10. April 2022

Da ich weiß, dass hier auch eini­ge lite­ra­risch emp­fäng­li­che Men­schen vor­stel­lig wer­den, heu­te mal etwas ande­res; immer­hin ist Sonn­tag, und das war frü­her im Klei­nen Eck­la­den der den Küns­ten vor­be­hal­te­ne Tag. Tem­pi lei­der weit­ge­hend pas­sa­ti.

Ich las zuletzt – der Teu­fel mag wis­sen, war­um erst so spät und war­um gera­de jetzt – Alex­an­der Pusch­kins Vers­dra­ma bezie­hungs­wei­se Vers­ro­man und jeden­falls Haupt­werk „Eugen One­gin“. Wer mit Rus­sen redet, was man momen­tan nicht tun soll, wes­halb ich’s gern tu‘, stößt auf einen merk­wür­di­gen, sämt­li­che Milieus über­schrei­ten­den, vom Geschäfts­mann bis zum Oppo­si­tio­nel­len, vom Poe­ten bis zum Mili­tär rei­chen­den, die красавица wie den крестьянин ein­schlie­ßen­den Kon­sens: Pusch­kin war der Größ­te. Ob er tat­säch­lich über die Schu­le hin­aus von vie­len Rus­sen gele­sen wird, weiß ich nicht, aber Alex­an­der Ser­ge­je­witsch spielt für die rus­si­sche Spra­che eine ähn­li­che Rol­le wie Luther und Goe­the zusam­men fürs Deut­sche, er gilt als ihr recht eigent­li­cher Schöp­fer und zugleich Voll­ender. Und wenn ich hier schon beim Ver­gleich zu deut­schen Autoren bin: „Eugen One­gin“, das ist wie Hein­rich Hei­ne und Wil­helm Busch zusam­men, nur besser.

Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, wie vie­le Deut­sche heu­te noch Pusch­kin lesen und wie vie­le Leser die­ses Dia­ri­ums den „One­gin“ ken­nen. Nach mei­ner Ver­mu­tung ist Tschai­kow­skys Oper hier­zu­lan­de bekann­ter als das Ori­gi­nal, aber sie ver­mit­telt, Brief­sze­ne hin, Fina­le her (und bei aller deli­ka­ten, bei­na­he kam­mer­mu­si­ka­li­schen Instru­men­tie­rung) von der Vor­la­ge höchs­tens eine vage Ahnung. Und vom vir­tuo­sen, spöt­tisch-distan­zier­ten, hei­ter-iro­ni­schen Ton der Dich­tung wis­sen Tschai­kow­skys „Lyri­sche Sze­nen in drei Auf­zü­gen” prak­tisch nichts. Die­ser Ton aber ist das Eigentliche.

„Und den­noch sucht sie teilzunehmen
an dem, wovon man rings­um spricht;
doch die gesell­schaft­li­chen Themen
sind von so läh­men­den Gewicht,
sind so banal, so platt und flüchtig,
so lang­wei­lig und blaß und nichtig,
daß oft ein gan­zer Tag vergeht
und man sich nur im Krei­se dreht
um nichts und wie­der nichts; Gedanken
ent­sprin­gen nicht in die­ser Welt,
die im Gere­de sich gefällt;
hier kann auch nie das Herz erkranken,
der Geist nie lächeln; ja sogar
die Dumm­heit macht sich hier noch rar.“

Heißt es, in der Über­tra­gung von Ulrich Busch, über Tat­ja­na („Tan­ja”), nach­dem sie vom Lan­de nach Sankt Peters­burg über­ge­sie­delt ist. Und der Titel­held, „fri­siert nach Schick und Modeneuheit,/ ein Dan­dy, wie nach Maß bestellt”, wird ein­ge­führt mit den Worten:

„Nein: früh schon waren die Gefühle
in ihm erstarrt; die Gro­ße Welt,
die Damen, ihre Liebesspiele
fand er durch All­tags­brauch entstellt;
ihn lang­weil­ten die kur­zen Freuden;
auch Freun­de such­te er zu meiden,
weil man nicht gern taug­aus, tagein
Beef­steaks mit aus­er­les­nem Wein
zum Mit­tags­mahl genie­ßen möchte,
zumal man sich zum Überdruß
noch geist­reich unter­hal­ten muß”.

