Als ein Mensch, der die k. u. k. Monarchie – oder wie Robert Musil sie nannte, Kakanien –, das amüsante, schlampige, gemütliche, genießerische, seine Probleme nicht lösende, sondern vergessende Vielvölkerreich, inzwischen für das Beste hält, was die Menschheit jemals gesellschaftlich geschaffen hat; als jemand, der die heutigen kulturlosen und geistfeindlichen Verhältnisse, unter denen es den woken Garden so kannibalisch wohl geht als wie fünfhundert Säuen, mit angewidertem Hohn betrachtet; als ein gelegentlich von Melancholie und Verlustschmerz nicht unbedingt Heim‑, aber doch Gesuchter –
möchte ich heute all denen, die es noch nicht kennen, ein Buch empfehlen, das mich in den vergangenen Tagen in einen Zustand heiterer Wehmut oder wehmütiger Heiterkeit versetzte, nämlich „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten” von Friedrich Torberg. Das Buch erschien 1975 (Band zwei 1978) und ist, lese ich, sogar verfilmt worden, aber heute so gut wie vergessen – wie Proust einmal sinngemäß schrieb, „aus der Mode gekommen, und das ist das Beste, das sich darüber sagen lässt”. Es handelt vom Wien und Prag der Vor- und Zwischenkriegszeit, jener vom Ersten Weltkrieg schwer erschütterten und von den Nationalsozialisten schließlich zerstörten „Welt von gestern”, wie Stefan Zweig sie nannte, jener Welt der Kaffeehäuser, Künstler- und Literatenclubs mit ihrem unerschöpflichen boshaften Witz, der Bridge- und Tarockkneipen, der Empfänge, Bälle, Sommerfrischen und Kurkapellen, und der Autor vertritt „die These, daß mit dem untergegangenen Teil des europäischen Judentums zugleich ein Teil des Abendlandes untergegangen ist”.
Torberg wurde 1908 in Wien als Friedrich Kantor geboren – der Geburtsname seiner Mutter war Berg, sein Pseudonym war eine Kombination aus beiden Namen – und starb 1979 ebendort. Die Nazijahre verbrachte er als Exilant in Frankreich und den USA. 1951 kehrte er nach Wien zurück.
Über ihn als Autor genügt es, dreierlei zu wissen. Erstens: Er kann schreiben, plaudern, famos unterhalten, Pointen setzen und mit gewissen Ungenügsamkeiten kokettieren, etwa der „steten Nötigung und Lockung zum Apropos”, die seinem anekdotischen Projekt unvermeidlich innewohnt (dass „den vorangegangenen Abschnitten ein deutlicher Mangel an konsequentem Aufbau eignet”, gehöre zu den „organisatorischen Schwierigkeiten, die mir bei der Niederschrift dieses Buches immer wieder begegnen, und für die ich keine Lösung weiß, als in Gottes Namen weiterzuschreiben”); wie die Besucher des Kleinen Eckladens wissen, ist dessen Betreiber dem Apropos rettungslos verfallen.
Zweitens: Torberg kannte sie alle persönlich, Egon Friedell, Alfred Polgar, Karl Kraus, Leo Perutz, Max Reinhardt, Bruno Walter, Martin Buber, Arnold Schönberg, Anton Kuh, Leonhard Frank, Franz und Alma Werfel und und und. Apropos: Die in die Jahre gekommene Alma Werfel, Ehefrau auch, aber nacheinander, von Gustav Mahler und Walter Gropius, „pflegte am Morgen um sechs Uhr aufzustehen, trank eine Flasche Champagner leer und spielte eine Stunde lang das ‚Wohltemperierte Klavier‘. Ich berichte das aus Erfahrung.”
Drittens: Er war nicht nur ein von den Nazis ins Exil getriebener Nazigegner, sondern – beziehungsweise folgerichtig – auch ein leidenschaftlicher Antikommunist, der in den Nachkriegsjahren gegen die Sympathisanten der roten Massenmörder anschrieb und an den österreichischen Bühnen einen Boykott der Stücke Brechts durchsetzte, der bis 1963 hielt. (Ich habe neulich meine Brecht-Ausgabe weggeschmissen – die Gedichte natürlich nicht –, und es ist ein gutes Gefühl, diesen Agitprop für die schäbigste Sache der Welt nicht mehr im Hause zu haben.)
