„Der ganz Europa destabilisierende Wahnsinn der Grenzöffnung”

Der Hei­del­ber­ger His­to­ri­ker Rolf Peter Sie­fer­le schied am 17. Sep­tem­ber die­ses Jah­res aus dem Leben. Drei Wochen vor­her schrieb er mir einen Brief, den ich hier doku­men­tie­re

Pro­fes­sor Sie­fer­le lehr­te zuletzt All­ge­mei­ne Geschich­te an der Uni­ver­si­tät St. Gal­len. Sei­ne Mail an mich ist datiert auf den 26. August 2016. Ich kann­te ihn durch die Lek­tü­re sei­ner Bücher, per­sön­lich begeg­net sind wir uns nie, und wir hat­ten auch kei­nen brief­li­chen Kon­takt. Ich erfuhr erst ges­tern auf der Buch­mes­se, dass Sie­fer­le sei­nem Leben ein Ende gesetzt hat­te. Dass die Nach­richt kei­ne Schluss­wen­dung ent­hält, inter­pre­tie­re ich als ein Signal, dass sie nicht nur an mich adres­siert war. 

„Sehr geehr­ter Herr Klonovsky,

seit eini­ger Zeit lese ich ger­ne Ihre Acta diur­na (…). Ich schrei­be nor­ma­ler­wei­se kei­ne Leser­brie­fe, den­ke aber, daß es sinn­voll ist, etwas zum Span­nungs­feld AfD-Anti­se­mi­tis­mus zu sagen, auf das Sie ja jüngst ein­ge­gan­gen sind. Da Sie in mei­ner Wahr­neh­mung zu den weni­gen Zeit­ge­nos­sen gehö­ren, die inhalt­li­chen Argu­men­ten zugäng­lich sind, möch­te ich etwas wei­ter aus­ho­len und die­se Fra­ge in einen all­ge­mei­ne­ren aktu­el­len poli­ti­schen Kon­text stellen:

Mit der Öff­nung der Gren­zen für Immi­gran­ten ‚ohne Ober­gren­ze’, die Mer­kel im Som­mer 2015 ver­kün­de­te, erfüll­te sie einen zen­tra­len Wunsch des gesin­nungs­ethi­schen Lagers, das mitt­ler­wei­le von der SPD über die Grü­nen bis zur Links­par­tei reicht. Wider­stand gegen die­se ver­ant­wor­tungs­lo­se Poli­tik konn­te nur noch aus den eige­nen Rei­hen kom­men, vor allem aus der CSU, doch stand man hier vor dem Pro­blem, daß ein Sturz Mer­kels auch die eige­ne Macht­po­si­ti­on ver­schlech­tert hät­te, ohne an der Sache wirk­lich etwas ändern zu kön­nen. Die poli­ti­sche Alter­na­ti­ve, eine auch 2015 rech­ne­risch mög­li­che rot-rot-grü­ne Koali­ti­on, hät­te die Mer­kel­sche Poli­tik ver­schärft fort­ge­führt. Inhalt­lich stan­den die Wider­sa­cher Mer­kels inner­halb der Uni­on daher vor der Alter­na­ti­ve zwi­schen schlimm und schlimmer.

Mer­kel befand sich damit in einer idea­len Lage: Eine Oppo­si­ti­on von links gab es nicht, da sie ja selbst die Poli­tik der Lin­ken voll­zog. Eine Oppo­si­ti­on von rechts gab es (inner­par­la­men­ta­risch) eben­falls nicht, denn auch der CSU saß das Hemd des Macht­er­halts näher als der Rock der Prin­zi­pi­en­po­li­tik. Kurz­fris­tig und unter tak­ti­scher Per­spek­ti­ve war Mer­kel also in einer idea­len, da ‚alter­na­tiv­lo­sen’ Posi­ti­on, da sie kei­ne ernst­haf­te Oppo­si­ti­on, geschwei­ge ein Miß­trau­ens­vo­tum ange­sichts ihrer aben­teu­er­li­chen Poli­tik fürch­ten mußte.

