Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6

 

Bruck­ner oder Mahler? Für eini­ge Kapell­meis­ter und zahl­rei­che Hörer scheint sich bei die­sen bei­den Namen tat­säch­lich ein Ent­we­der-Oder auf­zu­tun. Frei­lich kann man bei­de durch­aus auch par­al­lel bewun­dern. Bruck­ner ist ein Gip­fel, Mahler ein Pass. Bruck­ner war ein Abschluss und Höhe­punkt, Mahler ist eine Dreh­schei­be in jede Art Moder­ne. Wobei ich hier nicht irgend­ein Ent­wick­lungs­sche­ma pos­tu­lie­ren möch­te, die Kunst kennt kei­ne Klas­sen­zie­le, es gibt nur da und dort neue Wege, und nie­mand ist zeit­lo­ser „modern“ als Mahler.

Zeit­los modern? Ja, aus einem Grund: Mahler hat gesagt, eine Sym­pho­nie (Sym-Pho­nie) schrei­ben bedeu­te ihm, „mit allen Mit­teln der vor­han­de­nen Tech­nik eine Welt auf­bau­en“. Ein zeit­los moder­ne­res Kom­po­si­ti­ons­prin­zip ist wohl nie for­mu­liert wor­den. Wie Mahler kann man heu­te noch kom­po­nie­ren; Künst­ler, die einer spe­zi­el­len ästhe­ti­schen Mode fol­gen, kom­men dage­gen bekannt­lich rasch und ver­dient wie­der aus derselben.

Ich wür­de wie­der­um mir am liebs­ten aus den bevor­zug­ten Mahler­schen Sät­zen mei­ne Lieb­lings­sym­pho­nie zusam­men­bau­en. Die sähe dann etwa so aus: 1. Trau­er­marsch (Fünfte)/ 2. Im Tem­po eines gemäch­li­chen Länd­lers (Neunte)/  3. Andan­te mode­ra­to (Sechste)/ 4. Scher­zo (Sechste)/ 5. Ada­gio (Neun­te). Bar­ba­ri­sche Idee? Ach was! Gilt Mahler nicht als gro­ßer Fort­fe­ger for­mel­ler Kon­ven­tio­nen, als Seis­mo­graph der „Kri­se der musi­ka­li­schen Sprach­fä­hig­keit“ (so sein Bio­graph Jens Mal­te Fischer), als Kün­der der Zer­ris­sen­heit des moder­nen Indi­vi­du­ums? Gehört in sei­nen Sym­pho­nien wirk­lich alles zwin­gend zuein­an­der? Die Tona­li­tät zumin­dest spielt bei ihm kei­ne beson­ders bin­den­de Rol­le, Fünf­te und Neun­te haben gar nicht erst eine Grund­ton­art. Die Sechs­te ist sicher­lich die geschlos­sens­te, strin­gen­tes­te sei­ner Sym­pho­nien, aber das Andan­te ist pas­sa­gen­wei­se durch­aus aus ähn­li­chem Stoff gewebt wie das natür­lich weit kolos­sa­le­re Ada­gio der Neun­ten. Mag das emp­foh­le­ne Werk heu­te also die Sechs­te sein. Im Grun­de ist es die Gegen-Sin­fo­nie schlecht­hin, am Ende steht die tota­le Ver­nich­tung, der „Tri­umph des Todes“.

 
Gus­tav Mahler, Sym­pho­ny No. 6/Richard Strauss: Meta­mor­pho­sen, Sir John Bar­bi­rol­li, New Phil­har­mo­nia Orches­tra (EMI/Great Recor­dings Of The Century) 

 

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, August 2012

Vorheriger Beitrag

Leben wir in Zeiten ohnegleichen?

Nächster Beitrag

Pädagogische Geschichtsklitterung

Ebenfalls lesenswert

Chopin: Balladen

  Es gibt eine Rei­he kul­ti­vier­ter Men­schen – dar­un­ter eini­ge der bedeu­tends­ten Pia­nis­ten – die Alfred Cor­tot (1877–1962)…

Chopin: Nocturnes

  Die Noc­turnes von Cho­pin gehö­ren zu den bezau­bernds­ten Schöp­fun­gen der Kla­vier­li­te­ra­tur. Es sind inti­me Minia­tu­ren, nicht ganz…