Über die Vorboten von Aufstiegen und Niedergängen
Jede Epoche hat ihre Konvertiten; nur glückliche Zeiten haben keine. Da es glückliche Zeiten (für jedermann) aber nicht gibt, hören auch die Konversionen nimmer auf. Sie sind Indikatoren gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, und gleichzeitig schieben sie diese Prozesse an. Ihre Anzahl und Heftigkeit zeigt, ob es im Innern einer Gesellschaft gärt und brodelt oder ob dort Stillstand herrscht. Konversionen begleiten den Aufstieg und Niedergang von Ideen, Religionen, Staaten; sie können als Martyrium einzelner anheben und in Massenbewegungen kulminieren. Für die, die er am anderen Ufer zurücklässt, ist der Konvertit wahlweise ein Apostat oder Renegat. Sogar die angeblich oder vielleicht tatsächlich beste aller bisherigen Welten, in welcher derzeit wir leben, produziert noch Konvertiten und wird sie auch in Zukunft produzieren.
In Rede sollen hier ausschließlich weltanschauliche Konversionen von sozusagen überprivater Dimension stehen. Wer von Schalke zu Borussia Dortmund wechselt, fällt also, zumindest einstweilen noch, durchs Raster, wenngleich in der Ära der von Soziologen so genannten „schwachen Bindungen” dem Einzelnen ein solcher Wechsel existentiell erscheinen mag. Dafür, dass ein bisschen Gären und Brodeln in die politisch wie spirituell eher langweilig gewordenenen westlichen Gesellschaften kommt, sorgt derzeit bekanntlich vor allem der Muselman, indem er seine sozialen Probleme, seine Demütigungen, seinen Stolz, seine Sitten, seine Fruchtbarkeit und seine Glaubensgewissheiten in den Westen exportiert. Nahezu folgerichtig stößt man hierzulande im Zusammenhang mit dem Wort Konversion derzeit vor allem auf jene zum Islam. Es sind keineswegs viele Eingeborene, die zu Allah überlaufen, inzwischen um die tausend jährlich, und es ist kaum einer darunter, dessen Name öffentlich bekannt wäre. Nicht einmal Abdul Hadi Christian Hoffmann, ehemals CDU-Pressesprecher in Bonn, heute Muslimfunktionär, kann auf eine gewisse Reputation verweisen. Aber hat nicht auch das Christentum im Römischen Reich mit einer handvoll Underdogs angefangen?
Den wahren Underdog zieht es heutzutage für einen bekennerhaften Kurzauftritt unwiderstehlich ins Fernsehen. Den erhielt auch der 21jährige saarländische Neu-Muslim Eric Breininger im Oktober vorigen Jahres von nahezu sämtlichen hiesigen TV-Sendern. Auf einem irgendwo im Morgenland aufgenommenen Video erklärte er Deutschland den heiligen Krieg und drohte mit Anschlägen, während er eine Kalaschnikow in die Luft abfeuerte. Die wachsende Zahl von Menschen, die zum Islam konvertierten, unkte Anfang 2007 Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, habe „etwas Bedrohliches”; er sprach in diesem Zusammenhang von einem „Terrorismus, der auf unserem eigenen Mist” wachse. Sogar ein – von CDU-Politikern sofort dementiertes – „Konvertiten-Register” stand kurzzeitig im öffentlichen Geplärr. Konvertiten sind irrationale Gesellen, heutzutage verdächtiger denn je. Mancher sieht in den radikalen Deutsch-Muslimen die Vorboten einer Entwicklung, die angesichts orientalischer Gebärentschlossenheit irgendwann darin enden könnte, dass der Bundestag die Einführung der Scharia beschließt.
