2000 Jahre Niedergang

Von der Wie­ge Euro­pas zum Hin­ter­hof Euro­pas: Grie­chen­lands Abstieg ist bei­spiel­los. Wie konn­te das passieren?

Auch gro­ße Phi­lo­so­phen kön­nen sich irren – man­che durch­aus „zeit­nah“, bei ande­ren dau­ert es schon mal Jahr­hun­der­te, bis der Irr­tum offen­bar wird. Zu Letz­te­ren gehört Aris­to­te­les mit sei­ner Fest­stel­lung, die Bewoh­ner der kal­ten Gegen­den Euro­pas sei­en, anders als die Völ­ker des Südens, an geis­ti­ger Ein­sicht arm und zu ech­ter Staa­ten­bil­dung unfähig.

Heu­te gilt eher das Gegen­teil. Aber viel­leicht sind die staat­lich inzwi­schen eher sta­bi­len Völ­ker des Nor­dens ja wirk­lich mit­un­ter an geis­ti­ger Ein­sicht arm – hät­ten sie sonst ein­ge­wil­ligt, die wert­lo­se Drach­me auf letzt­lich ihre Kos­ten gegen den Euro aus­zu­tau­schen? Ande­rer­seits ist gera­de dies ein in hohem Maße geis­tig moti­vier­ter Akt gewe­sen. Die Drach­me, das war die ältes­te Münz­wäh­rung des Kon­ti­nents, mit ihr hat­ten bereits Leo­ni­das, Peri­kles oder Euri­pi­des bezahlt. Men­schen, in deren Beu­tel Drach­men klim­per­ten, haben dem Erd­teil sei­nen Namen gege­ben und sei­ne kul­tu­rel­len Grund­la­gen geschaffen.

Wer sich ver­deut­li­chen will, was für ein ein­zig­ar­ti­ges Aus­strah­lungs­phä­no­men das alten Grie­chen­land war, muss nur durch euro­päi­sche Gemäl­de­ga­le­rien wan­deln, sich die klas­si­zis­ti­schen Bau­ten in den gro­ßen Städ­ten des Wes­tens anschau­en oder den Blick zum Him­mel rich­ten. Die Erde aus­ge­nom­men, hei­ßen alle Pla­ne­ten unse­res Son­nen­sys­tems nach hel­le­ni­schen Gott­hei­ten (sechs in lati­ni­sier­ter Form). Noch der letz­te Jupi­ter­mond trägt einen Namen aus der grie­chi­schen Mythologie.

Auch den Ster­nen­him­mel hat mytho­lo­gi­sches Per­so­nal aus Hel­las erobert, von Ori­on, Her­ku­les und Kas­sio­peia über die Dio­s­ku­ren und Ple­ja­den bis hin zu Per­seus und Andro­me­da. Mit einer gewis­sen Fol­ge­rich­tig­keit tru­gen die Rake­ten, mit denen US-Astro­nau­ten auf dem Mond lan­de­ten, den Namen des Apollo.

Die Grie­chen haben die Demo­kra­tie erfun­den, die Tra­gö­die, die Phi­lo­so­phie, die Olym­pi­schen Spie­le, das Sym­po­si­on und den geschrie­be­nen Vokal – Grund genug, ihren Nach­fah­ren die Mög­lich­keit zu geben, nun­mehr ihre Schul­den in Euro anhäu­fen zu können?

Aber wer sind über­haupt ihre Nach­fah­ren? „Kein Trop­fen des alten Hel­den­blu­tes fließt unge­mischt in den Adern der jet­zi­gen Neu­grie­chen“, befand anno 1830 der Ori­en­ta­list Jakob Phil­ipp Fall­me­ray­er und rüg­te die zeit­ge­nös­si­schen Grie­chen­land­freun­de: „Eure schwär­me­ri­sche Teil­nah­me ist ver­schwen­det an ein ent­ar­te­tes Geschlecht, an die Abkömm­lin­ge jener sla­wi­schen Unhol­de, die im fünf­ten und sechs­ten Jahr­hun­dert über das byzan­ti­ni­sche Reich her­ein­bra­chen und die hel­le­ni­sche Natio­na­li­tät mit Stumpf und Stiel aus­rot­te­ten.“ Und zu Fall­me­ray­ers Zei­ten stan­den die größ­ten Bevöl­ke­rungs­ver­schie­bun­gen durch die Tür­ken noch bevor.

