Lektürehin-und-weg-weis, auch Wegweis

Als ein Mensch, der die k. u. k. Mon­ar­chie – oder wie Robert Musil sie nann­te, Kaka­ni­en –, das amü­san­te, schlam­pi­ge, gemüt­li­che, genie­ße­ri­sche, sei­ne Pro­ble­me nicht lösen­de, son­dern ver­ges­sen­de Viel­völ­ker­reich, inzwi­schen für das Bes­te hält, was die Mensch­heit jemals gesell­schaft­lich geschaf­fen hat; als jemand, der die heu­ti­gen kul­tur­lo­sen und geist­feind­li­chen Ver­hält­nis­se, unter denen es den woken Gar­den so kan­ni­ba­lisch wohl geht als wie fünf­hun­dert Säu­en, mit ange­wi­der­tem Hohn betrach­tet; als ein gele­gent­lich von Melan­cho­lie und Ver­lust­schmerz nicht unbe­dingt Heim‑, aber doch Gesuchter –

möch­te ich heu­te all denen, die es noch nicht ken­nen, ein Buch emp­feh­len, das mich in den ver­gan­ge­nen Tagen in einen Zustand hei­te­rer Weh­mut oder weh­mü­ti­ger Hei­ter­keit ver­setz­te, näm­lich „Die Tan­te Jolesch oder Der Unter­gang des Abend­lan­des in Anek­do­ten” von Fried­rich Tor­berg. Das Buch erschien 1975 (Band zwei 1978) und ist, lese ich, sogar ver­filmt wor­den, aber heu­te so gut wie ver­ges­sen – wie Proust ein­mal sinn­ge­mäß schrieb, „aus der Mode gekom­men, und das ist das Bes­te, das sich dar­über sagen lässt”. Es han­delt vom Wien und Prag der Vor- und Zwi­schen­kriegs­zeit, jener vom Ers­ten Welt­krieg schwer erschüt­ter­ten und von den Natio­nal­so­zia­lis­ten schließ­lich zer­stör­ten „Welt von ges­tern”, wie Ste­fan Zweig sie nann­te, jener Welt der Kaf­fee­häu­ser, Künst­ler- und Lite­ra­ten­clubs mit ihrem uner­schöpf­li­chen bos­haf­ten Witz, der Bridge- und Tarock­knei­pen, der Emp­fän­ge, Bäl­le, Som­mer­fri­schen und Kur­ka­pel­len, und der Autor ver­tritt „die The­se, daß mit dem unter­ge­gan­ge­nen Teil des euro­päi­schen Juden­tums zugleich ein Teil des Abend­lan­des unter­ge­gan­gen ist”.

Tor­berg wur­de 1908 in Wien als Fried­rich Kan­tor gebo­ren – der Geburts­na­me sei­ner Mut­ter war Berg, sein Pseud­onym war eine Kom­bi­na­ti­on aus bei­den Namen – und starb 1979 eben­dort. Die Nazi­jah­re ver­brach­te er als Exi­lant in Frank­reich und den USA. 1951 kehr­te er nach Wien zurück.

Über ihn als Autor genügt es, drei­er­lei zu wis­sen. Ers­tens: Er kann schrei­ben, plau­dern, famos unter­hal­ten, Poin­ten set­zen und mit gewis­sen Unge­nüg­sam­kei­ten koket­tie­ren, etwa der „ste­ten Nöti­gung und Lockung zum Apro­pos”, die sei­nem anek­do­ti­schen Pro­jekt unver­meid­lich inne­wohnt (dass „den vor­an­ge­gan­ge­nen Abschnit­ten ein deut­li­cher Man­gel an kon­se­quen­tem Auf­bau eig­net”, gehö­re zu den „orga­ni­sa­to­ri­schen Schwie­rig­kei­ten, die mir bei der Nie­der­schrift die­ses Buches immer wie­der begeg­nen, und für die ich kei­ne Lösung weiß, als in Got­tes Namen wei­ter­zu­schrei­ben”); wie die Besu­cher des Klei­nen Eck­la­dens wis­sen, ist des­sen Betrei­ber dem Apro­pos ret­tungs­los verfallen.