So steht es geschrie­ben im Grün­dungs­text der rus­si­schen Lite­ra­tur. „Pusch­kins größ­tes Werk ist ‚Eugen One­gin’, ein Roman in voll­kom­me­nen Ver­sen”, erklär­te Vla­di­mir Nabo­kov sei­nen ame­ri­ka­ni­schen Stu­den­ten. „Es han­delt sich nicht nur um ein gro­ßes Werk eines gro­ßen Genies, es ist auch der ers­te ori­gi­när rus­si­sche Roman.” Auf des­sen „völ­lig neu­en Stil” lie­ßen sich „die größ­ten Roma­ne des rus­si­schen 19. Jahr­hun­derts zurückführen”.

Dem Zeit­ge­schmack fol­gend, der zu Pusch­kins Tagen die Pro­sa für das hielt, was heu­te noch im Wort „pro­sa­isch” nach­klingt: zweit­klas­sig und pro­fan, wähl­te der Dich­ter die gebun­de­ne Form; die soge­nann­te One­gin-Stro­phe besteht aus 14 Zei­len in vier­fü­ßi­gen Jam­ben, die immer dem­sel­ben Mus­ter fol­gen (Aus­nah­men sind Tat­ja­nas berühm­ter Brief an One­gin und One­g­ins nicht ganz so berühm­ter Brief an Tat­ja­na); sie beruht auf dem Sonett, spe­zi­ell der zum Set­zen von Poin­ten idea­le Paar­reim am Schluss:

„Doch fand er nach der lan­gen Fahrt
sein Onkel­chen schon aufgebahrt.”

„… des Ruh­mes täg­li­chen Tribut
Ver­riß, Beschimp­fung, Spott und Wut.”

„Er sang von Herbst und Todesstund,
kaum acht­zehn Jahr alt, kerngesund.”

„Und dem Gespräch der Ehefraun
war nicht viel Beß­res zuzutrauen.”

„Obschon er sechs­und­zwan­zig war
nahm er noch kei­ne Pflich­ten wahr.”

„Nach sei­ner Dame ruft ein Herr,
ein Baby echot mit Geplärr.”

„Du machst mich immer still und froh,
meinn lie­ber guter Freund Bordeaux!”
(Von wegen Wil­helm Busch…)

„Man gab sich fein und gab sich klug,
von allem gab’s genug, genug.”

One­gin ist ein Mensch des Über­drus­ses, der Lan­ge­wei­le, des ennui. Pusch­kin nimmt mit sei­ner Titel­fi­gur Bezug auf Lord Byrons „Chil­de Harold“, der im Text auch mehr­mals erwähnt wird, etwa im Kapi­tel I, Vers 38:

„Wie Chil­de Harold, ent­täuscht, verbittert,
erschien er in der gro­ßen Welt;
kein Klatsch, kein Spiel, nicht mal das Geld,
kein lie­ber Blick, von Schmerz durchzittert,
nichts rühr­te ihn, er war so kühl,
daß ihm an allem nichts gefiel.“

„Chil­de Harold“, 1812–1818 ver­öf­fent­licht, beschreibt die Rei­sen eines jun­gen Man­nes, der aus Ent­täu­schung über sein lang­wei­li­ges Luxus­le­ben Zer­streu­ung – oder, wie man heu­te sagen wür­de, „Sinn” – in fer­nen Län­dern sucht. Das Werk hat auto­bio­gra­fi­sche Züge, die ers­ten Tei­le beru­hen auf Byrons Rei­se­er­leb­nis­sen in Por­tu­gal, Spa­ni­en, dem Osma­ni­schen Reich und Grie­chen­land. In den spä­te­ren Can­ti tritt der Autor selbst auf, so dass die Unter­schei­dung zwi­schen ihm und dem Prot­ago­nis­ten immer schwie­ri­ger wird. Auch im „One­gin“ spricht der Erzäh­ler immer wie­der dazwi­schen und den Leser direkt an, ein spä­ter bei­spiels­wei­se von Gogol oder Dos­to­jew­ski gern ver­wen­de­tes Stil­mit­tel, und er plau­dert auch über sich selbst (etwa über sein Fai­ble für „Frau­en­füß­chen”), doch eine Ver­wechs­lung mit der Titel­fi­gur schließt er aus:

„Wie freut mich, daß ich so verschieden
von mei­nem Freund One­gin bin.
So kann kein bös­wil­li­ger Leser,
kein ble­che­ner Posaunenbläser
ver­leum­de­risch behaup­ten, ich,
ich selbst sei deut­lich, Strich für Strich,
in mei­nem Hel­den zu erblicken,
One­gin sei mein Selbstporträt,
ich sei, wie Byron, ein Poet,
dem stets nur Spie­gel­bil­der glücken;
als könn­ten Dich­ter ganz allein
nur sel­ber ihre Hel­den sein.”

