Staatsfeind Nummer eins?

Die Reak­tio­nen auf Thi­lo Sar­ra­zins neu­es Buch sind eine Kir­mes des Anti-Plu­ra­lis­mus. Wir argu­men­tie­ren nicht mehr, wir has­sen ein­fach

Die Bücher von Thi­lo Sar­ra­zin besit­zen etwas Magi­sches: Ihr Inhalt teilt sich ihren Kri­ti­kern ohne vor­he­ri­ge Lek­tü­re mit. Es begann mit Ange­la Mer­kel als Qua­si-Erst­re­zen­sen­tin des von ihr unge­le­se­nen „Deutsch­land schafft sich ab“ („wenig hilf­reich“) und setzt sich die­ser Tage fort. Die „Zeit“ wuss­te bereits im März, dass in „Euro­pa braucht den Euro nicht“ dem „inne­ren Feind“ aus dem ers­ten Buch nun „ein äuße­rer bei­gesellt“ wer­de, der „Stern“ druck­te vor dem Erschei­nen eine Titel­ge­schich­te über das unge­le­se­ne Buch und warf dem Autor vor, lang­wei­li­ge Fak­ten­hu­be­rei zu betrei­ben und zugleich ein schreck­li­cher Ver­ein­fa­cher zu sein. 

„Sar­ra­zin ern­tet hef­ti­ge Kri­tik für Talk­show-Auf­tritt bei Jauch“, wuss­te Spie­gel online schon sechs Stun­den vor der Sen­dung, und eine Kolum­nis­tin der „Ber­li­ner Zei­tung“ beklag­te am Sams­tag „die Ver­plem­pe­rung unse­rer Fern­seh­ge­büh­ren für die­se lis­peln­de, stot­tern­de, zucken­de Men­schen­ka­ri­ka­tur, die Sonn­tag­abend in Ruhe das tun darf, was sie am bes­ten kann: das Nied­rigs­te im Men­schen anzu­spre­chen“. Poli­ti­ker aller Cou­leur, denen das Buch eben­falls unbe­kannt war, äußer­ten sich uni­so­no ähn­lich ableh­nend, ihre Argu­men­te reich­ten von „Blöd­sinn“ (Wolf­gang Schäub­le) bis „Het­zer“ (Vol­ker Beck). 

Ein Buch, das man nicht gele­sen hat, ein­fach kol­lek­tiv zu has­sen, das ist eine Kir­mes des Anti-Plu­ra­lis­mus und der Anti-Auf­klä­rung und so offen­kun­dig ver­lo­gen, dass man sich fragt, in was für einem smar­ten Gesin­nungs­staat wir eigent­lich leben. Aber woher kommt die­se so igno­ran­te wie mili­tan­te Aver­si­on? Sehr ein­fach: Sar­ra­zin dele­gi­ti­miert ein gan­zes poli­tisch-media­les Kar­tell. Sar­ra­zins Auf­la­gen­zah­len, die man leicht als poli­ti­sche State­ments der Käu­fer wer­ten kann, bedro­hen des­sen Anspruch, Deutsch­land allein zu reprä­sen­tie­ren. Nie­mand hat die Kluft zwi­schen ver­öf­fent­lich­ter und öffent­li­cher Mei­nung so emp­find­lich bloß­ge­legt wie der Ex-Bun­des­ban­ker. Hät­te ein ande­rer die bei­den Bücher geschrie­ben, wäre es ganz egal, aber Sar­ra­zin ist ein Mann des Appa­rats, ein Ken­ner der Mate­rie, kei­ner, den man als Obsku­ran­tis­ten abtun kann. Dar­um lässt sich gar nicht erst jemand auf sei­ne Fak­ten und Sta­tis­ti­ken ein, son­dern man ver­sucht, ihn anhand ein­zel­ner Sät­ze des Schlecht­men­schen­tums zu über­füh­ren, wel­ches dar­in besteht, dass er quer zu allen inte­gra­ti­ons- und euro­pa­po­li­ti­schen Wunschwel­ten steht und stur auf die Pro­ble­me und deren Ursa­chen deu­tet. Die Wut auf Sar­ra­zin kommt aus der Unsi­cher­heit von Poli­ti­kern und Mei­nungs­ma­chern, die sel­ber wis­sen, was schief­läuft in der Euro­pa­po­li­tik, in der Finanz­po­li­tik, in der Ein­wan­de­rungs­po­li­tik, die es aber lie­ber unter den Tep­pich keh­ren möchten. 

Sar­ra­zins Bücher tref­fen auf ein poli­ti­sches Herr­schafts­mi­lieu, das sich ent­schlos­sen hat, sei­ne Poli­tik als alter­na­tiv­los dar­zu­stel­len, und das kei­ner­lei Oppo­si­ti­on mehr gewöhnt ist. In allen ent­schei­den­den Fra­gen herrscht Ein­mut. Viel­leicht stün­de damit ein guter Titel für Sar­ra­zins nächs­tes Buch im Raum (es gab ja in bzw. aus der DDR schon mal ein gleich­na­mi­ges): „Die Alternative“. 

 

Erschie­nen in: Focus 22/2012, S. 28

 

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