Betrach­tet man das gesam­te poli­ti­sche Sys­tem, so war die Lage fatal. Die Bevöl­ke­rung merk­te all­mäh­lich, daß durch die­se Poli­tik ihre vita­len Inter­es­sen ver­letzt wur­den, doch gab es auf dem her­kömm­li­chen Weg kei­ne Mög­lich­keit, die­sen Unwil­len zu arti­ku­lie­ren. Nor­ma­ler­wei­se wür­de man erwar­ten, daß im Par­la­ment einem Regie­rungs­block ein Oppo­si­ti­ons­block gegen­über­steht, den man wäh­len kann, wenn einem die Poli­tik der Regie­rung miß­fällt. Mer­kel hat es geschafft, die­sen urde­mo­kra­ti­schen Mecha­nis­mus außer Kraft zu set­zen, da nun die ein­zi­ge inner­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­on gegen ihre Poli­tik selbst Teil der Regie­rung war und sich des­halb mäßi­gen muß­te. Für die Wäh­ler bedeu­te­te dies, daß sie einem tota­li­tär-geschlos­se­nen Block gegen­über­stan­den, bei dem sie wäh­len konn­ten, was sie woll­ten, ohne daß dies Aus­wir­kun­gen auf die eigent­lich ent­schei­den­den Fra­gen hatte.

Es spricht für die Fle­xi­bi­li­tät der Insti­tu­tio­nen der Demo­kra­tie, daß nicht nur der Aus­weg einer außer­par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­on offen blieb, son­dern daß mit der AfD eine Par­tei ent­ste­hen konn­te, die tat­säch­lich eine (kon­kret: die ein­zi­ge) Alter­na­ti­ve zum Kon­sens­block anbot. Der All­par­tei­en­block unter der Füh­rung von Mer­kel betrieb eine Poli­tik, die laut Wäh­ler­um­fra­gen von immer weni­ger Bür­gern gebil­ligt wur­de. Mit­te 2016 stand nur noch weni­ger als die Hälf­te der Bevöl­ke­rung hin­ter der Regie­rungs­po­li­tik. Ange­sichts des­sen könn­te man eigent­lich erwar­ten, daß die AfD mehr als die Hälf­te der Stim­men bekommt. Die ein­zi­ge Mög­lich­keit, im poli­ti­schen Raum nein zu sagen, bestand dar­in, AfD zu wählen.

In die­ser Situa­ti­on bestand die Tak­tik des poli­tisch-media­len Blocks dar­in, die AfD als unwähl­bar zu stig­ma­ti­sie­ren. Das war zunächst rela­tiv ein­fach. Der Funk­tio­närs­kör­per der AfD setz­te sich zu einem gro­ßen Teil aus poli­ti­schen Anfän­gern und Dilet­tan­ten zusam­men, wozu noch ein Schuß Phan­tas­ten und Que­ru­lan­ten kam. Das ist bei Pro­test­par­tei­en auch nicht anders zu erwar­ten, und bei den Grü­nen z.T. bis heu­te der Fall, betrach­tet man etwa pro­mi­nen­te Figu­ren wie Clau­dia Roth, die man eher im Kaba­rett als im Bun­des­tag erwar­ten wür­de. Auch über die Päd­eras­ten­schwär­me­rei auf den frü­hen grü­nen Par­tei­ta­gen brei­tet man heu­te lie­ber den Man­tel des Schweigens.

Bei der AfD ist dies etwas pro­ble­ma­ti­scher. Der Anti­fa­schis­mus gehört seit den Anfän­gen zur Staats­rä­son der Bun­des­re­pu­blik, und kei­ne ernst­haf­te poli­ti­sche Par­tei kann es sich leis­ten, auch nur in die Nähe des Ver­dachts zu gera­ten, sie sei ‚rechts­ra­di­kal’ oder ‚anti­se­mi­tisch’. Die Stra­te­gie der Dis­kri­mi­nie­rung muß­te daher dar­auf zie­len, die AfD in der Wahr­neh­mung der Wäh­ler in die Nähe rechts­ra­di­ka­ler oder anti­se­mi­ti­scher Posi­tio­nen zu brin­gen. Wenn dies gelang, konn­te der ver­brei­te­te ‚Kampf gegen rechts’ gegen die AfD gerich­tet wer­den, und damit wäre die ein­zi­ge Oppo­si­ti­on gegen das Regie­rungs­kar­tell ausgeräumt.

Umge­kehrt bedeu­tet dies, daß die AfD alles ver­mei­den muß, was zum Erfolg die­ser Stra­te­gie bei­tra­gen kann. Sie muß dabei gegen Pro­vo­ka­teu­re, aber auch gegen irre­ge­lei­te­te Anhän­ger kämp­fen. Als natio­nal-kon­ser­va­ti­ve Par­tei steht die AfD in der Kon­ti­nui­tät zur älte­ren euro­päi­schen oder deut­schen Rech­ten, und die­se war im 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­dert immer auch anti­se­mi­tisch aus­ge­rich­tet. Dies bedarf zur Erklä­rung eines klei­nen Exkurses.