Übrigens (und apropos) hat Torberg das Werk des göttlichen Fritz Herzmanovsky-Orlando ediert oder, wie man sagt, wiederentdeckt – was ist das für eine Welt, in der jeder Brecht kennt und kaum jemand Herzmanovsky-Orlando, den Erfinder von „Tarockanien” (als Gegenstück zu „Kakanien”)? – und auf diese Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Für Torberg, von dem die hinreißende Wortprägung vom „inneren Doppeladler” stammt, war der „Untergang Österreichs eine der katastrophalsten Humorlosigkeiten der Weltgeschichte”. Er frage sich, „warum ich nichts davon wissen machen sollte, daß meine Geburt und acht Jahre meines Lebens noch in die Ära des alten Kaisers fielen, in dessen Regierungserklärung Ungarn noch ‚Hungarn‘ hieß; warum ich leugnen oder bagatellisieren oder gar schmähen sollte, was ich als Kind bestaunt und bewundert habe; warum ich, kurzum, an diese Kinder- und Kaiserzeit, an das allsommerliche Feuerwerk in Ischl am Vorabend des 18. August (der für mich noch lange ‚Kaisers Gebutstag‘ blieb), an das klingende Spiel der Burgkapelle, dem ich an der Hand meines Kinderfräuleins zuhören durfte, an Regimentsmusik und Fronleichnamsprozession und Farbenpracht und Equipagenprunk – warum ich an all das nicht mit Wehmut zurückdenken sollte.”
Über den Kurort Ischl oder Bad Ischl im Salzkammergut, die Sommerresidenz von Kaiser Franz Joseph, wo sich der Monarch als junger Mann mit seiner Sisi verlobte, wo schon Metternich und der Erzherzog Rudolf verkehrten, später Bruckner, Brahms, Johann Strauss sowie Literaten jeglichen Zuschnitts, heißt es:
„Aus dem Musikpavillon auf der Esplanade, die noch immer entlang der Traun verläuft, erklingt kein Vormittagskonzert der Kurkapelle André Hummer, kein Divertissement aus dem ‚Rastelbinder‘ und keine Ouvertüre zu Boieldieus ‚Kalif von Bagdad‘, im Esplanaden-Café der im Innern des Ortes gelegenen Konditorei Zauner erholen sich keine vom Spaziergang ermüdeten Advokaten und Industriellen und Kunstmäzene, es mopsen sich keine Kinder an der Hand ihrer Gouvernanten, es wandeln keine Vertreter des Geisteslebens gebärdenreich diskutierend nebeneinander her, es ist vorbei mit der Esplanade, vorbei mit allem, was einstmals Ischl war, mit seiner einmaligen Struktur und Atmosphäre, es ist vorbei.”
Er könne sich „Schlimmeres vorstellen als eine Monarchie”, ja, er müsse sich eigentlich gar nichts vorstellen, „denn ich habe Schlimmeres erlebt (und wer weiß, ob ich’s in einer Monarchie hätte erleben müssen)”, notiert der Autor. „Immer sah ich etwas zerbröckeln, was mir lieb war.” Diese Welt wollte er wenigstens auf dem Papier retten. „Der Brunnen, aus dem ich schöpfe, ist unwiederbringlich versiegt.”
Das Herz des von Torberg beschriebenen Universums mit seinen Metropolen Wien, Prag und Budapest schlug im Kaffeehaus. „Das Stammpublikum dieser Kaffeehäuser war, wie das geistig und künstlerisch interessierte Publikum insgesamt, zum großen Teil jüdisch. Vor 1938 lebten in Wien fast eine Viertelmillion Juden. Heute zählen sie knappe Zehntausend. … Was nicht etwa besagen soll, daß es in Wien keine Literaten, keine Intellektuellen, keine geistig und künstlerisch interessierten Menschen mehr gäbe. Natürlich gibt es sie. Aber sie sind nicht nur in ihrer Anzahl empfindlich reduziert, sie sind es auch in ihren Möglichkeiten zum Kaffeehausbesuch. Sie sind – und damit kommt die Soziologie ins Spiel – beschäftigt. Sie haben zu tun. … Sie haben keine Zeit. Und Zeithaben ist die wichtigste, die unerläßliche Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur (ja am Ende wohl jeglicher Kultur).”
