Franz Schubert: Die Winterreise

Neu­lich erzähl­te mir ein bedeu­ten­der deut­scher Sän­ger mehr ach­sel­zu­ckend denn sich bekla­gend, dass eine gro­ße Plat­ten­fir­ma vor­zei­ten sei­ne Ein­spie­lung der „Win­ter­rei­se“ nicht in ihr Sor­ti­ment auf­ge­nom­men habe, weil sie dem damals herr­schen­den Geschmack wider­sprach. Ich ent­geg­ne­te, dass die „Win­ter­rei­se“ ein­zig eine Sache zwi­schen den bei­den Inter­pre­ten und Freund Hein sei und es sich nicht zie­me, bei die­ser Musik ans Publi­kum oder an Plat­ten­ver­trä­ge zu den­ken. Das war natür­lich kokett und über­trie­ben, doch zugleich auch wie­der nicht. Schu­berts schau­er­li­che Gesän­ge eines todes­mü­den, von Lied zu Lied immer mehr ver­lö­schens­be­rei­ten Wan­de­rers – der Kern­satz steht im „Irr­licht“ und lau­tet: „Führt ja jeder Weg zum Ziel“ – ver­lan­gen nach Inter­pre­ten, die solch tie­fe Not und exis­ten­ti­el­le Erschüt­te­rung tat­säch­lich zum Aus­druck brin­gen kön­nen. Oder sie sogar sel­ber durchleiden.

Im Früh­jahr 1945, am 23. Janu­ar, 2. und 13. März, spiel­ten der Tenor Peter Anders und der Pia­nist Micha­el Rauch­ei­sen im Haus der Reichs­rund­funk­ge­sell­schaft in der Ber­li­ner Masu­ren­al­le die 24 Lie­der des Zyklus ein. Sie wur­den ohne Schnit­te und Retu­schen pro­du­ziert. Die Rote Armee stand 60 Kilo­me­ter vor den Toren der in Trüm­mern lie­gen­den Reichs­haupt­stadt, und das fer­ne Dröh­nen ihrer Artil­le­rie rück­te die abson­der­lich-welt­ent­rück­te, aber auch hals­star­rig-stol­ze Unter­neh­mung der Her­ren ins Apo­ka­lyp­ti­sche. Kei­ner der bei­den konn­te wis­sen, ob die­se Auf­nah­me oder sie sel­ber den dro­hen­den Zusam­men­bruch über­le­ben wür­den. So ent­stand, qua­si in einem Kon­ti­nu­um außer­halb der Echt­zeit, die wohl ein­dring­lichs­te Auf­nah­me von Schu­berts Meis­ter­werk über die Ver­lo­ren­heit der Einzelseele.

Nach heu­ti­gen Maß­stä­ben ist an die­ser gebro­che­nen, nai­ven, wüten­den Inter­pre­ta­ti­on so vie­les „falsch“, dass man die Maß­stä­be getrost ver­ges­sen kann. Wer in einer bren­nen­den Stadt auf die Aus­lö­schung eines Ter­ror­re­gimes durch das nächs­te war­tet, der hat für „reflek­tier­tes“ Sin­gen nur wenig übrig, so sehr ihn die Kul­tur­tra­di­ti­on sei­nes Lan­des auf eine gewis­se Rest­schön­heit ver­pflich­tet. Fahl und sprö­de klingt das Kla­vier, wäh­rend der Wan­de­rer sei­ne Ver­zweif­lung her­aus­schreit und dabei oft ein heu­te ver­pön­tes bar­ba­ri­sches Stil­mit­tel ver­wen­det, das Glis­san­do. Aber was heißt Stil­mit­tel: Hier ist ja alles echt.

Franz Schu­bert: Die Win­ter­rei­se. Peter Anders, Tenor, Micha­el Rauch­ei­sen, Kla­vier (Deut­sche Grammophon)

Erschie­nen in: eigen­tüm­lich frei, Novem­ber 2015

Vorheriger Beitrag

Die helle Seite des Islam

Nächster Beitrag

Gestatten: Tell. Roger Tell

Ebenfalls lesenswert

Richard Strauss: Salome

  Die meis­ten Opern­li­bret­ti sind von erle­se­ner Däm­lich­keit. Kaum irgend­wo scheint sich das mensch­li­che Kitsch- und   Pathos­be­dürf­nis stär­ker…