Der Konvertit zum Islam tauscht Wertebeliebigkeit, Dekadenz und die Freiheit des Sichselbstüberlassenseins ein gegen feste Regeln, Glaubensgewissheiten und ein archaisch-vitales Gemeinschaftsethos. Insofern die westliche Welt in ihrer augenblicklichen Verfasstheit außer Kosumsteigerungen und schrankenloser Freizügigkeit wenig „Sinn” zu bieten hat, werden die Übertritte wohl eher zunehmen. Umgekehrt konvertieren natürlich auch Muslime zum Christentum, und hier zeigen sich die Unterschiede krass. „Wenn ein Christ Muslim wird, würde keiner auf die Idee kommen, das zu beanstanden. Wenn ein Muslim sich bekehrt, ist das oft sein Todesurteil”, sagt der Konvertit Magdi Allam, aus Ägypten stammender italienischer Schriftsteller, den Papst Benedikt XVI. persönlich taufte. In der „Welt” stand unlängst zu lesen, dass Pastor Esat Avcioglus, Hirte einer türkischen Christengemeinde in Köln, auf seinen Missionstouren durch die Zuwandererviertel seiner Stadt immer wieder als ” Volksverräter, Höllenpack oder Gotteslästerer” beschimpft werde; mitunter erhalte er auch Morddrohungen. Die Marburger Islamwissenschaftlerin Ursula Spuler-Stegemann berichtet von Neu-Christen, die von Familienangehörigen verstoßen, verfolgt, zusammengeschlagen oder sogar angezündet wurden. Durch den Islam bekommt der Tatbestand Konversion wieder eine religiöse Dimension, die ihm in Europa zuletzt doch etwas abging.
Die Antike kannte die Konversion noch nicht, weil in der polytheistischen Welt die jeweiligen Landesgötter in diejenigen der anderen Länder übersetzbar waren. Erst der Monotheismus brachte den theologischen Absolutheitsanspruch in diese religiös eher toleranten Gesellschaften und schuf damit die Möglichkeit radikaler Kehren. Als erster Konvertit darf wohl jener Amenophis IV. gelten, der als Ketzerpharao Echnaton heute noch berühmt ist, obwohl seine Nachfolger alles taten, um die Erinnerung an ihn aus dem Gedächtnis der Nachgeborenen zu tilgen. Echnatons Umsturz des ägyptischen Pantheons zugunsten seines All- und nahezu Eingotts Aton kann man sich für die Zeitgenossen gar nicht entsetzlich genug vorstellen, es war wie der Einbruch der Roten Khmer in Kambodscha, nur dass der Ketzer nicht Menschen, sondern Götter schlachten ließ. Was im damaligen Verständnis weit schlimmer war.
Bis in die jüngere Gegenwart war die Konversion ein rein religiöser Akt. Idealtypischerweise vollzog sie sich blitzartig, eben als Wunder und Fingerzeig Gottes. Auf dem Weg nach Damaskus erblickte der Christenverfolger und fromme Jude Saul aus Tarsus ein Licht, aus welchem der Heiland persönlich zu ihm sprach und ihn zum Paulus umdrehte. So berichten es jedenfalls Paulus selbst sowie die Apostelgeschichte des Lukas. Auch dem Kirchenvater Augustinus widerfuhr die Bekehrung schlagartig; eine Kinderstimme sprach zu ihm, der sich schwer trug mit seiner sündhaften Lüsternheit, das bekannte „Nimm und lies”, er las den erstbesten Text, der ihm unter die Augen kam – eine Stelle aus den Paulus-Briefen –, und es ging ihm dasselbe Licht auf wie deren Verfasser. Am 2. Juni 1505 schlug ein echter Blitz unmittelbar neben einem Studenten der Rechtswissenschaften namens Martin Luther ein, der Luftdruck schleuderte den 21jährigen zu Boden, und er rief: „Hilf St. Anna, ich werde ein Mönch!” St. Anna half, und die innerchristliche Konversion mit all ihren mörderischen Folgen war quasi geboren.