Das Phänomen des Keine-Zeit-habens hat in der Zwischenzeit in unserem Weltteil bekanntlich eine enorme Verbreitung gefunden, über sämtliche Schichten und Milieus hinweg und in einer Totalität, von der sich Torberg noch gar keinen Begriff machen konnte. Es beschreibt bei Lichte besehen einen Zustand allgemeiner Unfreiheit – eine Sklaverei ohne Herren.
„Ein Luxus ist es, Zeit zu haben. Noch die armseligsten Insassen der alten Literaturcafés konnten sich diesen Luxus leisten. … Zur Bezahlung der Zeche – wofern man sie nicht einfach schuldig blieb – waren die Mäzene da, die es gleichfalls nicht mehr gibt, und gäbe es sie, dann hätten sie gleichfalls keine Zeit.”
Im Kaffeehaus waren diejenigen, um die es geht, Stammgäste – aber in einem anderen Sinne, als der Begriff heute verstanden wird. „Dort schrieben und dichteten sie. Dort empfingen und beantworteten sie ihre Post. Dort wurden sie angerufen, und wenn sie zufällig nicht da waren, nahm der Ober die Nachricht für sie entgegen. Dort trafen sie ihre Freunde und Feinde, dort mußte man hingehen, wenn man mit ihnen sprechen wollte, dort lasen sie ihre Zeitungen, dort diskutierten sie, dort lebten sie. (Kürschners Literaturkalender verzeichnete jahrelang als Peter Altenbergs Adresse: ‚Café Central, Wien I.‘) In ihren Wohnungen schliefen sie nur. Ihr wirkliches Zuhause war das Kaffeehaus.“
In dieser Welt entstanden die einen Anekdoten – die anderen wurden dort kolportiert, verbreitet oder erfunden. Da Torbergs Opus eine Anekdotensammlung sui generis ist, will ich einige meiner Lieblingsgeschichten und ‑bonmots zitieren, getrennt durch die hier üblichen drei Sternchen.
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Egon Erwin Kisch, der kommunistische Reporter, und Anton Kuh, der literarische Bohemien und geniale Stegreifredner, waren einander in innigem Hass zugetan, Kisch verabscheute den Kuh, das Begabungsgefälle abbildend, mehr als umgekehrt, doch seine Aversion inspirierte ihn zu einer herrlichen Sottise: „So gab er auf eine der damals grassierenden Zeitungsumfragen mit dem ohnehin geschmacklosen Thema ‚Woran möchten Sie am liebsten sterben?‘ die Antwort: ‚An einem Schlaganfall aus Freude über den Tod von Anton Kuh’.”
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Kuh wiederum beschrieb ein Porträt von Stefan George mit den Worten: „Er sieht aus wie eine alte Frau, die wie ein alter Mann aussieht.” Seinen Entschluss, nach Amerika zu emigrieren, begründete er mit dem Argument: „Schnorrer kann man überall brauchen!” Dieser Entschluss kam übrigens folgendermaßen zustande: Kuh hatte 1938 im Freundeskreis einen Plan entwickelt, wie Österreich dem drohenden Zugriff Hitlers noch entgehen könne. Der österreichische Unterrichtsminister Pernter bekam Wind davon und lud ihn zu sich ein, auf dass er ihn mit dem Plan vertraut mache. Kuh packte sofort seine Koffer und verließ Österreich. „Zu einer Regierung, die sich mit ihm, Anton Kuh, hinsetzte, hatte er kein Vertrauen mehr.”
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Karl Kraus war verliebt in die Schauspielerin Elfriede Schopf. Nachdem deren Liebhaber plötzlich und unerwartet (und ungeimpft!) verstorben war, erklärte Kraus in kleiner Runde: „Jetzt müßte man die Schopf bei der Gelegenheit packen.” (Offenbar gelang es ihm nicht.)