Zwei­tens: Tor­berg kann­te sie alle per­sön­lich, Egon Frie­dell, Alfred Pol­gar, Karl Kraus, Leo Perutz, Max Rein­hardt, Bru­no Wal­ter, Mar­tin Buber, Arnold Schön­berg, Anton Kuh, Leon­hard Frank, Franz und Alma Wer­fel und und und. Apro­pos: Die in die Jah­re gekom­me­ne Alma Wer­fel, Ehe­frau auch, aber nach­ein­an­der, von Gus­tav Mahler und Wal­ter Gro­pi­us, „pfleg­te am Mor­gen um sechs Uhr auf­zu­ste­hen, trank eine Fla­sche Cham­pa­gner leer und spiel­te eine Stun­de lang das ‚Wohl­tem­pe­rier­te Kla­vier‘. Ich berich­te das aus Erfahrung.”

Drit­tens: Er war nicht nur ein von den Nazis ins Exil getrie­be­ner Nazi­geg­ner, son­dern – bezie­hungs­wei­se fol­ge­rich­tig – auch ein lei­den­schaft­li­cher Anti­kom­mu­nist, der in den Nach­kriegs­jah­ren gegen die Sym­pa­thi­san­ten der roten Mas­sen­mör­der anschrieb und an den öster­rei­chi­schen Büh­nen einen Boy­kott der Stü­cke Brechts durch­setz­te, der bis 1963 hielt. (Ich habe neu­lich mei­ne Brecht-Aus­ga­be weg­ge­schmis­sen – die Gedich­te natür­lich nicht –, und es ist ein gutes Gefühl, die­sen Agit­prop für die schä­bigs­te Sache der Welt nicht mehr im Hau­se zu haben.)

Übri­gens (und apro­pos) hat Tor­berg das Werk des gött­li­chen Fritz Herz­ma­novs­ky-Orlan­do ediert oder, wie man sagt, wie­der­ent­deckt – was ist das für eine Welt, in der jeder Brecht kennt und kaum jemand Herz­ma­novs­ky-Orlan­do, den Erfin­der von „Tarockani­en” (als Gegen­stück zu „Kaka­ni­en”)? – und auf die­se Wei­se der Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht.

Für Tor­berg, von dem die hin­rei­ßen­de Wort­prä­gung vom „inne­ren Dop­pel­ad­ler” stammt, war der „Unter­gang Öster­reichs eine der kata­stro­phals­ten Humor­lo­sig­kei­ten der Welt­ge­schich­te”. Er fra­ge sich, „war­um ich nichts davon wis­sen machen soll­te, daß mei­ne Geburt und acht Jah­re mei­nes Lebens noch in die Ära des alten Kai­sers fie­len, in des­sen Regie­rungs­er­klä­rung Ungarn noch ‚Hun­garn‘ hieß; war­um ich leug­nen oder baga­tel­li­sie­ren oder gar schmä­hen soll­te, was ich als Kind bestaunt und bewun­dert habe; war­um ich, kurz­um, an die­se Kin­der- und Kai­ser­zeit, an das all­som­mer­li­che Feu­er­werk in Ischl am Vor­abend des 18. August (der für mich noch lan­ge ‚Kai­sers Gebut­s­tag‘ blieb), an das klin­gen­de Spiel der Burg­ka­pel­le, dem ich an der Hand mei­nes Kin­der­fräu­leins zuhö­ren durf­te, an Regi­ments­mu­sik und Fron­leich­nams­pro­zes­si­on und Far­ben­pracht und Equi­pa­gen­prunk – war­um ich an all das nicht mit Weh­mut zurück­den­ken sollte.”