Eine Conversio (Umwendung) muss die gesamte Persönlichkeit erschüttern und frei sein von taktischen Erwägungen. Eine wirkliche Konversion klingt so: „Kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewissheit wie ein Licht ins kummervolle Herz, dass alle Nacht des Zweifels verschwand” (Augustinus, „Confessiones”, Achtes Buch). Mehr als anderthalbtausend Jahre später und unter deutlich anderen Umständen hört sich das Konversionsbekenntnis dennoch verblüffend ähnlich an: „Das neue Licht scheint von allen Seiten in die Schädelhöhle hereinzudringen; die verwirrende Fülle der Erscheinungen nimmt plötzlich eine faßbare Gestalt an, als hätte ein Zauberstab die verstreuten Mosaikstücke eines Puzzle-Spiels mit einem Schlag zusammengefügt. Von nun an gibt es auf jede Frage eine Antwort.” So schildert Arthur Koestler in seiner Autobiographie „Der Gott, der keiner war”, was ihm bei der Erstlektüre der kommunistischen Klassiker widerfuhr. Wobei im Falle Koestlers wie vieler anderer westlicher Konvertiten zum Kommunismus, etwa Andre Gide, später die Konversion von der Konversion folgte, und man nicht genau weiß, welche von beiden die bedeutendere, die eigentliche war. Interessant ist, dass die Hinwendung oft schlagartig statfindet, die Abkehr dagegen ein langwieriger Prozess ist. Jedenfalls ist die Liste derjenigen, die sich vom Kommunisten zum Antikommunisten konvertierten, lang: Sie reicht von Ernst Niekisch bis Wolfgang Leonhard, von Lew Kopelew bis Andrej Sacharow, von Ernst Bloch bis Rudolf Bahro, von Ignatio Silone bis Stephane Cortois, Herausgeber des „Schwarzbuch des Kommunismus”, ein ehemaliger Maoist.
Aber was ist eine politische Konversion und was (noch) nicht? Nehmen wir Hortense de Beauharnais, Tochter von Josephine de Beauharnais, der Gattin Napoleons, bis zu ihrer Scheidung 1810 Königin von Holland und Mutter des späteren Kaisers Napoleon III. Sie verdankte Bonaparte alles, ihren Reichtum, ihren Ehemann, ihr Königreich, doch hatte sie nach dessen Abdankung anno 1814 nichts Eiligeres zu tun, als sich dem aus dem Exil zurückgekehrten Ludwig XVIII. zu Füßen zu werfen, ihm Treueschwüre zu leisten und um den Titel einer Herzogin zu bitten. Der greise Bourbone ließ sich erweichen und ernannte sie zur Herzogin von Saint-Leu. Als Napoleon aus seiner ersten Verbannung triumphal zurückkehrte, bekannte sie sich sofort wieder zum Bonapartismus…
Das ist natürlich keine Konversion, sondern nackter Opportunismus. Also ein anderes Beispiel: Im Mai 1904, drei Jahre nach seiner Wahl zum konservativen Abgeordneten, wechselte Winston Churchill zu den Liberalen. Er tat dies, indem er sich im Parlament einfach von seinem Platz erhob, von der Regierungspartei zur Oppositionsfraktion spazierte und neben Lloyd George Platz nahm (Jahre später kehrte er übrigens zu seiner einstigen Partei zurück). Der Übertritt zu den aufstrebenden Liberalen sicherte ihm die ewige Gegnerschaft vieler Konservativer, allerdings eben auch seinen ersten Ministerposten, weshalb hier von wahrer Konversion wohl auch nicht die Rede sein kann. Das gilt bei Parteiumsattlern in Demokratien wohl immer, wie prominente Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik illustrieren. Etwa der Wechsel von Günter Verheugen, Ingrid Matthäus-Maier und anderen 1982 aus der FDP in die SPD, nachdem ihre Partei eine Koalition mit der CDU eingegangen war. Die meisten Wechsler machten in der neuen Partei Karriere, denn der Zeitgeist stand damals längst auf ihrer Seite. Etwas ehrlicher meinten es jene ostdeutschen Bürgerrechtler, die nach dem Zusammenschluss von Bündnis 90 mit den Grünen lieber zur CDU überliefen, aber das war keine Konversion, sondern ein Beharren. Grundsätzlich scheint zu gelten: Wer von eher rechts nach eher links wechselt, hat bessere Karten, namentlich bei den Medien.
Andererseits ist der Wechsel von links nach rechts (oder eben: konservativ) eine biographisch wahrscheinlichere und irgendwie stimmigere Erscheinung, ultimativ formuliert vom späten Konvertiten Heinrich Heine: „Ich bin zurückgekehrt zu Gott, nachdem ich lange bei den Hegelianern die Schweine gehütet.” Und in wiederum ultimativer Peinlichkeit gerügt von Bertolt Brecht, der seinem Kollegen Alfred Döblin die Konversion zum Katholizismus nicht nachsehen mochte und in einem „Peinlicher Vorfall” betitelten Gedicht höhnte: „Da betrat der gefeierte Gott die Plattform, die den Künstlern gehört/Und erklärte mit lauter Stimme (…)/Daß er soeben eine Erleuchtung erlitten habe und nunmehr/Religiös geworden sei mit unziemlicher Hast/Setzte er sich herausfordernd einen mottenzerfressenen Pfaffenhut auf/Ging unzüchtig auf die Knie nieder und stimmte/Schamlos ein freches Kirchenlied an, so die irreligösen Gefühle/Seiner Zuhörer verletzend, unter denen Jugendliche waren.”