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Egon Friedell, Multitalent, Polyhistor, Verfasser der „Kulturgeschichte der Neuzeit”, eines meiner Lieblingsbücher, wurde von einer Berliner Zeitung als „versoffener Münchner Dilettant“ bezeichnet. Friedell replizierte: „Es stört mich nicht, als Dilettant bezeichnet zu werden. Dilettantismus und ehrliche Kunstbemühung schließen einander nicht aus. Auch leugne ich keineswegs, daß ich dem Alkoholgenuß zugetan bin, und wenn man mir daraus einen Strick drehen will, muß ich’s hinnehmen. Aber das Wort ‚Münchner‘ wird ein gerichtliches Nachspiel haben!”
Ende Januar 1928 verschickte Friedell eine gedruckte Postkarte, auf der geschrieben stand: „Von allen Glückwünschen zu meinem 50. Geburtstag hat mich der Ihre am meisten gefreut.” Zwei Monate nach seinem 60. erschienen zwei SA-Männer an seiner Wohnungstür in Wien, und Friedell stürzte sich aus dem Fenster, nachdem er zuvor die Passanten aufgefordert hatte, beiseite zu treten.
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Dr. Hugo Sperber, Anwalt in Wien, nach dem „Anschluss” von Nazis totgeschlagen, war „der Anekdote liebstes Kind”. Seine Klienten waren oft gewöhnliche Verbrecher, und das erwartungsfrohe Publikum im Gerichtssaal erhielt von ihm beste Unterhaltung. Einmal verteidigte er einen Einbrecher. Der öffentliche Ankläger stützte sich nur auf Indizien, vor allem die Tatsache, dass der Angeklagte bei seiner Festnahme eine Tasche mit Einbruchswerkzeug bei sich getragen habe. Sperber meldete sich zu Wort: „Herr Vorsitzender, ich trage ständig das zum Ehebruch erforderliche Werkzeug bei mir. Ist das ein Verdachtsmoment?”
Ein andermal war neuerlich ein Schlossknacker sein Klient. „Der Mann hatte zwei Einbruchdiebstähle begangen, einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke. An dieser Stelle erdröhnte im Gerichtssaal Dr. Sperbers Zwischenruf: ‚Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?’ ”
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Als Sperbers größter Konkurrent in puncto Anekdotendichte firmiert der Dramatiker Ferenc Molnár, der als einer der bedeutendsten ungarischen Theaterautoren gilt. Zwei Beispiele. „Eine Zeitlang wimmelte es auf deutschen Bühnen von Stücken mit wirklich oder vermeintlich ‚freier’ Thematik, mit Lesbierinnen, Inzest und Ödipuskomplex”, plaudert Torberg aus dem Nähkästchen der Goldenen Zwanziger. „Ich habe einen sehr guten Stoff für ein neues Stück”, gab Molnár am Kaffeehaustisch bekannt. „Die Grundidee ist ganz einfach, wie bei allen großen Tragödien: Junger Mann – glücklich mit seiner Mutter verheiratet – kommt darauf, daß es gar nicht seine Mutter ist – erschießt sich.”
Einer Schauspielerin, die ihm offenbarte, sie habe erfahren, dass er Jude sei, und das mache ihn ihr eigentlich sympathisch, raunte Molnár zu: „Ich habe gewußt, daß Sie mir draufkommen werden. Aber die Gelegenheit habe ich mir anders vorgestellt.”
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Der Schriftsteller Frigyes Karinthy, „der einzige würdige Zeitgenosse Ferenc Molnárs”, wurde eines Tages in seinem Sommerhaus am Plattensee „durch einen Anruf seines Kollegen und besten Freundes Jenö H. aufgestört”. Ihm sei Schreckliches zugestoßen, er müsse sofort vorbeikommen und mit ihm reden, es sei unaufschiebbar. Bei Karinthy erschien eine verstörte Jammergestalt, ein Hiob, der, während die beiden am See spazierengingen, berichtete: „Seine Frau war ihm draufgekommen, daß er seit Jahren eine Geliebte hatte, wollte ihm aber die Scheidung nicht geben; die Geliebte wollte ihn verlassen, wenn er sie jetzt nicht endlich heiratete, und drohte überdies mit einem öffentlichen Skandal; die Gläubiger, die ihn schon seit langem bedrängten, drohten mit Pfändung; sein Verleger, dem er das überfällige Manuskript noch immer nicht geliefert hatte, drohte mit einer Klage auf Rückzahlung des Vorschusses; die Zeitung, bei der er als Kritiker angestellt war, drohte ihm mit Entlassung; heute habe er wieder einen Herzanfall gehabt und morgen müsse er sich wieder auf Zucker untersuchen lassen und so ging der Katastrophenbericht immer weiter.”