Über den Kur­ort Ischl oder Bad Ischl im Salz­kam­mer­gut, die Som­mer­re­si­denz von Kai­ser Franz Joseph, wo sich der Mon­arch als jun­ger Mann mit sei­ner Sisi ver­lob­te, wo schon Met­ter­nich und der Erz­her­zog Rudolf ver­kehr­ten, spä­ter Bruck­ner, Brahms, Johann Strauss sowie Lite­ra­ten jeg­li­chen Zuschnitts, heißt es:

„Aus dem Musik­pa­vil­lon auf der Espla­na­de, die noch immer ent­lang der Traun ver­läuft, erklingt kein Vor­mit­tags­kon­zert der Kur­ka­pel­le André Hum­mer, kein Diver­tis­se­ment aus dem ‚Rastel­bin­der‘ und kei­ne Ouver­tü­re zu Boiel­dieus ‚Kalif von Bag­dad‘, im Espla­na­den-Café der im Innern des Ortes gele­ge­nen Kon­di­to­rei Zau­ner erho­len sich kei­ne vom Spa­zier­gang ermü­de­ten Advo­ka­ten und Indus­tri­el­len und Kunst­mä­ze­ne, es mop­sen sich kei­ne Kin­der an der Hand ihrer Gou­ver­nan­ten, es wan­deln kei­ne Ver­tre­ter des Geis­tes­le­bens gebär­den­reich dis­ku­tie­rend neben­ein­an­der her, es ist vor­bei mit der Espla­na­de, vor­bei mit allem, was einst­mals Ischl war, mit sei­ner ein­ma­li­gen Struk­tur und Atmo­sphä­re, es ist vorbei.”

Er kön­ne sich „Schlim­me­res vor­stel­len als eine Mon­ar­chie”, ja, er müs­se sich eigent­lich gar nichts vor­stel­len, „denn ich habe Schlim­me­res erlebt (und wer weiß, ob ich’s in einer Mon­ar­chie hät­te erle­ben müs­sen)”, notiert der Autor. „Immer sah ich etwas zer­brö­ckeln, was mir lieb war.” Die­se Welt woll­te er wenigs­tens auf dem Papier ret­ten. „Der Brun­nen, aus dem ich schöp­fe, ist unwie­der­bring­lich versiegt.”

Das Herz des von Tor­berg beschrie­be­nen Uni­ver­sums mit sei­nen Metro­po­len Wien, Prag und Buda­pest schlug im Kaf­fee­haus. „Das Stamm­pu­bli­kum die­ser Kaf­fee­häu­ser war, wie das geis­tig und künst­le­risch inter­es­sier­te Publi­kum ins­ge­samt, zum gro­ßen Teil jüdisch. Vor 1938 leb­ten in Wien fast eine Vier­tel­mil­li­on Juden. Heu­te zäh­len sie knap­pe Zehn­tau­send. … Was nicht etwa besa­gen soll, daß es in Wien kei­ne Lite­ra­ten, kei­ne Intel­lek­tu­el­len, kei­ne geis­tig und künst­le­risch inter­es­sier­ten Men­schen mehr gäbe. Natür­lich gibt es sie. Aber sie sind nicht nur in ihrer Anzahl emp­find­lich redu­ziert, sie sind es auch in ihren Mög­lich­kei­ten zum Kaf­fee­haus­be­such. Sie sind – und damit kommt die Sozio­lo­gie ins Spiel – beschäf­tigt. Sie haben zu tun. … Sie haben kei­ne Zeit. Und Zeit­ha­ben ist die wich­tigs­te, die uner­läß­li­che Vor­aus­set­zung jeg­li­cher Kaf­fee­haus­kul­tur (ja am Ende wohl jeg­li­cher Kultur).”

Das Phä­no­men des Kei­ne-Zeit-habens hat in der Zwi­schen­zeit in unse­rem Welt­teil bekannt­lich eine enor­me Ver­brei­tung gefun­den, über sämt­li­che Schich­ten und Milieus hin­weg und in einer Tota­li­tät, von der sich Tor­berg noch gar kei­nen Begriff machen konn­te. Es beschreibt bei Lich­te bese­hen einen Zustand all­ge­mei­ner Unfrei­heit – eine Skla­ve­rei ohne Herren.

„Ein Luxus ist es, Zeit zu haben. Noch die arm­se­ligs­ten Insas­sen der alten Lite­ra­tur­ca­fés konn­ten sich die­sen Luxus leis­ten. … Zur Bezah­lung der Zeche – wofern man sie nicht ein­fach schul­dig blieb – waren die Mäze­ne da, die es gleich­falls nicht mehr gibt, und gäbe es sie, dann hät­ten sie gleich­falls kei­ne Zeit.”