Im lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Slo­gan heißt es über „Chil­de Harold“, das Werk füh­re den lite­ra­ri­schen Arche­ty­pus des „Byron­schen Hel­den“ ein, einen Anti­hel­den und Außen­sei­ter, der vor allem mit sich selbst und sei­nen exis­ten­ti­el­len Pro­ble­men beschäf­tigt ist. Der Byro­nis­mus, ein tie­fes Ent­täuscht­sein vom Leben, spricht aus Ben­ja­min Con­stants Adol­phe und aus Ler­mon­tows Pet­scho­rin („Ein Held unse­rer Zeit”), aber bereits Cha­teau­bri­ands „René”, 1802 erschie­nen, gehört in die Rei­he die­ser gro­ßen Gelang­weil­ten. Pusch­kins One­gin ist ein sol­cher Außen­sei­ter, ein Vor­läu­fer Pet­schorins, aller­dings fehlt sowohl dem Prot­ago­nis­ten sel­ber als auch dem spöt­ti­schen Erzäh­ler das roman­ti­sche Pathos Byrons. Mit One­gin betritt der Pro­to­typ jenes „über­flüs­si­gen Men­schen“ die Büh­ne, der in der rus­si­schen Lite­ra­tur spä­ter so omni­prä­sent wer­den soll, mit Gontscha­rows Oblo­mow als Para­de­bei­spiel; Tschechows „Kirsch­gar­ten“ ist voll davon, und der Che­but­y­kin in den „Drei Schwes­tern“ ist mein Lieblingsexemplar.

Wenn ich vor­hin Hei­ne und Busch als Ver­glei­che bemüh­te, dann vor allem jener iro­ni­schen Distan­ziert­heit und halb sar­kas­ti­schen, halb amü­sier­ten Non­cha­lance wegen, mit wel­cher Pusch­kin sein Per­so­nal und über­haupt des Men­schen Geschick behan­delt. Aber was heißt hier Per­so­nal: Es sind im Grun­de ja nur vier Figu­ren – wobei es sich bei Olga und Len­ski bereits um Neben­dar­stel­ler han­delt –, die vor dem Hin­ter­grund der Peters­bur­ger Gesell­schaft und der Guts­be­sit­zer­welt von Tat­ja­nas Fami­lie die Hand­lung auf­füh­ren. Doch das genügt dem Dich­ter, eine „Enzy­klo­pä­die des rus­si­schen Lebens” zu schaf­fen, wie ein zeit­ge­nös­si­scher Kri­ti­ker enthu­si­as­tisch rühmte.

Übri­gens begann Pusch­kin die Nie­der­schrift sei­nes Haupt­wer­kes 1823 im Alter von 24 Jah­ren (anno 1830 schloss er es ab). Er gehör­te zu jenen welt­klu­gen Früh­voll­ende­ten, über deren Men­schen­kennt­nis unser­eins nur stau­nen kann und für die in der Kunst­ge­schich­te unter ande­ren Namen wie Mozart oder Tschechow ste­hen. Wäh­rend er mit der Figur One­g­ins aber nur einen Wind­hund por­trä­tier­te, schuf Pusch­kin mit Tat­ja­na eine der rüh­rends­ten Gestal­ten der Weltliteratur.

***

Mit Nabo­kov hat sich der Aller­größ­ten einer vie­le Jah­re ans Bein gebun­den, um den „One­gin“ nicht nur ins Eng­li­sche zu über­tra­gen, son­dern ihn zudem mit einem über 1000-sei­ti­gen Stel­len­kom­men­tar zu ver­se­hen. 1966 pro­gnos­ti­zier­te er in einem Inter­view mit The Paris Review, dass er als Autor wegen der „Loli­ta“ und sei­ner Arbeit über Eugen One­gin in Erin­ne­rung blei­ben wer­de. Allein die­se Tat­sa­che müss­te jeden lite­ra­risch Inter­es­sier­ten dar­auf ver­pflich­ten, Pusch­kins Vers­ro­man zu lesen.