In der Tat dürf­ten die heu­ti­gen Grie­chen kaum mehr mit jenen ver­wandt sein, die in der Anti­ke das Land bevöl­ker­ten und die­se stau­nens­wer­te Kul­tur schu­fen. Auf einem Süd­zip­fel des Pelo­pon­nes, auf der Halb­in­sel Mani sol­len die letz­ten „ech­ten“ Grie­chen leben, so wie die letz­ten „ech­ten“ Kel­ten in Irland sie­deln und die letz­ten „ech­ten“ Ägyp­ter die Kop­ten sind. Und die letz­ten „ech­ten“ Ger­ma­nen? Ach, las­sen wir das.

Die moder­nen Grie­chen bewei­sen ihre Unähn­lich­keit mit ihren Vor­fah­ren jeden­falls qua­si täg­lich. Das Land, das Sokra­tes und Pla­ton, Myron und Phi­di­as, Pin­dar und Sopho­kles, Pytha­go­ras und Thuky­di­des her­vor­brach­te, besitzt heu­te kei­nen bedeu­ten­den Dich­ter, Kom­po­nis­ten, bil­den­den Künst­ler oder Phi­lo­so­phen. Auch kei­nen Welt­star in irgend­ei­nem ande­ren Gen­re (die Cal­las war der letz­te und ein­zi­ge). Seit El Gre­co hat Hel­las kei­nen Maler von Welt­rang erzeugt. Aus Grie­chen­land kommt fast nie ein Film, über den man in Euro­pa redet. Die bedeu­tends­ten grie­chi­schen Dich­ter der Gegen­wart sind jene Sta­tis­ti­ker, die der EU unter­ju­bel­ten, ihr Staats­haus­halt sei gesund und die land­wirt­schaft­li­che Nutz­flä­che ihres Lan­des über­tref­fe des­sen Gesamtfläche.

Wer etwas wer­den will, geht ins Aus­land. Die Hand voll welt­weit aner­kann­ter grie­chi­scher Phy­si­ker und Kos­mo­lo­gen etwa arbei­tet in den USA. Der bekann­tes­te Grie­che der Gegen­wart indes heißt Otto Reh­ha­gel, das Spiel sei­ner Mann­schaft ist unge­fähr so attrak­tiv wie ein Athe­ner Vor­ort. Vier der sie­ben anti­ken Welt­wun­der stan­den in Grie­chen­land; heu­te voll­brin­gen grie­chi­sche Bau­meis­ter Glanz­ta­ten wie jenen Tun­nel­bau nahe der Stadt Koza­ni, wo sich die Gra­bungs­kom­man­dos, die von jeweils einer Sei­te des Ber­ges star­te­ten, in der Mit­te um 35 Meter ver­fehl­ten. Nach jedem Erd­be­ben wird in der Öffent­lich­keit dis­ku­tiert, ob man nicht auch erd­be­ben­si­che­re Häu­ser bau­en könn­te. Stadt­pla­nung ist seit 2000 Jah­ren kein The­ma. Halb Atti­ka ist inzwi­schen mit Beton­sied­lun­gen von unglaub­li­cher Häss­lich­keit zuge­stellt. Müll­hau­fen, ero­die­ren­de Böden und noto­risch bren­nen­de Wäl­der gehö­ren heu­te zu Grie­chen­land wie der­einst Tem­pel, Drei­fü­ße und Opferrauch.