Im Kaf­fee­haus waren die­je­ni­gen, um die es geht, Stamm­gäs­te – aber in einem ande­ren Sin­ne, als der Begriff heu­te ver­stan­den wird. „Dort schrie­ben und dich­te­ten sie. Dort emp­fin­gen und beant­wor­te­ten sie ihre Post. Dort wur­den sie ange­ru­fen, und wenn sie zufäl­lig nicht da waren, nahm der Ober die Nach­richt für sie ent­ge­gen. Dort tra­fen sie ihre Freun­de und Fein­de, dort muß­te man hin­ge­hen, wenn man mit ihnen spre­chen woll­te, dort lasen sie ihre Zei­tun­gen, dort dis­ku­tier­ten sie, dort leb­ten sie. (Kürsch­ners Lite­ra­tur­ka­len­der ver­zeich­ne­te jah­re­lang als Peter Alten­bergs Adres­se: ‚Café Cen­tral, Wien I.‘) In ihren Woh­nun­gen schlie­fen sie nur. Ihr wirk­li­ches Zuhau­se war das Kaffeehaus.“

In die­ser Welt ent­stan­den die einen Anek­do­ten – die ande­ren wur­den dort kol­por­tiert, ver­brei­tet oder erfun­den. Da Tor­bergs Opus eine Anek­do­ten­samm­lung sui gene­ris ist, will ich eini­ge mei­ner Lieb­lings­ge­schich­ten und ‑bon­mots zitie­ren, getrennt durch die hier übli­chen drei Sternchen.

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Egon Erwin Kisch, der kom­mu­nis­ti­sche Repor­ter, und Anton Kuh, der lite­ra­ri­sche Bohe­mi­en und genia­le Steg­reif­red­ner, waren ein­an­der in inni­gem Hass zuge­tan, Kisch ver­ab­scheu­te den Kuh, das Bega­bungs­ge­fäl­le abbil­dend, mehr als umge­kehrt, doch sei­ne Aver­si­on inspi­rier­te ihn zu einer herr­li­chen Sot­ti­se: „So gab er auf eine der damals gras­sie­ren­den Zei­tungs­um­fra­gen mit dem ohne­hin geschmack­lo­sen The­ma ‚Wor­an möch­ten Sie am liebs­ten ster­ben?‘ die Ant­wort: ‚An einem Schlag­an­fall aus Freu­de über den Tod von Anton Kuh’.”

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Kuh wie­der­um beschrieb ein Por­trät von Ste­fan Geor­ge mit den Wor­ten: „Er sieht aus wie eine alte Frau, die wie ein alter Mann aus­sieht.” Sei­nen Ent­schluss, nach Ame­ri­ka zu emi­grie­ren, begrün­de­te er mit dem Argu­ment: „Schnor­rer kann man über­all brau­chen!” Die­ser Ent­schluss kam übri­gens fol­gen­der­ma­ßen zustan­de: Kuh hat­te 1938 im Freun­des­kreis einen Plan ent­wi­ckelt, wie Öster­reich dem dro­hen­den Zugriff Hit­lers noch ent­ge­hen kön­ne. Der öster­rei­chi­sche Unter­richts­mi­nis­ter Pern­ter bekam Wind davon und lud ihn zu sich ein, auf dass er ihn mit dem Plan ver­traut mache. Kuh pack­te sofort sei­ne Kof­fer und ver­ließ Öster­reich. „Zu einer Regie­rung, die sich mit ihm, Anton Kuh, hin­setz­te, hat­te er kein Ver­trau­en mehr.”

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Karl Kraus war ver­liebt in die Schau­spie­le­rin Elfrie­de Schopf. Nach­dem deren Lieb­ha­ber plötz­lich und uner­war­tet (und unge­impft!) ver­stor­ben war, erklär­te Kraus in klei­ner Run­de: „Jetzt müß­te man die Schopf bei der Gele­gen­heit packen.” (Offen­bar gelang es ihm nicht.)