Aller­dings hin­ter­ließ Nabo­kov das Dekret, der „One­gin“ sei nicht in ande­re Spra­chen über­trag­bar – sofern der Über­set­zer sich als Nach­dich­ter ver­ste­he und die Vers­form bei­be­hal­te; er sta­tu­ier­te: „1. Eine gereim­te Über­set­zung des One­gin ist unmög­lich. 2. Es ist hin­ge­gen mög­lich, in einer Rei­he von Fuß­no­ten die Modu­la­tio­nen und Rei­me des Tex­tes und eben­so alle sei­ne Asso­zia­tio­nen und beson­de­ren Merk­ma­le zu beschrei­ben. 3. Es ist eben­falls mög­lich, One­gin eini­ger­ma­ßen sinn­ge­treu zu über­set­zen, indem die vier­zehn gereim­ten vier­he­bi­gen Zei­len jeder Stro­phe durch vier­zehn reim­lo­se Zei­len von ver­schie­de­ner Län­ge ersetzt werden.“

Das Pro­blem kennt jeder, der bei der Lek­tü­re die über­setz­te Lyrik mit der ursprüng­li­chen Fas­sung ver­gleicht oder sel­ber Gedich­te über­setzt hat: Sogar im Geni­al­fall – ich den­ke bei­spiels­wei­se an die Über­tra­gung der Shake­speare-Sonet­te durch Ste­fan Geor­ge – ist eine wort­ge­naue Über­set­zung unmög­lich, ins­be­son­de­re wenn man das Reim­sche­ma bei­be­hal­ten will; der Über­set­zer muss sich ent­schei­den, was ihm wich­ti­ger ist, der Ton, der Klang, der Geschmack, die Stim­mung, die Aura des Wer­kes ins­ge­samt – oder die wort­ge­treue Prä­zi­si­on. Er muss sich, um es auf den Begriff zu brin­gen, ent­schei­den, ob er als Über­set­zer oder als Nach­dich­ter agie­ren will, wobei der Nach­dich­ter nicht nur mehr Frei­hei­ten hat, son­dern auch ein grö­ße­res Risi­ko ein­geht, vor allem dann, wenn das Gefäl­le vom Autor zu ihm all­zu groß ist.

Letzt­lich füh­ren bei­de Alter­na­ti­ven auf Holz­we­ge; man müss­te also nur Ori­gi­na­le lesen. Wo dies nicht mög­lich ist – und für einen nahe­zu mono­glot­ten Holz­kopf wie mich gilt das fast immer –, bevor­zu­ge ich die Nach­dich­tung, denn die rei­ne Über­set­zung prio­ri­siert auto­ma­tisch den Inhalt, der in der Lyrik zwar so bedeu­tend ist wie in jeder mensch­li­chen Mit­tei­lungs­form, aber doch deut­li­cher von der Form über­strahlt wird als in jeder ande­ren Lite­ra­tur­gat­tung. Wer ein Gedicht auf des­sen Inhalt redu­zie­ren will, nimmt ihm das Eigent­li­che. Nun ist ein Vers­ro­man natur­ge­mäß stär­ker dem Inhalt­li­chen ver­pflich­tet als Emp­fin­dungs­ly­rik, aber ist der Roman­in­halt wich­ti­ger als die Vers­form?

Nabo­kov scheint das so gese­hen zu haben. Sei­nem Freund Edmund Wil­son, einem ame­ri­ka­ni­schen Kri­ti­ker, schrieb er in einem Brief vom 24. März 1957: „Jetzt zer­bre­che ich den Text, ver­ban­ne alles, was die Ehr­lich­keit für ver­ba­len Samt hal­ten könn­te, und hei­ße dafür die unbe­hol­fe­ne Wen­dung will­kom­men, die Grä­te der mage­ren Wahr­heit.“ Die­se Grä­te ist der Inhalt. Im Vor­wort zu Nabo­kovs „Onegin“-Übersetzung von 1963 heißt es: „Mei­nem Ide­al der Wört­lich­keit habe ich alles geop­fert (Ele­ganz, Wohl­klang, Klar­heit, guten Geschmack, heu­ti­gen Wort­ge­brauch und sogar die Gram­ma­tik), was der gespreiz­te Nach­ah­mer höher schätzt als Wahrheit.“