Athen war um 1800 ein Fle­cken mit 5000 Ein­woh­nern, die zwi­schen den anti­ken Trüm­mern ihr Vieh wei­de­ten, um 1900 leb­ten dort 130000 Men­schen, heu­te sind es mehr als drei Mil­lio­nen. Das explo­si­ons­ar­ti­ge Wachs­tum, eine Fol­ge all­ge­mei­ner Land­flucht, voll­zog sich in der Haupt­stadt wie anders­wo ohne Vor­satz und Plan und ver­wan­del­te Athen in jenen stin­ken­den Moloch, als wel­cher die „Wie­ge der Demo­kra­tie“ heu­te berüch­tigt ist. Als logi­sche Fol­ge setz­te seit den 1980er-Jah­ren eine tem­po­rä­re Stadt­flucht ein. Zahl­rei­che wil­de Sied­lun­gen ent­stan­den ent­lang der Küs­te, eine knap­pe hal­be Mil­li­on Schwarz­bau­ten für die Som­mer­fri­sche, deren enor­me Unan­sehn­lich­keit ver­deut­licht, dass der einst­mals in jenem Welt­teil herr­schen­de Sinn für Pro­por­tio­nen wohl gänz­lich aus­ge­stor­ben ist. „Die all­zu men­schen­rei­che Stadt kann nur schwer, viel­leicht über­haupt nicht in Ord­nung gehal­ten wer­den“, schrieb Aris­to­te­les. Die heu­ti­gen Grie­chen demons­trie­ren, dass sie auch klei­ne­re Orte mühe­los in einen Zustand kom­plet­ter Ver­wahr­lo­sung ver­set­zen können.

Im Alter­tum war Grie­chen­land eine der füh­ren­den See­mäch­te. Noch heu­te hat das Land mit sei­nen 14000 Kilo­me­tern Küs­te eine der größ­ten Flot­ten der Welt. Doch wer auf eine grie­chi­sche Fäh­re steigt, weiß, wor­auf er sich ein­lässt: die Fort­set­zung der Odys­see mit den Mit­teln des Fremdenverkehrs.

Hel­las besitzt ein ein­zi­ges Opern­haus und nur einen rich­ti­gen Kon­zert­saal; im Lan­de des Orpheus und des Kit­ha­ra­spie­lers Apol­lo ist die Ton­kunst im Grun­de über die Volks­mu­sik nie hin­aus­ge­kom­men. Die Pisa-Stu­di­en, bei denen Grie­chen­land hin­te­re Plät­ze beleg­te, wur­den weder von den Poli­ti­kern noch von den Medi­en über­haupt zur Kennt­nis genommen.

Grie­chen­land scheint das idea­le Bei­spiel zu sein für die Theo­rie des Geschichts­den­kers Oswald Speng­ler, dass Kul­tu­ren Orga­nis­men sind, die not­wen­dig einen Lebens­zy­klus von der Jugend über Blü­te und Rei­fe­zeit bis zum Ver­fall durch­lau­fen. Frei­lich dau­ert die­ser Abstieg von so bei­spiel­lo­ser Höhe inzwi­schen schon 2000 Jahre.

Was das anti­ke Grie­chen­land von den ande­ren Kul­tu­ren des Alter­tums unter­schied (von der römi­schen Repu­blik abge­se­hen), war das Feh­len einer Zen­tral­ge­walt, eines Allein­herr­schers – gewiss eine Fol­ge der Geo­gra­fie, doch auf geheim­nis­vol­le Wei­se ver­knüpft mit der Herr­schaft des Wett­be­werbs­ge­dan­kens. Eris, die Göt­tin der Zwie­tracht, exis­tiert Hesi­od zufol­ge in zwei­er­lei Gestalt: Die eine „för­dert den schlim­men Krieg und Hader“, die ande­re „treibt auch den unge­schick­ten Mann zur Arbeit; und schaut einer, der des Besitz­tums erman­gelt, auf den ande­ren, der reich ist, so eilt er sich in glei­cher Wei­se zu säen und zu pflan­zen und das Haus wohl zu bestel­len (…) Gut ist die­se Eris für den Men­schen.“ Dass Neid in der Welt war, schrie­ben die Grie­chen einer wohl­tä­ti­gen Gott­heit zu. „Dem Neid ent­geht nur, wer sei­ner nicht wür­dig ist“, spricht die myke­ni­sche Köni­gin Kly­taim­nes­tra in Aischy­los´ Tra­gö­die „Aga­mem­non“.