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Egon Frie­dell, Mul­ti­ta­lent, Poly­his­tor, Ver­fas­ser der „Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit”, eines mei­ner Lieb­lings­bü­cher, wur­de von einer Ber­li­ner Zei­tung als „ver­sof­fe­ner Münch­ner Dilet­tant“ bezeich­net. Frie­dell repli­zier­te: „Es stört mich nicht, als Dilet­tant bezeich­net zu wer­den. Dilet­tan­tis­mus und ehr­li­che Kunst­be­mü­hung schlie­ßen ein­an­der nicht aus. Auch leug­ne ich kei­nes­wegs, daß ich dem Alko­hol­genuß zuge­tan bin, und wenn man mir dar­aus einen Strick dre­hen will, muß ich’s hin­neh­men. Aber das Wort ‚Münch­ner‘ wird ein gericht­li­ches Nach­spiel haben!”

Ende Janu­ar 1928 ver­schick­te Frie­dell eine gedruck­te Post­kar­te, auf der geschrie­ben stand: „Von allen Glück­wün­schen zu mei­nem 50. Geburts­tag hat mich der Ihre am meis­ten gefreut.” Zwei Mona­te nach sei­nem 60. erschie­nen zwei SA-Män­ner an sei­ner Woh­nungs­tür in Wien, und Frie­dell stürz­te sich aus dem Fens­ter, nach­dem er zuvor die Pas­san­ten auf­ge­for­dert hat­te, bei­sei­te zu treten.

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Dr. Hugo Sper­ber, Anwalt in Wien, nach dem „Anschluss” von Nazis tot­ge­schla­gen, war „der Anek­do­te liebs­tes Kind”. Sei­ne Kli­en­ten waren oft gewöhn­li­che Ver­bre­cher, und das erwar­tungs­fro­he Publi­kum im Gerichts­saal erhielt von ihm bes­te Unter­hal­tung. Ein­mal ver­tei­dig­te er einen Ein­bre­cher. Der öffent­li­che Anklä­ger stütz­te sich nur auf Indi­zi­en, vor allem die Tat­sa­che, dass der Ange­klag­te bei sei­ner Fest­nah­me eine Tasche mit Ein­bruchs­werk­zeug bei sich getra­gen habe. Sper­ber mel­de­te sich zu Wort: „Herr Vor­sit­zen­der, ich tra­ge stän­dig das zum Ehe­bruch erfor­der­li­che Werk­zeug bei mir. Ist das ein Verdachtsmoment?”

Ein ander­mal war neu­er­lich ein Schloss­kna­cker sein Kli­ent. „Der Mann hat­te zwei Ein­bruch­dieb­stäh­le began­gen, einen bei Tag, den ande­ren bei Nacht, und der Staats­an­walt leg­te ihm als erschwe­rend im ers­ten Fall die beson­de­re Frech­heit zur Last, mit der er sein ver­bre­che­ri­sches Hand­werk sogar bei Tages­licht aus­üb­te, im zwei­ten Fall die beson­de­re Tücke. An die­ser Stel­le erdröhn­te im Gerichts­saal Dr. Sper­bers Zwi­schen­ruf: ‚Herr Staats­an­walt, wann soll mein Kli­ent eigent­lich einbrechen?’ ”

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Als Sper­bers größ­ter Kon­kur­rent in punc­to Anek­do­ten­dich­te fir­miert der Dra­ma­ti­ker Ferenc Molnár, der als einer der bedeu­tends­ten unga­ri­schen Thea­ter­au­to­ren gilt. Zwei Bei­spie­le. „Eine Zeit­lang wim­mel­te es auf deut­schen Büh­nen von Stü­cken mit wirk­lich oder ver­meint­lich ‚frei­er’ The­ma­tik, mit Les­bie­rin­nen, Inzest und Ödi­pus­kom­plex”, plau­dert Tor­berg aus dem Näh­käst­chen der Gol­de­nen Zwan­zi­ger. „Ich habe einen sehr guten Stoff für ein neu­es Stück”, gab Molnár am Kaf­fee­haus­tisch bekannt. „Die Grund­idee ist ganz ein­fach, wie bei allen gro­ßen Tra­gö­di­en: Jun­ger Mann – glück­lich mit sei­ner Mut­ter ver­hei­ra­tet – kommt dar­auf, daß es gar nicht sei­ne Mut­ter ist – erschießt sich.”