Wil­son sel­ber war übri­gens einer der ers­ten, der Nabo­kovs Ver­fah­ren tadel­te, weil es glei­cher­ma­ßen unter des Dich­ters wie des Roman­ciers künst­le­ri­sches Niveau füh­re: „Es ist dabei eine kah­le und unbe­hol­fe­ne Spra­che her­aus­ge­kom­men, die mit Pusch­kin oder Nabo­kovs nor­ma­lem Stil nichts gemein hat.“ Nabo­kov wür­de wider­spre­chen mit den tau­send Sei­ten sei­nes Kom­men­tars, also inhalt­lich, werk­ge­schicht­lich, ideo­gra­fisch etc. So ungern ich ihm ein Wider­wort gebe: Ein unge­reim­ter „One­gin“ ist und bleibt eine unge­reim­te Ange­le­gen­heit. Der Ton der Dich­tung ist es, der mich am stärks­ten für die­ses Meis­ter­werk einnimmt.

***

Was die gereim­ten Über­tra­gun­gen bzw. Nach­dich­tun­gen des „One­gin” betrifft, so unter­schei­den sie sich natur­ge­mäß erheb­lich von­ein­an­der. Als Bei­spiel zitie­re ich drei Über­set­zun­gen von Stro­phe 10 aus dem Ers­ten Kapitel.

„Wie früh ver­stand er schon die Künste
Der Eifer­sucht und Heuchelei,
Der Über­re­dung Truggespinste,
Des Lau­nen­spiels, der Ziererei,
Der Kunst, bald sanft, bald stolz und eigen,
Bald dienst­bar sich, bald kühl zu zeigen!
Wie karg und stumm war hier sein Mund,
Dort wie gesprä­chig kunterbunt,
Im Lie­bens­brief, wie überschwenglich!
Wie selbst­los schien sein Herz allein
Von einem Trieb erfüllt zu sein!
Und die­ser Blick, bald dreist-verfänglich,
Bald scham­haft-zärt­lich, der sogar
Erlo­gner Trä­nen fähig war!“
(Theo­dor Commichau)

„Wie früh ver­stand er schon zu heucheln,
Vor Eifer­sucht fast zu vergehn,
Sich ein- und Miß­traun fortzuschmeicheln,
Bald schroff, bald lei­dend auszusehn,
Stolz mit Devot­heit zu vereinen,
Bald auf­merk­sam, bald kalt zu scheinen!
Wie war sein Schwei­gen sehnsuchtsschwer,
Wie flam­mend war bered­sam er,
Und wie gelöst in Herzensbriefen!
Wie selbst­ver­ges­sen konnt er sein,
Nahm eines nur sein Trach­ten ein!
Wie war sein Blick voll zar­ter Tiefen,
Ver­schämt und frech, und not­falls leicht
Auch auf Bestel­lung tränenfeucht!“
(Rolf-Diet­rich Keil)

„One­gin lern­te früh zu heucheln,
mit Hoff­nun­gen, mit Eifersucht
sich in die Her­zen einzuschmeicheln,
zu tun, also ob er Lie­be sucht,
bald stolz, bald demü­tig zu scheinen
und Lust und Miß­mut zu vereinen.
Wie rüh­rend war er schweig­sam, scheu,
wie glü­hend im Gespräch, wie frei,
wie anschau­lich in Liebesbriefen!
Und wie er meis­ter­haft, charmant
sich zu ver­ges­sen unterstand!
Wie konn­te sich sein Blick vertiefen,
ver­schämt und dreist und obendrein
auch manch­mal feucht von Trä­nen sein!
(Ulrich Busch)

Ein ande­res Beispiel:

„Er schalt Homer und Theokrit
Mit Adam Smith nur dacht‘ er mit“
(Com­mi­ch­au I)

„Und schalt Homer und and­re Geister.
Doch Adam Smith war recht sein Meister“
(Com­mi­ch­au II)

„Er schalt Home und Theo­krit aus,
Doch kannt er sich bei Adam Smith aus“
(Keil)

„denn statt Homer und Theokrit
las er viel lie­ber Adam Smit“
(Busch)

Ich prä­fe­rie­re die Ver­si­on von Ulrich Busch, zumal sie in der Manes­se-Biblio­thek der Welt­li­te­ra­tur erschie­nen ist.