Die­ses Gefühl durch­zog den gesam­ten All­tag – die Hel­le­nen konn­ten sich ihre Tätig­kei­ten gar nicht anders den­ken als im Wett­streit. „Wo immer wir hin­bli­cken, sto­ßen wir bei den Grie­chen auf ein Sich-Mes­sen“, schreibt der His­to­ri­ker Chris­ti­an Mei­er. „Täg­lich erfolg­te es auf der Ago­ra, wo man sich traf.“

Nicht nur Sport­ler und Krie­ger befan­den sich im stän­di­gen Wett­be­werb – wobei Letz­te­re bei Homer und Hero­dot nicht nur nach ihren Taten, son­dern oben­drein nach ihrer Schön­heit „gerankt“ wer­den -, auch die Sän­ger und Tra­gö­di­en­dich­ter, Rhe­to­ren und Bild­hau­er sta­chel­te der Ehr­geiz, der Ers­te zu sein an. „Auf jetzt, die ihr die bes­ten Tän­zer seid der Phäaken“, ruft deren König Alki­no­os, bei dem Odys­seus zu Gast ist, „tanzt uns nun etwas vor, damit der Frem­de den Seinen/Dann zu Hau­se berich­te, wie weit wir den ande­ren vor­aus sind/Im Gesang und im Tanz, im Wett­lauf und in der See­fahrt.“ Pla­tons berühm­tes „Sym­po­si­on“ ist nur der äuße­ren Form nach ein Gela­ge; tat­säch­lich fin­det ein Wett­streit statt, wel­cher Teil­neh­mer die bes­te Rede auf den Eros hält. Sogar die reli­giö­sen Fes­te bestan­den aus Ago­nen, man ließ nicht einen Chor sin­gen, son­dern meh­re­re tra­ten gegen­ein­an­der an.

Gan­ze Städ­te wett­ei­fer­ten, wer die bes­ten Sport­ler und Künst­ler her­vor­brach­te oder die schöns­ten Tem­pel besaß. Die grie­chi­sche Demo­kra­tie ist im Grun­de der Ver­such gewe­sen, opti­ma­le Kon­kur­renz­be­din­gun­gen zu schaf­fen und die Domi­nanz eines Ein­zel­nen aus­zu­schlie­ßen. Noch das Scher­ben­ge­richt dien­te dem Agon. „Das ist der Kern der hel­le­ni­schen Wett­kampf-Vor­stel­lung: sie ver­ab­scheut die Allein­herr­schaft und fürch­tet ihre Gefah­ren, sie begehrt, als Schutz­mit­tel gegen das Genie – ein zwei­tes Genie“, hielt Fried­rich Nietz­sche fest. Von die­sem Geist ist heu­te im Land der Vet­tern­wirt­schaft bis auf Regie­rungs­ebe­ne nichts übrig.

Die Schat­ten­sei­te des per­ma­nen­ten Wett­ei­ferns war die Grau­sam­keit, mit wel­cher die­ses „lie­der­li­che Artis­ten­völk­chen“ (Tho­mas Mann) Bru­der­krie­ge führ­te. Mit dem Pelo­pon­ne­si­schen Krieg (431–404 v. Chr.) lösch­te sich das Land als Akteur der Geschich­te qua­si selbst aus. An des­sen Ende for­der­ten zwei der mit Spar­ta ver­bün­de­ten Städ­te, das besieg­te Athen „zur Schaf­wei­de“ zu machen – die Spar­tia­ten frei­lich lehn­ten ab und schleif­ten nur die Stadtmauern.