Einer Schau­spie­le­rin, die ihm offen­bar­te, sie habe erfah­ren, dass er Jude sei, und das mache ihn ihr eigent­lich sym­pa­thisch, raun­te Molnár zu: „Ich habe gewußt, daß Sie mir drauf­kom­men wer­den. Aber die Gele­gen­heit habe ich mir anders vorgestellt.”

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Der Schrift­stel­ler Fri­gyes Kar­in­thy, „der ein­zi­ge wür­di­ge Zeit­ge­nos­se Ferenc Molnárs”, wur­de eines Tages in sei­nem Som­mer­haus am Plat­ten­see „durch einen Anruf sei­nes Kol­le­gen und bes­ten Freun­des Jenö H. auf­ge­stört”. Ihm sei Schreck­li­ches zuge­sto­ßen, er müs­se sofort vor­bei­kom­men und mit ihm reden, es sei unauf­schieb­bar. Bei Kar­in­thy erschien eine ver­stör­te Jam­mer­ge­stalt, ein Hiob, der, wäh­rend die bei­den am See spa­zie­ren­gin­gen, berich­te­te: „Sei­ne Frau war ihm drauf­ge­kom­men, daß er seit Jah­ren eine Gelieb­te hat­te, woll­te ihm aber die Schei­dung nicht geben; die Gelieb­te woll­te ihn ver­las­sen, wenn er sie jetzt nicht end­lich hei­ra­te­te, und droh­te über­dies mit einem öffent­li­chen Skan­dal; die Gläu­bi­ger, die ihn schon seit lan­gem bedräng­ten, droh­ten mit Pfän­dung; sein Ver­le­ger, dem er das über­fäl­li­ge Manu­skript noch immer nicht gelie­fert hat­te, droh­te mit einer Kla­ge auf Rück­zah­lung des Vor­schus­ses; die Zei­tung, bei der er als Kri­ti­ker ange­stellt war, droh­te ihm mit Ent­las­sung; heu­te habe er wie­der einen Herz­an­fall gehabt und mor­gen müs­se er sich wie­der auf Zucker unter­su­chen las­sen und so ging der Kata­stro­phen­be­richt immer weiter.”

Kar­in­thy blieb plötz­lich ste­hen und leg­te sei­nem Freund die Hand auf die Schul­ter. „Ent­schul­di­ge”, mur­mel­te er, „ich habe nicht gut zuge­hört. Was hast du gesagt?”

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Sán­dor Heve­si, Direk­tor des unga­ri­schen Natio­nal­thea­ters, war sei­nes bei­ßen­den Wit­zes wegen berühmt. Bei einer Insze­nie­rung des „Lear” geriet der jun­ge Regis­seur mit dem Haupt­dar­stel­ler gleich nach der ers­ten Pro­be hart anein­an­der und flüch­te­te in die Direk­ti­ons­kanz­lei. Heve­si hört sich sei­ne Beschwer­de ruhig an und sagt beschwich­ti­gend: „Lie­ber jun­ger Freund, Sie dür­fen sich nicht krän­ken, und Sie dür­fen sich nicht wun­dern. Beden­ken Sie doch, mit wem Sie es zu tun haben: ein erwach­se­ner Mensch, der sich jeden Abend einen Bart ins Gesicht klebt – schreit, daß er der König ist – und glaubt’s!”

