ augen­schein­lich jener Zivil­re­li­gi­on, in deren Mit­tel­punkt das ewi­ge Geden­ken an Ausch­witz steht, wel­ches im habermas‘schen Kos­mos gewis­ser­ma­ßen die Ver­ede­lung der jüdisch-christ­li­chen Moral­ge­bo­te darstellt. 

Amo­ra­lisch hat­te sich Slo­ter­di­jk nach Haber­mas‘ Ansicht ver­hal­ten, weil er in sei­nem Vor­trag „Regeln für den Men­schen­park“ nach der Anwen­dung der Gen­tech­no­lo­gie auf den Men­schen frag­te und dabei den Ter­mi­nus „Anthro­po­tech­ni­ken“ ein­führ­te, was in gewis­sen Ohren offen­bar nach Euge­nik, Züch­tung und also irgend­wie nach NS-Ras­sen­po­li­tik klang. Jeden­falls wur­de die Rede von Jour­na­lis­ten skan­da­li­siert, nach Slo­ter­di­jks unwi­der­spo­che­ner Behaup­tung unter habermas’scher Draht­zie­her­schaft. Doch der Karls­ru­her Pro­fes­sor, ein Zög­ling der anti­au­to­ri­tä­ren Revol­te, biss zurück, nann­te Haber­mas die „Starn­ber­ger Fat­wa“ und sei­ne jour­na­lis­ti­schen Voll­stre­cker „links­fa­schis­ti­sche Phi­lo­so­phen­pa­pa­raz­zi“ und „Bor­der­li­ner des Huma­nis­mus“. In einem Brief an die „Zeit“ gestand Haber­mas, er habe die Lek­tü­re des Vor­trags­tex­tes als „nie­der­schmet­ternd“ emp­fun­den. Über­dies gab er zu, dass er nach Slo­ter­di­jks Ankün­di­gung, die Rede wer­de dem­nächst bei Suhr­kamp ver­öf­fent­licht, den zustän­di­gen Lek­tor gebe­ten habe, „sich den Text doch ein­mal anzu­schau­en“; er habe näm­lich befürch­tet, „dass der Ver­lag in sei­nen nächs­ten poli­ti­schen Skan­dal hin­ein­stol­pern würde“. 

Sol­che mehr oder weni­ger unphi­lo­so­phi­schen Auf­trit­te als Dis­kurs­li­ni­en­rich­ter füh­ren zur ein­gangs gestell­te Fra­ge zurück, ob Haber­mas über­haupt im Wort­sin­ne ein Phi­lo­soph ist. Unphi­lo­so­phisch ist dar­über hin­aus sein Ver­zicht, die gro­ßen The­men zu behan­deln. „Haber­mas‘ Theo­rie ver­wei­gert Den­ken in gera­de den Fra­gen, wel­che für jenes Den­ken die ent­schei­den­den sind, das Phi­lo­so­phie ist“, notier­te der Doy­en der deut­schen Meta­phy­sik, Die­ter Hen­rich. Typisch dafür ist das Heid­eg­ger-Kapi­tel im Buch „Der phi­lo­so­phi­sche Dis­kurs der Moder­ne“, wo Haber­mas die Phi­lo­so­phie des Seins-Begrüb­lers aus Todt­nau­berg an den Kri­te­ri­en sei­ner Theo­rie misst und etwa fest­stellt: „Heid­eg­ger chif­friert die hand­greif­li­chen Ent­stel­lun­gen der kom­mu­ni­ka­ti­ven All­tags­pra­xis in einem ungreif­ba­ren, vom Phi­lo­so­phen ver­wal­te­ten Seins­ge­schick.“ Eben­so­gut könn­te er frei­lich auch Beet­ho­vens Kla­vier­so­na­ten auf ihre Tanz­bar­keit untersuchen. 

Das Indi­vi­du­um jen­seits sei­ner dis­kur­si­ven „Gel­tungs­an­sprü­che“ kommt bei Haber­mas so wenig vor wie das Schick­sal, die See­le, das Böse oder der Tod. Dazu passt, dass er die anti­ken Autoren sel­ten zu Wort kom­men lässt, und wenn, dann zitiert er sie nie im Ori­gi­nal, son­dern immer nach Bru­no Snells „Die Ent­de­ckung des Geis­tes“ – was den Schluss nahe­legt, dass Deutsch­lands bedeu­tends­ter Phi­lo­soph die Urspra­che der Phi­lo­so­phie nicht beherrscht. Das ist inso­fern pikant, als er 1971 dem Kan­di­da­ten eines unge­lieb­ten Pro­fes­so­ren­kol­le­gen die Habi­li­ta­ti­on ver­mas­seln wol­len, indem er dar­auf hin­wies, dass die Habi­li­ta­ti­ons­ord­nung der Uni­ver­si­tät Frank­furt emp­feh­le, jeder Kan­di­dat möge das Grae­cum besit­zen. (Der Mann schaff­te es aber, in drei Mona­ten sein Grae­cum nachzuholen.) 

Mitt­ler­wei­le hat Jür­gen Haber­mas so ziem­lich jeden Preis erhal­ten, den ein Geis­tes­wis­sen­schaft­ler natio­nal wie inter­na­tio­nal über­haupt abräu­men kann. Er ist sogar Trä­ger des Sieg­mund-Freud-Prei­ses für wis­sen­schaft­li­che Pro­sa, ver­lie­hen von der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung an den Meiß­ler von Sät­zen wie: „Die Sprach­ver­mitt­lung des Welt­be­zugs erklärt die Rück­be­zie­hung der im Han­deln und Spre­chen unter­stell­ten Objek­ti­vi­tät der Welt auf die Inter­sub­jek­ti­vi­tät der Ver­stän­di­gung zwi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­teil­neh­mern.“ Sein Werk wur­de in alle Welt­spra­chen über­setzt außer ins Deut­sche. Offen­bar ist die­se Sozi­al­in­ge­nieur­spro­sa in Lima oder Seo­ul leich­ter zu ver­mit­teln als der meta­phy­si­sche Tief­sinn von Hegel bis Heid­eg­ger, zumal ihr das uni­ver­sell aner­kann­te Güte­sie­gel „Made by Good­will“ anhängt. Ande­rer­seits prof­tiert Haber­mas von jener auch im Aus­land berühm­ten deut­schen Denk­tra­di­ti­on, als deren demo­kra­tisch geläu­ter­ter Erbe er auf­tre­ten kann. 