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer kleinen Welle halb religiöser, halb (anti-)völkischer Konversionen. Eine nicht genau bekannte Zahl deutscher Staatsbürger trat zum Judentum über, oft verbunden mit der Umsiedlung nach Israel. Es handelte sich, spöttelt der Publizist Henryk M. Broder, um einen „Wechsel auf die richtige Seite der Geschichte, aus der Volksgemeinschaft der Täter in die Leidensgemeinschaft der Opfer. Kann man sich klarer von der eigenen Geschichte distanzieren?”
Dieser Gedanke führt zur bislang letzten großen Gesinnungsbewegung, die Teile einer ganzen Alterskohorte erfasste – eine Art „Kollektivtaufe” –, und hierzulande mit dem Datum 1968 verbunden ist (die weit couragierteren DDR-Revolutionäre von 1989 berühren als gewissermaßen weltanschauungsfreie soziale Protestbewegung nicht unser Thema). Da die 68er die heutige Republik entscheidend geprägt haben, sollen sie hier ausführlicher im Sinne der Konversion dargestellt werden. 68er meint dabei nicht nur diejenigen politischen Aktivisten, die zwischen 1944 und 48 geboren sind, sondern einen Mentalitätswandel- und Kulturbruchbereitschaft, die etwas früher und später Geborene – etwa Otto Schily und Joschka Fischer – ebenfalls einschließt.
Es gibt heute in der Bundesrepublik kaum einen meinungsbildenden Intellektuellen, der nicht damals als Maoist oder Marxist herumgeisterte. Zahlreiche 68er wandelten sich bekanntlich im Laufe der Zeit zu Renegaten. Zum Beispiel Bernd Rabehl, einst Intimus von Rudi Dutschke, Mitglied der „Subversiven Aktion” und SDS-Mann der ersten Stunde: Er publiziert seit den späten 90er Jahren in der rechten „Jungen Freiheit” und sprach vor Burschenschaftlern sowie auf NPD-Veranstaltungen, wo er vor der kulturellen Überfremdung Deutschlands und daraus folgenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen warnte. Oder der Carl-Schmitt-Experte Günter Maschke, weiland ebenfalls bei der „Subversiven Aktion”, beim SDS und danach sogar in Castros Kuba kämpferisch tätig, wo er 1968 um politisches Asyl gebeten hatte, zwei Jahre später wegen Querulantentums freilich wieder ausgewiesen wurde: Zurück in Deutschland, saß er wegen Fahnenflucht ein Jahr im Gefängnis, aber nach den Kuba-Erfahrungen war aus dem Linken ein Rechter geworden. Oder Jörg Friedrich, einst Mitglied der Trotzkistischen Internationale und weltrevolutionärer Straßenkämpfer, später Verfasser des Weltbestsellers „Der Brand” und als Anprangerer der alliierten Bombenmassaker in Deutschland nach Ansicht der gerade aktuellen Gesinnungspresse ein schlimmer Kriegsschuld-Relativerer und Opfer-Aufrechner. Ganz zu schweigen vom RAF-Mitgründer Horst Mahler, von 2000 bis 2003 das NPD-Paradepferd, heute vor allem als Antisemit und Holocaust-Leugner tätig bzw. inhaftiert.
Aber sind all diese Renegaten auch Konvertiten?