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Rudolf Kom­mer, eine Art Fak­to­tum des Regis­seurs Max Rein­hardt, stamm­te aus Czer­no­witz und wur­de wegen sei­ner Her­kunft und sei­nes Idi­oms oft geneckt. Als Rein­hardt einen sei­ner berühm­ten Emp­fän­ge auf Schloss Leo­polds­kron anläss­lich der Salz­bur­ger Fest­spie­le gab, wir ver­wei­len Anfang der 1930er, befand sich unter den Gäs­ten der Gene­ral­oberst Hans von Seeckt, „ein unge­mein arti­ku­lier­ter, fein­sin­ni­ger, dem Thea­ter­mann Rein­hardt ver­eh­rungs­voll zuge­ta­ner Kunst­freund”. Kom­mer war auch an die­sem Abend mit Anspie­lun­gen auf Czer­no­witz gehän­selt wor­den und fühl­te sich bemü­ßigt, dem Besu­cher aus Preu­ßen die Hin­ter­grün­de zu erklären.
„Sie müs­sen wis­sen, Exzel­lenz, daß ich aus Czer­no­witz stam­me”, begann er. „Czer­no­witz liegt im Osten der ehe­ma­li­gen Habs­bur­ger­mon­ar­chie und steht im Ruf –”
Seeckt wehr­te mit einer knap­pen Hand­be­we­gung ab. „Dan­ke”, schnarr­te er. „Habe die Stadt zwei­mal eingenommen.”

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Es tre­ten aber kei­nes­wegs nur Per­so­nen auf, die im Brock­haus und der Wiki­pe­dia ver­zeich­net sind. „Pol­di Beck war von klei­nem, zier­li­chem Wuchs, neig­te zur Melan­cho­lie und zum Alko­hol­genuß und schrieb, wenn bei­des ihn über­kam, ver­zwei­felt komi­sche Gedich­te, in denen er einer von Karl May inspi­rier­ten India­ner­ro­man­tik frei­en Lauf ließ.” Sei­ne Ver­se rezi­tier­te er, na wo schon, im Kaf­fee­haus. Tor­berg erin­nert sich an den Anfang eines die­ser Gedichte:

„Wir wol­len uns vom Feu­er­was­ser kaufen,
Denn anders hat das Leben kei­nen Zweck,
Und wol­len uns dann ganz enorm besaufen,
Du, Win­ne­tou, und ich, der star­ke Beck.“

Becks größ­te Tat indes, erfah­ren wir wei­ter, sei die Her­aus­ga­be der Zeit­schrift „Die Bin­se” gewe­sen, Unter­ti­tel: „Zeit­schrift zur Ver­brei­tung von Licht und Wahr­heit.“ Sie erschien nur ein ein­zi­ges Mal, wes­halb die Leser im ers­ten und ein­zi­gen Leit­ar­ti­kel infor­miert wur­den: „Mit die­ser Aus­ga­be stellt die ‚Bin­se‘ ihr Erschei­nen ein.” Drin­nen befan­den sich Rubri­ken wie „Gleich­gül­ti­ges aus aller Welt”, etwa: „Ges­tern gegen 5 Uhr nach­mit­tags gelang es der 47jährigen Köchin Anna Kra­toch­will, einen Auto­bus der Linie 12 an der Hal­te­stel­le Ste­phans­platz noch knapp zu erreichen.”

***

„Seit 1933 war es um die Ver­dienst­mög­lich­kei­ten jener Schrift­stel­ler, die den Ras­sen­ge­set­zen des Drit­ten Reichs nicht ent­spra­chen, äußerst man­gel­haft bestellt. Auch in der vor­mals so ergie­bi­gen Film­bran­che gab es kaum noch etwas zu holen, denn die Pro­du­zen­ten der weni­gen deutsch­spra­chi­gen Fil­me, die in Öster­reich und der Tsche­cho­slo­wa­kei her­ge­stellt wur­den, spe­ku­lier­ten ins­ge­heim auf einen viel­leicht doch noch durch­führ­ba­ren Ver­kauf nach Deutsch­land und lie­ßen es sich ange­le­gen sein, dem ‚Arier­pa­ra­gra­phen‘ nicht all­zu offen zuwi­der­zu­han­deln. Aus­nah­me­fäl­le ereig­ne­ten sich nur ganz selten.”

Ledig­lich die gel­ten­den Ver­gleichs­ver­bo­te hin­dern mich dar­an, die Fra­ge zu stel­len, wor­an mich das nur erinnert.

Zwei­er neu­er Staats­fei­er­ta­ge, die 1938 in Wie­ner Ver­folg­ten­krei­sen erfun­den wur­den, sei statt­des­sen noch gedacht: „Maria Denun­zia­ta” und „Mariä Hausdurchsuchung”.