Wenn man den Nie­der­gang der grie­chi­schen Kul­tur an jenen des Wett­be­werbs­ge­dan­kens knüpft, beginnt er schon mit der Herr­schaft der Make­do­ni­er­kö­ni­ge Phil­ipp II. und Alex­an­der der Gro­ße. Nach­dem 146 vor Chris­tus die Römer Grie­chen­land erobert hat­ten, über­nah­men die Grie­chen die Idee, fort­an Römer zu sein – bis heu­te bezeich­nen sie sich so und das Grie­chen­tum als „Romios­si­ni“. Im Gegen­zug mach­te sich Rom „die grie­chi­schen Wis­sen­schaf­ten und die gesam­te grie­chi­sche Kul­tur zu eigen“, wie der Geschichts­schrei­ber Plut­arch notierte.

326 nach Chris­tus erhebt der römi­sche Kai­ser Kon­stan­tin I. das Grie­chen­nest Byzan­ti­on wegen sei­ner idea­len Lage zur neu­en Haupt­stadt Kon­stan­ti­no­pel, vier Jah­re spä­ter wird die Stadt ein­ge­weiht. Zum Zweck ihrer Zier­de befiehlt der Kai­ser einen der bar­ba­rischs­ten Kunst­rau­be aller Zei­ten. Zahl­rei­che grie­chi­sche Städ­te wer­den geplün­dert, die Skulp­tu­ren der bedeu­tends­ten atti­schen Bild­hau­er ver­schleppt. Auch das Rie­sen­stand­bild des Apol­lo aus Del­phi gelangt so nach Kon­stan­ti­no­pel und bekommt dort einen neu­en Kopf: den Konstantins.

In Kon­stan­ti­no­pel voll­brach­ten grie­chi­sche Bau­meis­ter ihre letz­te archi­tek­to­ni­sche Groß­tat: Ant­he­mi­os von Tral­les und Isodor von Milet schu­fen die 537 geweih­te Hagia Sophia. Wäh­rend Neu-Rom blüh­te, ver­öde­ten die einst so bedeu­ten­den Grie­chen­städ­te. Zwar war Grie­chisch die meis­te Zeit Amts­spra­che des byzan­ti­ni­schen Rei­ches, doch Zen­tral­ge­walt, Kai­ser­kult und Chris­tia­ni­sie­rung zer­stör­ten die ursprüng­li­che grie­chi­sche Artis­ten­men­ta­li­tät. Dass es in einem Land, des­sen öffent­li­che Plät­ze einst mit Göt­ter­skulp­tu­ren über­sät waren, im ach­ten Jahr­hun­dert zu einem Streit dar­über kom­men konn­te, ob es erlaubt sei, Hei­li­gen­bil­der her­zu­stel­len, illus­triert den Para­dig­men­wech­sel. Natür­lich han­del­te es sich längst aus­schließ­lich um Dar­stel­lun­gen christ­li­cher Figuren.

„Jedem Volk ist eine Frist gesetzt“, notier­te der Pro­phet Moham­med, ganz ana­log zum Geschichts­phi­lo­so­phen Speng­ler, nur mehr als 1000 Jah­re frü­her. Den end­gül­ti­gen Nie­der­gang Grie­chen­lands besie­gel­ten denn auch die Osma­nen. Nach der Erobe­rung Kon­stan­ti­no­pels anno 1453 geriet Hel­las für fast vier Jahr­hun­der­te unter tür­ki­sche Herr­schaft. Von der Hagia Sophia stürz­ten die Kreu­ze. Die Tür­ken­zeit war für die Mehr­heit der Grie­chen eine Kata­stro­phe. Fort­an gal­ten sie als Men­schen zwei­ter Klas­se, erlit­ten die Schi­ka­nen der Fremd­herr­schaft und der Über­frem­dung ihres Lan­des durch vor allem alba­ni­sche Ein­wan­de­rer. 1822 mas­sa­krier­ten tür­ki­sche Trup­pen über 20000 Grie­chen auf der Insel Chi­os, 45000 wur­den in die Skla­ve­rei verkauft.

