Deutschlands Geist

Am 22. Mai vor 200 Jah­ren kam der selbst­er­nannt „deut­sches­te Mensch” Richard Wag­ner zur Welt. Der genia­le Kom­po­nist steht unend­lich näher bei Goe­the und Schil­ler als bei Hit­ler

 

Es sei typisch deutsch, schrieb der Phi­lo­soph Fried­rich Nietz­sche, dass unter Deut­schen die Fra­ge nicht aus­ster­be, was deutsch sei. Ein Zeit­ge­nos­se Nietz­sches war sich frei­lich recht sicher, eine zufrie­den­stel­len­de Ant­wort auf die nicht aus­ster­ben­de Fra­ge zu wis­sen: Er, Richard Wag­ner sel­ber, sei es. „Ich bin der deut­sches­te Mensch, der deut­sches­te Geist“, notier­te er im Sep­tem­ber 1865 in sein Tage­buch. „Fragt den unver­gleich­li­chen Zau­ber mei­ner Wer­ke, hal­tet sie mit allem übri­gen zusam­men: Ihr könnt für jetzt nichts ande­res sagen als – es ist deutsch.“ 

Das mag heu­ti­gen Ohren recht fremd klin­gen. Die Zuschrei­bung natio­na­ler Eigen­tüm­lich­kei­ten ist anstö­ßig gewor­den, und da ver­bie­ten sich erst recht natio­na­le Super­la­ti­ve. Doch der hängt dem am 22. Mai vor 200 Jah­ren gebo­re­nen Kom­po­nis­ten wie eine sym­bio­ti­sche Klet­te an. Nicht nur dem ger­ma­no­phi­len Eng­län­der Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain, des­sen Wag­ner-Bio­gra­fie übri­gens, bei aller Ten­den­ziö­si­tät, immer noch zu den erhel­lends­ten zählt, galt Wag­ner als der „deut­sches­te aller Künst­ler“, auch der Regie­thea­ter-Tumul­tant Chris­toph Schlin­gen­sief sprach wie selbst­ver­ständ­lich vom „wohl deut­sches­ten aller Genies“, und der NDR kün­dig­te sei­ne Jubi­lä­ums-Doku­men­ta­ti­on „Wer hat Angst vor Richard W.?“ mit den Wor­ten an, sie hand­le vom „deut­sches­ten aller deut­schen Komponisten“. 

Tho­mas Mann wie­der­um nann­te Wag­ners Kunst „die sen­sa­tio­nells­te Selbst­dar­stel­lung und Selbst­kri­tik deut­schen Wesens, die sich erdenken läßt, sie ist danach ange­tan, selbst einem Esel von Aus­län­der das Deutsch­tum inter­es­sant zu machen“. Bei alle­dem sei sie von einer „Welt­ge­nieß­bar­keit, wie sie kei­ner deut­schen Kunst die­ses Ran­ges je mit­ge­ge­ben wur­de.“ Soll hei­ßen, es han­delt sich um eine Natio­nal­kunst, die sozu­sa­gen von Anfang an auf inter­na­tio­na­le Wir­kung berech­net war – und die hat sie bekannt­lich in enor­men Aus­maß erzielt. Bis heu­te ertö­nen Wag­ners Opern all­abend­lich auf dem gesam­ten Glo­bus (außer in Isra­el). Der Tenor Jonas Kauf­mann berich­tet, wenn er im Aus­land auf­tre­te und kein Wag­ner-Stück im Pro­gramm habe, wer­de er sofort gefragt, war­um nicht. 

Kein Künst­ler ist so zum Bestand­teil und Spie­gel der deut­schen Geschich­te gewor­den. Kein Kom­po­nist ist so umstrit­ten, bei kei­nem teilt sich das Publi­kum der­ma­ßen rigi­de in Anbe­ter und Ver­äch­ter. Bach, Mozart, Beet­ho­ven sind längst Welt­kul­tur­er­be; Wag­ner gehört zwar auch zur Welt­kul­tur, aber der Schwe­fel­ge­ruch, der ihm seit der Höl­len­fahrt sei­nes größ­ten Fans Adolf Hit­ler anhaf­tet, ver­hin­dert bis heu­te sei­ne end­gül­ti­ge Kanonisierung. 