***

Einen gro­ßen Teil der Samm­lung bil­den melan­cho­li­sche Exil-Anek­do­ten, oft geron­nen in ein­zel­nen Aus­sprü­chen. „Was machst du in Sai­gon?”, frag­te Blu­men­feld, und Hel­ler ant­wor­te­te: „Was kann ein Brün­ner Jud in Indo­chi­na schon machen? Ein Wie­ner Restau­rant!” – „Das war”, echot es ein paar Sei­ten wei­ter, „das bes­te Wie­ner Schnit­zel, das ich seit Mani­la geges­sen habe.”

Ein hung­ri­ger Neu­an­kömm­ling in Lon­don, wenig Geld, besuch­te ein ihm als preis­wert emp­foh­le­nes Lokal namens „Lyon’s Cor­ner­house”, bestell­te sich, um zu spa­ren, eine Sup­pe, ver­zog beim ers­ten Löf­fel das Gesicht zu einer schmerz­li­chen Gri­mas­se und schüt­tel­te hin­ter des Kell­ners Rücken die Faust mit den Wor­ten: „Aber Mee­re beherr­schen – das ja!” Ein ande­rer Emi­gran­ten-Stoß­seuf­zer aus Lon­don: „Reg­nen – das kön­nen sie!”

Oder:
„Na, wie gefällt’s Ihnen in New York, Frau Zwicker?”
„Wie soll es mir gefal­len am Balkan?”

In Hol­ly­wood lern­te Tor­berg Arnold Schön­berg ken­nen. „An wie­vie­le bedeu­ten­de oder genia­le Zeit­ge­nos­sen ich im Leben her­an­ge­kom­men sein mag, kei­ner von ihnen hat mir so bezwin­gend und beglü­ckend das Gefühl ver­mit­telt, daß ich’s mit einem Genie zu tun habe.” Die Anek­do­te, die er zum Erfin­der der Zwölf­ton­mu­sik bei­steu­ert, geht so: Lou­is B. May­er, Stu­dio­chef bei Metro-Gold­wyn, damals das größ­te Stu­dio der Welt, lud den nach Ame­ri­ka emi­grier­ten und dort sehr ärm­lich leben­den Schön­berg in sein Büro, um ein „Traum­enga­ge­ment” zu schlie­ßen. Als Schön­berg das Office betrat, sprang der Stu­dio­boss hin­ter sei­nem Schreib­tisch her­vor, streck­te dem Kom­po­nis­ten die Hand ent­ge­gen und begrüß­te ihn mit den Wor­ten: „I‘m hap­py to meet you, Mr. Schön­berg. I‘m a gre­at admi­rer of your love­ly music!”

Schön­berg schlug die ihm dar­ge­bo­te­ne Hand aus, stieß ein „My music isn’t love­ly” her­vor, mach­te kehrt und ging.

„Das Enga­ge­ment, das sei­ne Exis­tenz­sor­gen been­det hät­te, war geplatzt. Wer von einem schöp­fe­ri­schen Genie Kennt­nis hat, dem unter ähn­li­chen Umstän­den ein ähn­li­ches Ver­hal­ten zuzu­trau­en wäre, möge sich melden.”

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Ganz am Ende, wir befin­den uns ja unter Juden, muss selbst­ver­ständ­lich ein Witz stehen.

Auf der stau­bi­gen Stra­ße sieht ein Händ­ler den Zadik (ein beson­ders recht­schaf­fe­ner, wei­ser Mann) gehen. Der Händ­ler hält sein Fuhr­werk an und fragt erstaunt: „Wohin des Wegs, Zadik?”
„Zum Wochen­markt nach Pupi­dow­ka”, lau­tet die Antwort.
Noch erstaun­ter fragt der Händ­ler: „Aber wozu? Was sucht ein Zadik auf dem Wochen­markt in Pupidowka?”
Ant­wor­tet der Zadik: „Nun, viel­leicht fin­det sich eine Fuh­re zurück.”

 

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In memoriam Egon Friedell

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