Karinthy blieb plötzlich stehen und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Entschuldige”, murmelte er, „ich habe nicht gut zugehört. Was hast du gesagt?”
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Sándor Hevesi, Direktor des ungarischen Nationaltheaters, war seines beißenden Witzes wegen berühmt. Bei einer Inszenierung des „Lear” geriet der junge Regisseur mit dem Hauptdarsteller gleich nach der ersten Probe hart aneinander und flüchtete in die Direktionskanzlei. Hevesi hört sich seine Beschwerde ruhig an und sagt beschwichtigend: „Lieber junger Freund, Sie dürfen sich nicht kränken, und Sie dürfen sich nicht wundern. Bedenken Sie doch, mit wem Sie es zu tun haben: ein erwachsener Mensch, der sich jeden Abend einen Bart ins Gesicht klebt – schreit, daß er der König ist – und glaubt’s!”
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Rudolf Kommer, eine Art Faktotum des Regisseurs Max Reinhardt, stammte aus Czernowitz und wurde wegen seiner Herkunft und seines Idioms oft geneckt. Als Reinhardt einen seiner berühmten Empfänge auf Schloss Leopoldskron anlässlich der Salzburger Festspiele gab, wir verweilen Anfang der 1930er, befand sich unter den Gästen der Generaloberst Hans von Seeckt, „ein ungemein artikulierter, feinsinniger, dem Theatermann Reinhardt verehrungsvoll zugetaner Kunstfreund”. Kommer war auch an diesem Abend mit Anspielungen auf Czernowitz gehänselt worden und fühlte sich bemüßigt, dem Besucher aus Preußen die Hintergründe zu erklären.
„Sie müssen wissen, Exzellenz, daß ich aus Czernowitz stamme”, begann er. „Czernowitz liegt im Osten der ehemaligen Habsburgermonarchie und steht im Ruf –”
Seeckt wehrte mit einer knappen Handbewegung ab. „Danke”, schnarrte er. „Habe die Stadt zweimal eingenommen.”
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Es treten aber keineswegs nur Personen auf, die im Brockhaus und der Wikipedia verzeichnet sind. „Poldi Beck war von kleinem, zierlichem Wuchs, neigte zur Melancholie und zum Alkoholgenuß und schrieb, wenn beides ihn überkam, verzweifelt komische Gedichte, in denen er einer von Karl May inspirierten Indianerromantik freien Lauf ließ.” Seine Verse rezitierte er, na wo schon, im Kaffeehaus. Torberg erinnert sich an den Anfang eines dieser Gedichte:
„Wir wollen uns vom Feuerwasser kaufen,
Denn anders hat das Leben keinen Zweck,
Und wollen uns dann ganz enorm besaufen,
Du, Winnetou, und ich, der starke Beck.“
Becks größte Tat indes, erfahren wir weiter, sei die Herausgabe der Zeitschrift „Die Binse” gewesen, Untertitel: „Zeitschrift zur Verbreitung von Licht und Wahrheit.“ Sie erschien nur ein einziges Mal, weshalb die Leser im ersten und einzigen Leitartikel informiert wurden: „Mit dieser Ausgabe stellt die ‚Binse‘ ihr Erscheinen ein.” Drinnen befanden sich Rubriken wie „Gleichgültiges aus aller Welt”, etwa: „Gestern gegen 5 Uhr nachmittags gelang es der 47jährigen Köchin Anna Kratochwill, einen Autobus der Linie 12 an der Haltestelle Stephansplatz noch knapp zu erreichen.”