Nach der Unab­hän­gig­keit schwel­te der grie­chisch-tür­ki­sche Kon­flikt wei­ter. Gräss­li­cher Höhe­punkt war die soge­nann­te klein­asia­ti­sche Kata­stro­phe 1923: Andert­halb Mil­lio­nen grie­chisch­stäm­mi­ge Bewoh­ner Klein­asi­ens, die dort seit Jahr­hun­der­ten leb­ten, wur­den von den Tür­ken ver­trie­ben, in den 1950er-Jah­ren kamen noch meh­re­re hun­dert­tau­send Grie­chen aus Istan­bul und Ägyp­ten dazu.

Im Schick­sal der Athe­ner Akro­po­lis spie­gelt sich die Ver­falls­ge­schich­te des Lan­des. Im sechs­ten Jahr­hun­dert wur­de der Par­the­non in eine christ­li­che Kir­che umge­wan­delt. In byzan­ti­ni­scher Zeit resi­dier­te der Pro­vinz­gou­ver­neur auf der Akro­po­lis, nach der Erobe­rung durch die Osma­nen der tür­ki­sche Stadt­kom­man­dant. Die Tür­ken mach­ten aus dem Par­the­non eine Moschee (mit ange­bau­tem Mina­rett), das Ere­chthei­on ver­wan­del­ten sie kur­zer­hand in einen Harem. Wäh­rend der Bela­ge­rung Athens durch die Vene­zia­ner 1687 traf ein Kano­nen­schuss den Tem­pel, in dem die Tür­ken ihr Schieß­pul­ver lager­ten. Der herr­li­che Bau wur­de irrepa­ra­bel beschädigt.

Nament­lich den grä­ko­phi­len deut­schen Klas­si­kern war nicht nur die Anti­ke selbst ein gro­ßes The­ma, son­dern die Trau­er über den Ver­lust die­ser Welt. „Atti­ka, die Hel­din ist gefallen;/Wo die alten Göt­ter­söh­ne ruhn,/Im Ruin der schö­nen Marmorhallen/Steht der Kra­nich ein­sam trau­ernd nun“, klag­te Höl­der­lin. „Was unsterb­lich im Gesang soll leben“, trös­te­te sich Schil­ler, „muß im Leben untergehn.“

Pro­sa­ischer, aber nicht min­der trau­rig, äußer­te sich der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler und Diplo­mat Fran­çois-René de Cha­teau­bri­and nach einer Besich­ti­gung des Posei­don­tem­pels auf Kap Suni­on im Jahr 1806: „Um mich her­um waren Grä­ber, Schwei­gen, Zer­stö­rung, Tod und eini­ge grie­chi­sche Matro­sen, die sor­gen­frei und gedan­ken­los auf Grie­chen­lands Trüm­mern schlie­fen. Ich ver­ließ die­ses gehei­lig­te Land auf immer, den Kopf mit sei­ner ver­gan­ge­nen Grö­ße und gegen­wär­ti­gen Ernied­ri­gung angefüllt.“

Die Ernied­ri­gung ist heu­te been­det, der Nie­der­gang indes all­ge­gen­wär­tig. Aber befin­det sich nicht der gesam­te Mit­tel­meer­raum, Ita­li­en etwa, in einer ähn­li­chen Situa­ti­on? Teils, teils. Die Ita­lie­ner sind immer­hin nach wie vor Welt­spit­ze in Sachen Mode und vor allem in der Gas­tro­no­mie. Grie­chi­sche Mode? Grie­chi­sches Design? Nie gehört. Und um die Küche machen Fein­schme­cker einen gro­ßen Bogen.

Der Koch Mit­hai­kos von Sizi­li­en, immer­hin von Pla­ton erwähnt, galt sei­nen Zeit­ge­nos­sen als „der Phi­di­as der Küche“ – heu­te gibt es kei­nen berühm­ten grie­chi­schen Herd­künst­ler und im gan­zen Land nur drei Loka­le mit Miche­lin-Ster­nen (in zwei­en davon kocht man französisch).