Wag­ner zu hören war all­zeit fast im sel­ben Maße Bekennt­nis wie Musik­ge­nuss. „Man“ geht auch heu­te nicht nur um der Musik wegen in sei­ne Opern, es ist stets ein Mehr dabei, im Min­des­ten die Demons­tra­ti­on per­sön­li­cher Offen­heit gegen­über bedeu­ten­den geis­ti­gen Pro­blem­stel­lun­gen. Des­halb pil­gern auch immer wie­der Poli­ti­ker demons­tra­tiv nach Bay­reuth. Mag der Kom­po­nist umstrit­ten sein, das per­sön­li­che Image steigt dadurch, dass man über­haupt an jener hoch­kul­tu­rel­len Sphä­re teil­hat. Nie­mand geht zu Mozart oder zu Ver­di, um etwas zu „demons­trie­ren“ – zu Wag­ner schon. 

Das „Wag­ner-Glück“, wenn es sich denn ein­mal ein­stel­le, sei „mit nichts auf der Welt zu ver­glei­chen“, schwärmt der Diri­gent Chris­ti­an Thie­le­mann. „Weil es ganz unbe­schei­den auf­tritt und alles meint, Weil es kei­ne exis­ten­zi­el­le­re leib­ge­is­ti­ge Erfah­rung gibt als Wag­ners Musik.“ Nie zuvor und nie­mals wie­der wur­de einem musi­ka­li­schen Werk eine sol­che phi­lo­so­phi­sche Bedeu­tung zuge­schrie­ben. In einem medi­ter­ra­nen Land wäre ein sol­ches Phä­no­men schwer vorstellbar. 

Ande­re Kom­po­nis­ten schrie­ben Musik fürs Publi­kum, Wag­ner schrieb Musik, weil er eine ande­re Gesell­schaft woll­te. Er war zeit­le­bens mehr ein kos­mo­po­li­ti­scher Sozi­al- und Kunst­uto­pist als der Deutsch­na­tio­na­le, für den er heu­te oft gehal­ten wird. Er träum­te von einer klas­sen­lo­sen, vom Fluch des Gel­des befrei­ten, auf Lie­be gegrün­de­ten Gesell­schaft. Dafür war der Dresd­ner Hof­ka­pell­meis­ter 1848 zunächst auf die Bar­ri­ka­den und danach ins Exil gegangen. 

Sein Opus magnum, der „Ring des Nibe­lun­gen“, ist eine sech­zehn­stün­di­ge Mori­tat gegen die Herr­schaft des Gel­des, gegen Ent­frem­dung und Lohn­skla­ve­rei, ein Plä­doy­er für freie Lie­be, unver­sehr­te Natur und die Erlö­sung vom Fluch des Ego­is­mus im Wol­ken­ku­ckucks­heim der befrei­ten – in den Spät­schrif­ten schreibt er „rege­ne­rier­ten“ – Mensch­heit. Der klei­ne, unent­wegt reden­de, säch­seln­de Ego­zen­tri­ker war der Ansicht, dass die Welt grund­le­gend ver­dor­ben und das Men­schen­gechlecht auf dem fal­schen Weg sei. Heu­te wäre er ver­mut­lich Mit­glied bei Attac, wür­de in Talk-shows als kapi­ta­lis­mus­kri­ti­scher Künst­ler prä­sen­tiert und setz­te sein Kreuz bei der Links­par­tei. Dass Wag­ner außer­dem die katho­li­sche Kir­che ver­ab­scheu­te – er nann­te sie die „Pest der Welt“ – ist inso­fern typisch, als anti­rö­mi­sche Affek­te ja von Luther über Bis­marck und das NS-Füh­rungs­per­so­nal bis hin zu Vol­ker Beck und Udo Lin­den­berg eine kern­deut­sche Kon­stan­te sind. 