Im 18. Jahr­hun­dert, zur Zeit der Auf­klä­rung, gal­ten die Juden noch als fins­te­re Tra­di­tio­na­lis­ten und Reak­tio­nä­re, die sich dem neu­en Zeit­al­ter der Ver­nunft ent­ge­gen­stemm­ten und ver­such­ten, ihren uralten mosai­schen Glau­ben unre­for­miert wei­ter­hin zu prak­ti­zie­ren. Im 19. Jahr­hun­dert, nach der Eman­zi­pa­ti­on, d.h. der staats­bür­ger­li­chen Gleich­stel­lung der Juden, hat­ten vie­le von ihnen einen uner­war­tet gro­ßen Erfolg in der her­auf­zie­hen­den markt­wirt­schaft­lich-kapi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mie. Sie besetz­ten nicht nur über­pro­por­tio­nal die frei­en Beru­fe und Posi­tio­nen in der Wis­sen­schaft, son­dern sie nah­men auch wich­ti­ge Stel­lun­gen in der Wirt­schaft ein, beson­ders im Finanz­we­sen. Kon­ser­va­ti­ve Kri­ti­ker die­ser neu­en Ent­wick­lung sahen daher in den Juden eine Ver­kör­pe­rung von Geld­wirt­schaft, Tra­di­ti­ons­lo­sig­keit und Zer­stö­rung des Über­kom­me­nen. Der Anti­se­mi­tis­mus war gewis­ser­ma­ßen die Urform des Antikapitalismus.

Die­ser Strang präg­te die euro­päi­sche Rech­te bis weit ins 20. Jahr­hun­dert, und er pro­du­zier­te letzt­lich auch die geno­zi­da­len Exzes­se des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Heu­te dage­gen steht die Rech­te vor völ­lig ande­ren Pro­ble­men. Die Juden sind im Grun­de kein The­ma mehr, son­dern die aktu­el­len Geg­ner, die Isla­mis­ten, sind zugleich auch Geg­ner der Juden. Dies läßt sich in Frank­reich gut beob­ach­ten. Der natio­nal­kon­ser­va­ti­ve Front Natio­nal war in der Tra­di­ti­on der euro­päi­schen Rech­ten lan­ge Zeit anti­se­mi­tisch ein­ge­stellt. Erst Mari­ne Le Pen voll­zog hier eine dras­ti­sche Wen­de und ent­le­dig­te sich der Anti­se­mi­ten, die in ihrer Par­tei kei­nen Platz mehr fin­den soll­ten. Sie schreck­te nicht ein­mal davor zurück, ihren eige­nen Vater, der noch an den alten anti­se­mi­ti­schen Tra­di­tio­nen hing, aus der Par­tei aus­zu­schlie­ßen. Heu­te spielt der Anti­se­mi­tis­mus im FN kei­ne Rol­le mehr. Ange­sichts des­sen wun­dert es nicht, daß immer mehr Juden in Frank­reich den FN als ent­schlos­sens­tes Wider­stands­zen­trum gegen die Isla­mi­sie­rung wählen.

Die AfD wäre gut bera­ten, wenn sie eben­falls eine sol­che radi­ka­le Tren­nung vom Anti­se­mi­tis­mus voll­zö­ge und alle Tra­di­tio­na­lis­ten, die noch in die­sen Bah­nen den­ken, aus der Par­tei ent­fern­te. Der Anti­se­mi­tis­mus war schon im 19. Jahr­hun­dert nichts als eine von Wahn­vor­stel­lun­gen gepräg­te, irra­tio­na­le und sach­frem­de Ideo­lo­gie. Heu­te ist er zum Inbe­griff der poli­ti­schen Absur­di­tät gewor­den und wird im Grun­de nur noch von Spin­nern ver­tre­ten, die etwa auch Adolf Hit­ler, die­se größ­te poli­ti­sche Nie­te des 20. Jahr­hun­derts, für einen vor­bild­haf­ten Poli­ti­ker hal­ten. Aber gera­de bei einer natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Pro­test­par­tei besteht immer die Gefahr, daß sich sol­che Nar­ren bei ihr ein­nis­ten (wenn es sich nicht um geziel­te Pro­vo­ka­tio­nen han­delt), so daß man sich rigo­ros von ihnen tren­nen muß.