In sei­ner „Gast­mahl­kun­de“ schwärmt Archestra­tos von Gela, ein rei­sen­der Gour­met aus dem vier­ten Jahr­hun­dert vor Chris­tus, über einen Fisch aus Rho­dos: „Wenn sie ihn dir nicht ver­kau­fen wol­len, dann nimm ihn mit Gewalt. Danach magst du ruhig dein Schick­sal auf dich neh­men.“ Heu­te heißt das Schick­sal zuwei­len Sodbrennen.

Für jede Art Sod­bren­nen gut ist, mit weni­gen Aus­nah­men, auch der grie­chi­sche Wein. Atti­scher Reben­saft genoss im Alter­tum einen exzel­len­ten Ruf und wur­de über­schwäng­lich besun­gen. Ein Haupt­un­ter­schied zwi­schen Zivi­li­sa­ti­on und Bar­ba­rei bestand für die alten Grie­chen dar­in, dass die Bar­ba­ren Bier tran­ken. Heu­te sind es eher die Bar­ba­ren, die grie­chi­schen Wein trinken.

Als Grie­che gebo­ren zu sein sei ein „erha­be­ner Fluch“, schrieb die Schau­spie­le­rin und lang­jäh­ri­ge grie­chi­sche Kul­tur­mi­nis­te­rin Melina Mer­cou­ri in ihrer Auto­bio­gra­fie. „Für erstaun­lich vie­le Leu­te heißt dies offen­bar, dass man per­sön­lich die Akro­po­lis gebaut, Del­phi gegrün­det, das Thea­ter erschaf­fen und den Begriff der Demo­kra­tie erfun­den hat.“

Nein, kein Mensch denkt das mehr. 

 

 

Erschie­nen in: Focus 8/2010, S. 132–136

 

Dem Arti­kel folg­ten hun­der­te empör­te bis belei­di­gen­de Brie­fe bzw. Mails von ent­rüs­te­ten Grie­chen. Die zurech­nungs­fä­hi­gen unter ihnen zähl­ten mir ihre heu­ti­gen bedeu­ten­den Lands­leu­te auf, ver­wie­sen auf die his­to­ri­schen Ursa­chen ihrer Pro­ble­me, auf den – von mir unbe­strit­te­nen – kul­tu­rel­len Nie­der­gang  Deutsch­lands, die Ein­sei­tig­keit mei­ner Pole­mik, die Tat­sa­che, dass von der Höhe der anti­ken Kul­tur ja nur ein Abstieg mög­lich war usw.

Sagen wir mal so: Sie wis­sen, dass ich recht habe, und ich weiß, dass sie recht haben.

 

Nach­trag: Acta diur­na vom 1. Mai 2016

Wie ich ein­mal ganz allein das grie­chisch-deut­sche Ver­hält­nis zer­stör­te, hier.

Mei­ne (übri­gens Hen­ry Lou­is Men­ckens Tira­den sacht nach­ei­fern­de) Phil­ip­pi­ka fällt nach die­sem fan­fa­ri­schen Prä­lu­di­um womög­lich ein biss­chen ab, soll­te aber zum Ver­gleich her­an­ge­zo­gen wer­den. Die spä­ter­zürn­ten Hoch­be­gab­ten, die jetzt auf Leser­fo­ren dar­über befin­den, ob die­ser Text ras­sis­tisch sei, soll­ten lie­ber dar­über dis­ku­tie­ren, ob sei­ne zen­tra­le The­se rich­tig oder falsch ist. Immer­hin berührt sie eines der inter­es­san­tes­ten und geheim­nis­volls­ten Phä­no­me­ne der Welt­ge­schich­te (ohne es im ent­fern­tes­ten erklä­ren zu kön­nen bzw. zu wol­len), näm­lich die Tat­sa­che, dass Groß­kol­lek­ti­ve, Völ­ker, einen eige­nen unver­wech­sel­ba­ren Stil bil­den, letzt­lich das, was Speng­ler „Ras­se” nann­te – und wel­ches Mensch­heits­kol­lek­tiv wäre stil­bil­den­der und genia­ler gewe­sen, als das „lie­der­li­che Artis­ten­völk­chen” (Th. Mann) der Hel­le­nen? –, dass sie aber irgend­wann die Kraft dazu ver­lie­ren und als Akteu­re der (Kultur-)Geschichte abtre­ten. Die Juden, um das ein­zu­schie­ben, zei­gen übri­gens eine beacht­li­che Beharr­lich­keit, dies nicht zu tun, und vor allem pro­du­zie­ren sie mit eben­je­ner Beharr­lich­keit, in immer wech­seln­den For­men, Intelligenz.