Aber hat Wag­ner nicht in sei­nen Wer­ken Ger­ma­nen­kult getrie­ben? Ist er mit sei­nem Bay­reu­ther „Nar­ren­fest“ nicht der „neu­deutsch-preu­ßi­sche Reichs­mu­si­kant“ gewe­sen, wie Karl Marx nei­disch spot­te­te? Nur: Wenn er die ger­ma­ni­schen Göt­ter und Hel­den hät­te ver­herr­li­chen wol­len, war­um geht am Ende das gesam­te „Ring“-Personal in Flam­men auf? Für den Kom­po­nis­ten waren die nor­di­schen Sagen nichts als ein unver­brauch­ter Stoff, den er nach sei­nen Bedürf­nis­sen for­men konn­te. Liest man sei­ne Schrif­ten, offen­bart sich schnell, was vier Aben­de lang im Ger­ma­nen­kos­tüm dis­kre­di­tiert und schließ­lich ver­nich­tet wird: die bür­ger­li­che Gesell­schaft. Jeder Schluss­ap­plaus nach der „Göt­ter­däm­me­rung“, egal, in wel­chem west­li­chen Land er erklingt, gilt im Grun­de dem Gedan­ken der Abschaf­fung der Applau­die­rer, auch wenn die meis­ten die­sen Kit­zel kaum mehr spüren. 

Typisch deutsch ist oder war lan­ge Zeit die Ver­ach­tung der Poli­tik („ein poli­ti­scher Mann ist wider­lich“, schrieb Wag­ner) bei gleich­zei­ti­ger Fei­er eines Arka­nums namens deut­sche Kul­tur. In den „Meis­ter­sin­gern“ ist die so welt­frem­de wie hüb­sche Idee Musik gewor­den, dass eine Gemein­schaft von der Kunst gestif­tet und zusam­men­ge­hal­ten wer­de. Aus der Schluss­an­spra­che des Hans Sachs, bei der sich die Zeit­geist­wet­ter­häh­ne des Regie­thea­ters seit Jah­ren in Rich­tung Drit­tes Reich dre­hen, spricht tat­säch­lich der pure Kunst-Anar­chis­mus. Mag das Deut­sche Reich, mögen Staat und Poli­tik „in Dunst zer­ge­hen“, wenn uns nur „die heil’ge deut­sche Kunst“ bleibt! Damit ist Wag­ner unend­lich näher bei Goe­the und Schil­ler als bei dem letzt­lich völ­lig deutsch­kunst­un­hol­den Ali­en aus Brau­nau. Gro­tes­ker­wei­se kür­ten die Nazis aus­ge­rech­net die „Meis­ter­sin­ger“ zu ihrer Reichs­par­tei­tags­oper. Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goeb­bels mach­te aus dem an die Adres­se des Hans Sachs gerich­te­ten „Wach auf!“-Chor des 3. Auf­zu­ges ein­fach einen „Wacht auf!“-Chor, und schon durf­te sich das deut­sche Volk gemeint fühlen. 

Aber die Musik Wag­ners, zielt sie nicht auf Über­wäl­ti­gung, ist sie nicht nar­ko­tisch und mas­sen­auf­marsch­taug­lich? Sei­ne Musik drin­ge „durch die sub­tils­ten Poren der Emp­fin­dung bis ins Mark des Lebens“ ein, erklär­te Wag­ner 1859 in einem Brief, „um dort alles zu über­wäl­ti­gen“, was „zum Wahn der Per­sön­lich­keit gehört“ und nur noch den „Seuf­zer des Ohn­machts­be­kennt­nis­ses“ übrig­zu­las­sen. Das gilt aller­dings für vie­le Wer­ke, nicht zuletzt Beet­ho­vens oder Bruck­ners, die im Drit­ten Reich übri­gens noch öfter gespielt wurden. 