Die Dis­kri­mi­nie­rung der AfD im Kon­text des ‚Kampfs gegen rechts’ funk­tio­niert ein Stück weit. Man müß­te ange­sichts der gemes­se­nen Stim­mung in der Bevöl­ke­rung erwar­ten, daß die AfD bei Wah­len über 30% der Stim­men erhält. Wenn es nur rund 15% sind, spricht dies dafür, daß die Dis­kri­mi­nie­rungs­kam­pa­gne eini­gen Erfolg hat. Aller­dings ist die­ser Erfolg (län­ger­fris­tig) ambi­va­lent. Durch Dis­kri­mi­nie­rung der AfD ver­schwin­det ja nicht das Immi­gra­ti­ons­pro­blem, auf das sie eine Ant­wort gibt, son­dern es wird nur schwie­ri­ger, sich poli­tisch dazu aus­zu­drü­cken. Je gra­vie­ren­der aber das Pro­blem ist, des­to grö­ßer kön­nen auch die Krö­ten sein, die man bereit ist, für sei­ne Lösung zu schlu­cken. Es könn­te daher sein, daß eine erfolg­rei­che Dis­kri­mi­nie­rung der AfD als ‚rechts­ra­di­kal’ den Effekt hat, daß immer mehr Men­schen sagen: ‚Dann bin ich eben rechts­ra­di­kal’. Die Dis­kri­mi­nie­rungs­po­li­tik hät­te dann viel­leicht kurz­fris­tig Erfolg, lang­fris­tig wäre sie aber kontraproduktiv.

Die Mer­kel­sche Prä­si­di­al­po­li­tik hat in einem recht kur­zen Zeit­raum ihr Ziel erreicht. Mer­kel hat Chan­cen, auch eine vier­te Amts­zeit als Bun­des­kanz­le­rin anzu­tre­ten. Die Fol­gen ins­ge­samt sind aber fatal. Die Wäh­ler wer­den 2017 vor der uner­freu­li­chen Alter­na­ti­ve ste­hen, ent­we­der wie­der die Par­tei Mer­kels zu wäh­len mit der Aus­sicht, daß deren selbst­zer­stö­re­ri­sche Poli­tik (viel­leicht in einer Koali­ti­on mit den Grü­nen) fort­ge­führt wird, oder aber eine rot-rot-grü­ne Koali­ti­on in den Sat­tel zu heben, was noch schlim­me­re Aus­wir­kun­gen hät­te. Man­che mögen dar­auf hof­fen, daß eine sol­che Koali­ti­on rasch abwirt­schaf­tet und daß die Uni­on nach der Abschüt­te­lung von Mer­kel und ihren Zuar­bei­tern (Alt­mai­er, Kau­der etc.) die Chan­ce hat, sich in der Oppo­si­ti­on zu rege­ne­rie­ren. Dies könn­ten aller­dings vier bit­te­re Jah­re wer­den, in denen so viel zer­stört wird, daß ein Neu­an­fang sehr schwie­rig wird. Ein real­po­li­ti­scher Bei­trag der AfD könn­te dann dar­in bestehen, daß es arith­me­tisch nicht zu rot-rot-grün reicht. Die Wäh­ler­stim­men für die AfD hät­ten die Funk­ti­on, den Fort­be­stand einer Regie­rung Mer­kel zu garan­tie­ren (schwarz-rot oder schwarz-grün).

Die Außen­wir­kung die­ser Bun­des­tags­wahl wird wich­tig sein. Mer­kels Öff­nungs­po­li­tik hat in ganz Euro­pa zu Kopf­schüt­teln geführt, und die Reak­tio­nen lie­gen in einem Spek­trum zwi­schen Scha­den­freu­de und Ent­set­zen. Aber immer­hin konn­te die­se Poli­tik der Bun­des­kanz­le­rin direkt zuge­rech­net wer­den, wie es ein Eng­län­der plas­tisch aus­drück­te: ‚There’s only 1 to bla­me like in the ’40’s: that evil Frau, not wil­ling to admit her open bor­der poli­cy is a total failure.If she will be re elec­ted in 2017 then also the Krauts are to be bla­med.’ Wenn die Regie­rung Mer­kel also wie­der­ge­wählt wird, fällt der ganz Euro­pa desta­bi­li­sie­ren­de Wahn­sinn der Grenz­öff­nung nicht mehr auf ihre ein­sa­me Ent­schei­dung zurück, son­dern es wird eine Art ‚Kol­lek­tiv­schuld’ des deut­sche Elek­to­rats dar­aus erwachsen.”

R.I.P.

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