Die grö­ße Macht­fül­le besaß Haber­mas frag­los zur Zeit des His­to­ri­ker­streits. Sein Ein­fluss beruh­te nur zum Teil auf Klün­ge­lei und Gre­mi­en-Mit­glied­schaf­ten (bei­spiels­wei­se hat­te Ernst Nol­te sei­nen spä­ter berüch­tig­ten Text bei den Frank­fur­ter Römer­berg­ge­sprä­chen nicht vor­tra­gen kön­nen, weil er unver­hofft aus­ge­la­den wor­den war, was man­che dar­auf zurück­führ­ten, dass Haber­mas damals zum Kura­to­ri­um der­sel­ben gehör­te), weit mehr dage­gen auf einer Art Men­ta­li­täts­herr­schaft. Inzwi­schen scheint nur noch wenig davon übrig zu sein. Es ist still gewor­den um Habermas. 

Als ihn das Maga­zin „Cice­ro“ im Novem­ber 2006 angriff, indem es eine ehren­rüh­ri­ge Pas­sa­ge aus den Memoi­ren von Joa­chim Fest zur Titel­sto­ry auf­blies, ent­schied kein Dis­kurs, son­dern das Ham­bur­ger Land­ge­richt, dass besag­te Pas­sa­ge künf­tig geschwärzt wer­den muss. Es ging um einen Brief, den Haber­mas als 16jähriger klei­ner HJ-Füh­rer sei­nem Unter­ge­be­nen Hans-Ulrich Weh­ler geschickt, nach dem Krieg wie­der­erhal­ten und angeb­lich hin­un­ter­ge­schluckt hat­te, weil er ihn als Belas­tungs­ma­te­ri­al emp­fand. Auf so gro­tes­ke Wei­se ist Haber­mas ein spä­tes Opfer jenes Zeit­geis­tes gewor­den, den er selbst mit­er­zeugt hat und in dem pie­fi­ge HJ-Affä­ren oder auch die Waf­fen-SS-Mit­glied­schaft von Teen­agern zu einem mög­lichst um jeden Preis zu ver­schwei­gen­den bio­gra­fi­schen Schand­mal avan­cie­ren konnten.

Haber­mas hat gesell­schaft­li­che Bin­dun­gen, wel­che dies­seits von Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus und demo­kra­ti­scher Kon­sens­bil­dung lie­gen, als „vor­po­li­tisch“ dis­kre­di­tiert. Geo­po­li­tik hält er für „Tam­tam“, Außen­po­li­tik für ein Relikt aus natio­nal­staat­li­chen Zei­ten, sei­ne Visi­on heißt „Welt­in­nen­po­li­tik“. Nach sei­ner Vor­stel­lung darf es in der Poli­tik weder Fein­de noch Aus­nah­me­zu­stän­de noch Mehr­hei­ten mit „vor­po­li­ti­schen“ Maxi­men geben; wenn doch, hilft ein Dis­kurs. Letzt­lich ist Haber­mas, bei all sei­nem poli­ti­schen Getö­se, ein voll­kom­men apo­li­ti­scher Theo­re­ti­ker. Apo­li­tisch waren bekannt­lich auch die Ver­hält­nis­se, in denen er zum Star auf­stieg, der­weil sich frem­de Mäch­te um den Schutz des deut­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kol­lek­tivs küm­mer­ten. Ob sich die wach­sen­de mus­li­mi­sche Bevöl­ke­rung in Euro­pa oder ande­re Ein­wan­de­rer­grup­pen in den nächs­ten Jahr­zehn­ten dem zwang­lo­sen Zwang des bes­se­ren Argu­ments unter­wer­fen wer­den – und was, wenn nicht? Jür­gen Haber­mas wird es nicht erle­ben müs­sen, und womög­lich ist sei­ne Theo­rie, so viel Glück man ihr auch wün­schen möch­te, mit­samt der alten Bun­des­re­pu­blik, der sie ihre Ent­ste­hung ver­dankt, schon längst Geschich­te geworden.

Bestellt, bezahlt und unge­druckt von der Welt­wo­che, Zürich. Zwi­schen­zeit­lich ver­öf­fent­licht auf  „Die Ach­se des Guten” sowie in einer „ent­schärf­ten” Ver­si­on zum 80. des Gevat­ters auf Focus online.

Vorheriger Beitrag

Gab es Moses?

Nächster Beitrag

Das privilegierte Geschlecht

Ebenfalls lesenswert

Bedroht ist die Freiheit immer

In sei­nem neu­en Buch – Start­auf­la­ge 100 000 Stück – beklagt Thi­lo Sar­ra­zin die Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit. Wie passt…

Der Geschichts-Erzähler

Sein Buch über Deutsch­land im Bom­ben­krieg mach­te Jörg Fried­rich berühmt — und auch ein biss­chen berüch­tigt

Prinz Dickschädel

Wie ein West-Adli­ger bei der Reani­ma­ti­on des säch­si­schen Wein­baus half – ein Mär­chen aus den neu­en Bun­des­län­dern