Die Grün­de für einen Nie­der­gang kön­nen vie­le sein, frem­de Erobe­rer oder Kon­kur­ren­ten, Kata­stro­phen, Deka­denz etc. Im Fal­le der Grie­chen – und noch deut­li­cher: der Ägyp­ter –, so mei­ne The­se, lag es an der Über­la­ge­rung durch ande­re, weni­ger ent­wi­ckel­te, mit weni­ger Stil­wil­len aus­ge­stat­te­te, weni­ger genia­le Völ­ker­schaf­ten (neben einer gewis­sen Erschöp­fung bzw., was die Hel­le­nen angeht, einem kul­tu­rell Sich-zu-Tode-gesiegt-haben). Dass es nicht nur ver­schie­den begab­te Ein­zel­ne, son­dern auch ver­schie­den begab­te Kol­lek­ti­ve und eben­so Kul­tu­ren ver­schie­de­nen Ran­ges gibt, ist zwar so ein­deu­tig wie die Exis­tenz von Son­ne und Mond, aber für einen acht­ba­ren kul­tur­re­la­ti­vis­ti­schen Anti­ras­sis­ten die übels­te aller Tat­sa­chen, deren schie­re Erwäh­nung bereits unter Straf­an­dro­hung fal­len soll­te, denn alle Men­schen und Kul­tu­ren sind gleich, zumin­dest im Wol­ken­ku­ckucks­heim bzw. in der lich­ten sozia­lis­ti­schen Zukunft der ver­brü­der­ten Welt­schwes­tern­ge­sell­schaft (wel­che wahr­schein­lich der Mensch­heit, aber ganz sicher mir am Ende gott­lob erspart bleibt). 

In einer Talk­schau im öster­rei­chi­schen TV sag­te Thi­lo Sar­ra­zin ein­mal die geflü­gel­ten Wor­te „1,5 Mil­li­ar­den Mus­li­me, und kein ein­zi­ger Nobel­preis!” Wor­auf­hin eine mus­li­mi­sche Dabei­sit­ze­rin sich erei­fer­te, es sei uner­hört, dass er sol­che ras­sis­ti­schen Behaup­tun­gen über­haupt öffent­lich aus­spre­chen dür­fe. Noch Fra­gen?

Mein „Fall” wur­de übri­gens vor dem, wenn ich rich­tig im Bil­de bin, höchs­ten Gericht Athens ver­han­delt; mit Schrei­ben vom 31. Janu­ar 2011 for­der­te der Staats­an­walt beim Pro­to­di­keio acht Focus-Redak­teu­re auf, „vor dem IA Trim­e­les Plim­me­lei­o­di­keio Athen (…) per­sön­lich zu erschei­nen”,  um „wegen der nach­ste­hen­den Straf­ta­ten abge­ur­teilt (zu) wer­den”. (Das Ver­fah­ren wur­de selbst­re­dend eingestellt.)

Was mei­nen Teil angeht, zitie­re ich aus der Ankla­ge­schrift den erle­sens­ten Part, näm­lich: „Sie wer­den beschul­digt, (…) meh­re­re Straf­ta­ten, die gesetz­lich umschrie­ben und mit Stra­fe bedroht sind, began­gen (zu) haben, und zwar (…) bewusst gegen­über Ihren Lesern behaup­tet (zu) haben” – jetzt fol­gen die Punk­te a bis f, wobei f lau­tet –: „den grie­chi­schen Wein trin­ken nun­mehr nur die Bar­ba­ren”.
Dar­auf einen Dujardin!

PS: Ich habe übri­gens nicht das Gerings­te gegen die Griechen.

 

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