Wir ste­hen heu­te vor dem Phä­no­men, dass Wag­ner für etwas typisch Deut­sches steht, das es gar nicht mehr gibt – und dafür auf inzwi­schen typisch deut­sche Wei­se umstrit­ten ist. Beflis­sen sind die intel­lek­tu­el­len Wort­füh­rer des Lan­des dabei, die Ver­gan­gen­heit, wie es heißt, zu bewäl­ti­gen und jede patrio­ti­sche Regung rück­wir­kend zu ver­teu­feln. Die Bewer­tung Wag­ners betref­fend, heißt das: Der Kom­po­nist wird von Jahr zu Jahr brau­ner. Nach wie vor hat Adolf Hit­ler in Sachen Wag­ner das letz­te Wort. 

Bücher und Zeit­schrif­ten­ti­tel à la „Hit­lers Wag­ner“ und, als Stei­ge­rung, „Wag­ners Hit­ler“ dreh­ten die Schrau­be immer wei­ter, nun zieht sie der „Spie­gel“ mit aller Kraft fest. Wag­ner wer­fe bis heu­te einen Schat­ten, „in dem sich Musik und Holo­caust ver­bin­den“, behaup­tet das Maga­zin forsch in sei­ner Titel­ge­schich­te zum Jubi­lä­um. Aber mehr als Indi­zi­en dafür, dass ver­gan­ge­ne Gene­ra­tio­nen womög­lich eini­ge wag­ner­sche Büh­nen­fi­gu­ren als Juden­ka­ri­ka­tu­ren ver­stan­den haben könn­ten, vor allem den gars­ti­gen Zwerg Mime im „Sieg­fried“, haben die Wag­ner-Hit­ler-Zir­kel­schlie­ßer bis­lang nicht her­bei­ge­schafft – der Anti­se­mi­tis­mus im Werk erschließt sich wohl vor­wie­gend Okkul­tis­ten. Und alle als „Juden“ in Vor­schlag gebrach­te Wag­ner­ge­stal­ten, Mime ein­ge­schlos­sen, ver­lie­ren kein biss­chen von ihrer dra­ma­ti­schen Per­sön­lich­keit, wenn sie nichts als sie sel­ber sind. 

Wag­ner war ein Kunst­re­vo­lu­tio­när und Moder­ni­sie­rer, „Kin­der, schafft Neu­es“, lau­te­te sei­ne Maxi­me. Und doch fand er sich schon im Kai­ser­reich  im Main­stream wie­der. Heu­te ist das Ange­passt­stein an den Zeit­geist gera­de­zu der Mar­ken­kern Bay­reuths, vor allem was die Insze­nie­run­gen angeht. Um als Regis­seur für eine Neu­ein­stu­die­rung beru­fen zu wer­den, genügt es inzwi­schen, von den Feuil­le­tons zum Pro­vo­ka­teur erklärt wor­den zu sein und kei­ne Noten lesen zu kön­nen. Uren­ke­lin Katha­ri­na, eine Frau mit dem Sub­ver­si­vi­täts­grad von Iris Ber­ben, hat die Fest­pie­le zu einer Ver­an­stal­tung gemacht, wo der deut­sche Geist und die deut­schen Meis­ter Wag­ners nur­mehr noch als Spuk auftreten. 

Fas­sen wir zusam­men: Wag­ner galt lan­ge als typisch deut­scher Künst­ler, aber für die Gegen­wart höchs­tens im Sin­ne einer Anspie­lung dar­auf, wie übel das einst­mals typisch Deut­sche der Welt mit­ge­spielt habe. Es wider­spricht heu­te ohne­hin dem Zeit­geist, noch irgend­wel­che natio­na­len Typo­lo­gien zu pos­tu­lie­ren, wo doch angeb­lich alle Kul­tu­ren, Natio­nen, Völ­ker irgend­wie gleich sind. Aber es läuft noch eine Wet­te, was län­ger lebt: die Deut­schen, die Poli­tisch Kor­rek­ten – oder die Wer­ke Richard Wag­ners. Womög­lich wird der­einst er ganz allein bestim­men, was irgend­wo auf der Welt als deutsch gilt. 

 

Erschie­nen in: Welt­wo­che 18/2013, S. 50/51

 

 

 

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