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„Seit 1933 war es um die Verdienstmöglichkeiten jener Schriftsteller, die den Rassengesetzen des Dritten Reichs nicht entsprachen, äußerst mangelhaft bestellt. Auch in der vormals so ergiebigen Filmbranche gab es kaum noch etwas zu holen, denn die Produzenten der wenigen deutschsprachigen Filme, die in Österreich und der Tschechoslowakei hergestellt wurden, spekulierten insgeheim auf einen vielleicht doch noch durchführbaren Verkauf nach Deutschland und ließen es sich angelegen sein, dem ‚Arierparagraphen‘ nicht allzu offen zuwiderzuhandeln. Ausnahmefälle ereigneten sich nur ganz selten.”
Lediglich die geltenden Vergleichsverbote hindern mich daran, die Frage zu stellen, woran mich das nur erinnert.
Zweier neuer Staatsfeiertage, die 1938 in Wiener Verfolgtenkreisen erfunden wurden, sei stattdessen noch gedacht: „Maria Denunziata” und „Mariä Hausdurchsuchung”.
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Einen großen Teil der Sammlung bilden melancholische Exil-Anekdoten, oft geronnen in einzelnen Aussprüchen. „Was machst du in Saigon?”, fragte Blumenfeld, und Heller antwortete: „Was kann ein Brünner Jud in Indochina schon machen? Ein Wiener Restaurant!” – „Das war”, echot es ein paar Seiten weiter, „das beste Wiener Schnitzel, das ich seit Manila gegessen habe.”
Ein hungriger Neuankömmling in London, wenig Geld, besuchte ein ihm als preiswert empfohlenes Lokal namens „Lyon’s Cornerhouse”, bestellte sich, um zu sparen, eine Suppe, verzog beim ersten Löffel das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse und schüttelte hinter des Kellners Rücken die Faust mit den Worten: „Aber Meere beherrschen – das ja!” Ein anderer Emigranten-Stoßseufzer aus London: „Regnen – das können sie!”
Oder:
„Na, wie gefällt’s Ihnen in New York, Frau Zwicker?”
„Wie soll es mir gefallen am Balkan?”
In Hollywood lernte Torberg Arnold Schönberg kennen. „An wieviele bedeutende oder geniale Zeitgenossen ich im Leben herangekommen sein mag, keiner von ihnen hat mir so bezwingend und beglückend das Gefühl vermittelt, daß ich’s mit einem Genie zu tun habe.” Die Anekdote, die er zum Erfinder der Zwölftonmusik beisteuert, geht so: Louis B. Mayer, Studiochef bei Metro-Goldwyn, damals das größte Studio der Welt, lud den nach Amerika emigrierten und dort sehr ärmlich lebenden Schönberg in sein Büro, um ein „Traumengagement” zu schließen. Als Schönberg das Office betrat, sprang der Studioboss hinter seinem Schreibtisch hervor, streckte dem Komponisten die Hand entgegen und begrüßte ihn mit den Worten: „I‘m happy to meet you, Mr. Schönberg. I‘m a great admirer of your lovely music!”
Schönberg schlug die ihm dargebotene Hand aus, stieß ein „My music isn’t lovely” hervor, machte kehrt und ging.
„Das Engagement, das seine Existenzsorgen beendet hätte, war geplatzt. Wer von einem schöpferischen Genie Kenntnis hat, dem unter ähnlichen Umständen ein ähnliches Verhalten zuzutrauen wäre, möge sich melden.”
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Ganz am Ende, wir befinden uns ja unter Juden, muss selbstverständlich ein Witz stehen.
Auf der staubigen Straße sieht ein Händler den Zadik (ein besonders rechtschaffener, weiser Mann) gehen. Der Händler hält sein Fuhrwerk an und fragt erstaunt: „Wohin des Wegs, Zadik?”
„Zum Wochenmarkt nach Pupidowka”, lautet die Antwort.
Noch erstaunter fragt der Händler: „Aber wozu? Was sucht ein Zadik auf dem Wochenmarkt in Pupidowka?”
Antwortet der Zadik: „Nun, vielleicht findet sich eine Fuhre zurück.”