Immerhin nämlich: Grün waren die 68er anfangs nicht im Geringsten (das galt damals noch als braun), feministisch noch weniger, viele verstanden sich sogar als ausgesprochen national (Dutschke etwa hatte 1961 noch gegen den Mauerbau demonstriert). Ihren rigide antipatriotischen und erpresserisch moralisierenden Zug bekamen die Bewegung erst, als man die sogenannte Vergangenheitsbewältigung als Karrierevehikel und Druckmittel entdeckt hatte. Die Außerparlamentarische Opposition (Apo) war in Wirklichkeit eine antiparlamentarische, man wollte sozialistische Räte einführen und nebenher Eliten, die Familie, Klotüren und das Sie abschaffen. Joschka Fischer widmete sich in den 70er Jahren dem „Kampf gegen das Unterdrückungssystem” und dessen „gestapoartige” Polizeimethoden. „Stalin war so ein Typ wie wir”, erklärte er 1977, „nicht nur, dass er sich auch als Revolutionär verstanden und gelebt hat, sondern er war im wahrsten Sinne des Wortes eben auch ein Typ.” Im Grunde führt von einer solchen Position so wenig ein Weg ins Auswärtige Amt wie vom Machismo der Kommunarden zu den Frauenquoten der Grünen. Was den Gedanken nahelegt, dass nicht die Renegaten der 68er, sondern viele 68er selber Konvertiten wurden. Ihre Konversion führte vom Kampf gegen das „Schweinesystem” in dessen Funktionärsränge. „Die Geschwindigkeit, mit der die moderne Gesellschaft ihre Feinde absorbiert, müsste unbegreiflich bleiben, wenn nicht das dem Anschein nach feindliche Gegröle die bloße Forderung nach kaum zu erwartender Beförderung wäre”, brachte der Aphoristiker Nicoás Gómez Dávila den Sachverhalt auf den Punkt. Während etwa für einen Horst Mahler der Feind ungefähr derselbe geblieben ist.
Sehr gut lässt sich die vermeintliche Konversion, die tatsächlich in der annähernden Beibehaltung der eigenen Positionen bei gleichzeitiger Drehung des Zeitgeistes bestand, am Beispiel des Publizisten Klaus Rainer Röhl studieren. Röhl war in den 50ern Mitglied der verbotenen KPD (aus Protest gegen das Verbot), 1955 gründete er das Hamburger Politmagazin „konkret”, das mit der berühmten „Röhlschen Mischung” aus Mao und Möpsen die Zeitschrift der politischen 68er wurde. Röhl war verheiratet mit Ulrike Meinhof und hatte mit ihr Zwillingstöchter. Vergleichsweise früh distanzierte er sich von den „drei Bastarden” der 68er Bewegung: Terrorismus, Feminismus, Drogenverharmlosung. 1973 putschte die „konkret”-Redaktion gegen ihren Chef – nach dessen späterer Einschätzung eine Stasi-Inszenierung. Der Putsch war nicht der einzige Anlass, zu dem den Links-Bohemien jene Geister heimsuchen, an deren Herbeirufung er nicht unbeteiligt war. Je weiter er auf Distanz zu den „drei Bastarden” ging, desto ungehaltener reagierten deren Protagonisten. 1970 entführten RAF-Sympathisanten seine damals siebenjährigen Töchter; mehrfach drangen Linksextremisten in sein Haus ein und demolierten das Inventar. „Ich hatte sehr viel Zeit, über die Folgen der von mir ausgelösten oder geduldeten Politik nachzudenken”, resümierte der Zauberlehrling des Zeitgeistes in seinem 1994 veröffentlichten Buch „Linke Lebenslügen”, zu dem ihm Helmut Kohl in einem persönlichen Brief gratulierte.
1975 war Röhl in die SPD eingetreten, Anfang der 90er wechselte er zur FDP, um deren (seit Jahren schwerstverpönten) nationalliberalen Flügel zu stärken. 1987 wählte er den Berliner Geschichtsprofessor Ernst Nolte zum Doktorvater und ergriff damit demonstrativ Partei „angesichts der maßlosen und ungerechtfertigten Kampagne” gegen ihn. Der Ex-Revoluzzer gehörte zu den Autoren des von der Linkspresse verketzerten neurechten Sammelbandes „Die selbstbewußte Nation”. Er verwarf nun nicht mehr nur die „Mißgeburten”, sondern sämtliche Resultate der 68er Revolte: „deutschen Selbsthaß”, „multikulturelle Null-Identität”, die „Anwendung des Faschismusverdachts auf im Grunde alle politischen Gegner”, „die totale Sehstörung bei der Beurteilung rechten und linken Terrors” oder „das Blockwartsystem der Politischen Korrektheit”.