***

Rus­sen und Deut­sche haben, his­to­risch, gemein­sam, dass ihre Herr­scher­häu­ser im Zeit­al­ter des Abso­lu­tis­mus kul­tu­rell sehr stark vom Aus­land geprägt wur­den. Seit Peter dem Gro­ßen, der ein Freund „des Wes­tens” war, aus wel­chem damals der geis­ti­ge, tech­ni­sche und über­haupt zivi­li­sa­to­ri­sche Fort­schritt kam (nicht wie heu­te „Gen­der”, „Diver­si­ty” und eine Ein­mi­schungs­all­zweck­waf­fe namens „Men­schen­rech­te”), teilt sich die rus­si­sche Gesell­schaft in „Sapad­ni­ki”, West-Affi­ne, und Sla­wo­phi­le. Wie an den deut­schen Höfen sprach man am rus­si­schen sowie in der bes­se­ren Gesell­schaft fran­zö­sisch (obwohl Micha­el Lomo­nossow bereits 1755 sei­ne gro­ße Gram­ma­tik des Rus­si­schen ver­öf­fent­lich­te). Der lite­ra­ri­sche Geschmack der rus­si­schen Aris­to­kra­tie war fran­zö­sisch und auch eng­lisch geprägt, wäh­rend die Musik, nament­lich die Oper, ita­lie­ni­schen Mus­tern folg­te (auch das war in deut­schen Lan­den nicht anders). Die Archi­tek­tur ori­en­tier­te sich am fran­zö­si­schen Clas­si­cis­me, Malerei und bil­den­de Kunst teils an fran­zö­si­schen, teils an ita­lie­ni­schen Vor­bil­dern, und es waren vor­wie­gend ita­lie­ni­sche Archi­tek­ten, die Peters­burg erbau­ten. Die von Lomo­nossow gegrün­de­te ers­te rus­si­sche Uni­ver­si­tät wur­de wie­der­um nach deut­schen Vor­bil­dern errich­tet, wie auch das Mili­tär stark unter deut­schem Ein­fluss stand. 

Im „One­gin” fin­den sich zahl­rei­che Spu­ren die­ser – wie man es heu­te nen­nen wür­de und, was nament­lich die Deut­schen betrifft, mit Recht so nennt – lin­gu­i­stic sub­mis­si­ve­ness. Nicht nur ist die Titel­fi­gur stets en vogue mit ele­gan­ter Klei­dung aus Paris und Luxus­ar­ti­keln aus Lon­don aus­ge­stat­tet, spricht glän­zend fran­zö­sisch (und tanzt die Mazur­ka per­fekt), nicht nur lässt „der Unfug eng­li­scher Geschichten/Mädchen auf den Schlaf ver­zich­ten”, auch Tat­ja­na schreibt ihr Lie­bes­ge­ständ­nis an One­gin auf französisch:

„Nun seh ich aber Schwierigkeiten:
Den Brief Tat­ja­nas muß ich wohl
in unser Rus­sisch umarbeiten,
da er nicht anders klin­gen soll.
Ich weiß noch nicht, wie ich das mache;
mit ihrer eig­nen Muttersprache
war Tan­ja nicht so recht vertraut;
so fremd erschien ihr Wort und Laut,
daß die fran­zö­sisch schrei­ben mußte.”

Über Tat­ja­na heißt es:
„Sie ist ganz ein­fach com­me il fault…
(Auf rus­sisch nen­nen wir es so.)”

Ob der Gesell­schafts­ver­äch­ter Pusch­kin, der sich nach einer unge­stör­ten Dich­ter­exis­tenz auf sei­nem Land­gut sehn­te und von der Hof­schi­cke­ria förm­lich ver­nich­tet wur­de, auf der Sei­te der Sla­wo­phi­len stand, weiß ich nicht. Als Schöp­fer der moder­nen rus­si­schen Lite­ra­tur­spra­che hat er jeden­falls viel für die Ent­ste­hung des rus­si­schen Natio­nal­be­wusst­seins getan (den Rest erle­dig­te Napo­le­on, der ja auch viel für die Ent­ste­hung des deut­schen Natio­nal­be­wusst­seins tat). Weil das unter den heu­ti­gen Ver­hält­nis­sen leicht miss­ver­stan­den wer­den kann, sei abschlie­ßend noch ein­mal Nabo­kov zitiert, aus sei­nem Vor­trag „Rus­si­sche Schrift­stel­ler, Zen­so­ren und Leser” von 1955, wo es heißt:

„Der rus­si­sche Leser im alten, gebil­de­ten Russ­land war gewiss stolz auf Pusch­kin und Gogol, aber eben­so stolz war er auf Shake­speare und Dan­te, auf Bau­de­lai­re und Edgar Allen Poe, auf Flau­bert und Homer, und das mach­te sei­ne Stär­ke aus. An die­ser Fra­ge habe ich ein gewis­ses per­sön­li­ches Inter­es­se, denn wären mei­ne Vor­fah­ren kei­ne guten Leser gewe­sen, so wäre ich heu­te kaum hier, um in die­ser Spra­che über die­se Din­ge zu sprechen.”

Nabo­kov hat bekannt­lich das sin­gu­lä­re Kunst­stück, oder bes­ser: das Wun­der voll­bracht, einer der bes­ten Autoren aller Zei­ten auf eng­lisch zu wer­den, nach­dem er einer der bes­ten Autoren aller Zei­ten in rus­si­scher Spra­che gewe­sen ist.

„Leser wer­den frei gebo­ren und soll­ten auch frei blei­ben”, fuhr er fort und been­de­te sei­nen Vor­trag mit dem Pusch­kin-Gedicht „Aus Pin­de­mon­ti”, das er sel­ber ins Eng­li­sche über­tra­gen hat (in Ver­sen übri­gens); hier folgt zunächst die deut­sche Ver­si­on von Arthur Luther aus dem Jahr 1923, dann die Über­set­zung Nabokovs.

Auf jene Rech­te leg ich kei­nen gro­ßen Wert,
Die man­chen hel­len Kopf nur all­zu sehr gestört.
Wenn mir das süße Los, die Steu­ern zu verneinen,
Die Göt­ter wei­ger­ten, so macht mich das nicht weinen,
Noch schmerzt es mich, dass man auf mei­nen Rat nicht hört,
Wenn heu­te ein Mon­arch dem andern Krieg erklärt;
Ob uns­re Pres­se frei nas­führt die bra­ven Christen,
Ob die Zen­sur bedrängt den Witz des Journalisten –
Nur Wor­te, Wor­te sind’s, wie jener Dich­ter spricht.
Die Frei­heit, die mein Herz ersehnt, ist die­ses nicht,
Und was mich lockt und bannt, sind and­re, höhe­re Rechte.
Ob wir der Majes­tät, ob wir des Vol­kes Knechte –
Ist es nicht einer­lei? Doch kei­nem Rechenschaft
Able­gen, nur sich selbst und sei­ner eig­nen Kraft
Ver­trau­en und sein Haupt, sein Den­ken, sein Gewissen
Der Macht und der Livree zulieb nicht beu­gen müssen,
Nach eig­nem Trieb und Wunsch frei schwei­fen auf der Spur
Der ewig schaf­fen­den, der gött­li­chen Natur,
Und wenn den sprö­den Stoff erfüllt mit hei­ßem Leben
Des Künst­lers Geni­us – in stum­mer Andacht beben:
Das nenn ich Glück und Recht! …

I value litt­le tho­se much vaun­ted rights
that have for some the lure of diz­zy heights;
I do not fret becau­se the gods refuse
to let me wrang­le over revenues,
or thwart the wars of kings; and ‘tis to me
of no con­cern whe­ther the press be free
to dupe poor oafs or whe­ther cen­sors cramp
the cur­rent fan­ci­es of some scribb­ling scamp.
The­se things are words, words, words. My spi­rit fights
for deeper Liber­ty, for bet­ter rights.
Whom shall we ser­ve – the peo­p­le or the State?
The poet does not care – so let them wait.
To give account to none, to be one’s own
vas­sal and lord, to plea­se ones­elf alone,
to bend neither one’s neck nor inner schemes,
nor con­sci­ence to obtain some thing that seems
power but is a flunkey’s coat; to stroll
in one’s own wake, admi­ring the divine
beau­ties of Natu­re and to feel one’s soul
melt in the glow of man’s inspi­red design
– this is the bles­sing, the­se are rights!

 

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