Doch habituell blieb Röhl der Alte. 1974 konnte er, rückblickend auf die „konkret”-Anfänge, resümieren: „Wir waren national.” Im selben Jahr schrieb der SPD-Barde Jochen Steffen: „Wo immer politisch unterdrückt, geschurigelt, in die Ecke gedrängt wird, was links ist”, tauche sein Freund Röhl als Helfer der Geschurigelten auf. Ersetzt man in diesem Zitat „links” durch „rechts”, zeigt sich eine gewisse Konstanz im Wandel. Ähnliches gilt, wenngleich etwas fundamentaler, für den bereits erwähnten Günter Maschke, der zum Beispiel Joschka Fischer keineswegs dessen Angriffe auf Polizisten vorwirft, sondern dass er später die Seiten gewechselt hat.
Heute schicken die einstigen Vietnamkriegsgegner und erklärten Pazifisten selber deutsche Soldaten (die sie zugleich sanft verachten) in andere Länder. Auffällig ist auch, dass führende Grünen-Politiker nach ihrer politischen Karriere bei jenen Unternehmen gelandet sind, die sie vorher bekämpft haben: Rezzo Schlauch etwa wurde Mitglied im Beirat von EnBW, eines der größten deutschen Kernkraftwerksbetreibers, Gunda Röstel ging zu einer Tochterunternehmen des Energiekonzerns E.ON, der ebenfalls AKWs unterhält. Das Zeitgeist-Phänomen 1968 löst sich am Ende auf in eine Schar mehr oder weniger erfolgreicher Karrieristen, die zwar ihre mentalen Vorbehalte gegen System, Land und Volk nicht lassen wollen und mit beharrlich kritischem Habitus weiter revolutionäres Theater spielen, aber konversionsgeneigt an ihre Altersvorsorge denken, sowie ein paar Renegaten, die im eigentlichen Sinne keine Konvertiten sind, aber persönliche Nachteile bis zur Ächtung in den Kauf nehmen.
Die westlichen Gesellschaften arbeiten daran, die Konversion für immer abzuschaffen, indem sie ihr den Grund entziehen. Ihr Reich ist entschieden von dieser Welt, jenes irdische Paradies, das der Kommunismus bloß verhieß, scheint im demokratischen Konsumismus Wirklichkeit geworden zu sein. Nie ging es Menschen materiell und körperlich besser. Auf immer mehr Unverständnis wird stoßen, wer die modernen Plastikwelten, ihren synthetischen Glücksangebote und Kollektiv-Individualismen ablehnt, um stattdessen nach existentiellen Elementarerlebnissen, nach Selbstaufoperung, Treue und Schmerz, nach Gott, dem Sinn von Sein und ähnlichen Absurditäten zu suchen. Hatten alles bisherigen Kulturen und Religionen die Triebe domestiziert, darf der moderne Westeuropäer seine Sexualität hemmungslos ausleben. Alles ist erlaubt, alles ist zugleich beliebig und entheiligt. Der Naturzustand, der den Kulturen vorausging, ist wiederhergestellt, nur eben mit allem technischen Luxus. Der sogenannte Wertepluralismus entspricht in gewissem Sinne dem antiken Polytheismus, er kennt bloß weder dessen Pracht noch dessen Nöte. Freilich wird dieses System womöglich nur solange funktionieren, wie es die von ihm notorisch erzeugten Bedürfnisse zu stillen weiß. Eine kurze Periode des Mangels dürfte genügen, es auf eine empfindliche Probe zu stellen – von der Möglichkeit einmal ganz abgesehen, dass es sich durch Vernutzung aller Ressourcen selbst auffrisst.
Es wird innerhalb der Wohlstandsdemokratie nur Konversion geben, die aus ihr hinaus führen. Kommt es zu großen Verteilungskrisen und ethnischen Konflikten, werden parallel dazu die Sinnkrisen wieder offen ausbrechen. Der Gedanke an neue Konvertitenscharen ist heute nicht mehr so abwegig wie vor zwanzig Jahren, als der Kommunismus zusammenbrach und der Westen als strahlender Sieger dastand. Die Geschichte wird weitergehen, ob es einem nun passt oder nicht.
Erschienen in: eigentümlich frei, Nr. 89, Februar 2009, S. 20 ff.