25. Februar 2024

Der Sonn­tag gehört dies­mal nicht den Küns­ten und den für sie zustän­di­gen Musen, aber der Klio.

Anfang des Jah­res las ich Adam Zamoy­skis Opus „1812. Napo­le­ons Feld­zug in Russ­land”, was ich seit dem Erschei­nen des Buches (auf deutsch) anno 2012 schon lan­ge tun woll­te, und danach, von der Erst­lek­tü­re tief beein­druckt, gleich noch ein­mal wie­der­hol­te. War­um gera­de jetzt? Mög­li­cher­wei­se, weil mein Ehe­ge­spons zur sel­ben Zeit die­ses Buch zu lesen begann.

Viel­leicht auch, weil Rid­ley Scotts Napo­le­on-Monu­men­tal­schin­ken gera­de in die Kinos kam, viel­leicht, weil Win­ter war; es mag oben­drein dar­an gele­gen haben, dass Deutsch­land momen­tan auf einen Krieg mit Russ­land zusteuert.

Sei’s, wie es sei: Die­ses Buch ist groß, weil sein Gegen­stand groß ist und der Ver­fas­ser sich ihm gewach­sen zeigt. Es über­wäl­tigt den Leser mit aller Ent­setz­lich­keit und Bru­ta­li­tät, die die­sem ers­ten tota­len Krieg der Geschich­te inne­wohn­ten, aber auch mit dem Hero­is­mus und der unglaub­li­chen Lei­dens­fä­hig­keit der Akteu­re. Allein die Tat­sa­che, dass der fran­zö­si­sche Teil der mul­ti­na­tio­na­len Gran­de Armée – und von jenem am Ende natür­lich nur die Über­le­ben­den – zu Fuß von Paris nach Mos­kau und wie­der retour mar­schier­te, also knapp sechs­tau­send Kilo­me­ter, mit allem Gepäck, zurück teil­wei­se bei Tem­pe­ra­tu­ren von minus 30 Grad und tie­fer, hun­gernd, frie­rend, krank, Ver­letz­te und Kano­nen mit­schlep­pend, unter stän­di­gen Gefech­ten, über­steigt jede Vor­stel­lungs­kraft (die Wehr­macht ver­füg­te 130 Jah­re spä­ter immer­hin über Kraft­fahr­zeu­ge, Eisen­bah­nen und Flug­ge­rät). Man schätzt heu­te, dass zwi­schen Juni und Dezem­ber 1812 auf rus­si­schem Gebiet etwa 550.000 bis 600.000 Mann der Fran­zo­sen und ihrer Alli­ier­ten ope­rier­ten – Napo­le­ons Armee erhielt wäh­rend die­ser Mona­te per­ma­nent Ver­stär­kung –, von denen nur etwa 120.000 über­leb­ten. Etwa 30.000 wur­den als Leicht­ver­wun­de­te zurück­ge­schickt, eine mitt­le­re fünf­stel­li­ge Zahl deser­tier­te wäh­rend des Vor­marschs, an die 100.000 Mann gerie­ten in rus­si­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft, von ihnen kehr­te 1814, nach Napo­le­ons ers­ter Abdan­kung, etwa ein Fünf­tel heim. Die mili­tä­ri­schen Ver­lus­te auf rus­si­scher Sei­te lagen min­des­tens eben­so hoch, hin­zu kommt eine unbe­kann­te Zahl getö­te­ter und ver­hun­ger­ter Zivi­lis­ten. Ins­ge­samt, notiert der aus einer 1939 nach Ame­ri­ka emi­grier­ten pol­ni­schen Adels­fa­mi­lie stam­men­de His­to­ri­ker, star­ben „zwi­schen dem Über­gang der Gran­de Armée über den Nje­men Ende Juni 1812 und dem Ende des Feld­zugs im Febru­ar 1813 etwa eine Mil­li­on Men­schen, wobei sich die Opfer­zah­len ziem­lich gleich auf bei­de Sei­ten ver­teil­ten”. Die meis­ten fran­zö­si­schen Sol­da­ten kamen nicht in unmit­tel­ba­ren Kämp­fen ums Leben, son­dern erfro­ren, ver­hun­ger­ten oder wur­den auf dem Rück­zug massakriert.

Und da ich gera­de las, dass PETA ein Ver­bot des Miss­brauchs von Pfer­den als „Zug­tie­re“ for­dert: Im Krieg der Men­schen gin­gen auch unzäh­li­ge Pfer­de zuschan­den. Als sich auf dem Vor­marsch der Gran­de Armée bei Wil­na „ein Unwet­ter bibli­schen Aus­ma­ßes” (Zamoy­ski) mit eis­kal­tem Regen über die Trup­pe ergoss, ver­en­de­ten bin­nen 24 Stun­den etwa 40.000 Tie­re (auch zahl­rei­che Sol­da­ten kamen in dem Wet­ter um), und als die rus­si­schen Behör­den im Früh­jahr 1813 das Schlacht­feld von Boro­di­no säu­ber­ten, zähl­ten sie 35.478 Ross­ka­da­ver. Aber­tau­sen­de Pfer­de erfro­ren und ver­hun­ger­ten auf dem Rück­marsch oder wur­den, teils noch leben­dig, von den vor Hun­ger halb wahn­sin­ni­gen Fran­zo­sen verzehrt.

So unmög­lich es ist, einer Mil­li­on Schick­sa­le auf 620 Sei­ten (ohne Anmer­kun­gen) gerecht zu wer­den, ver­eint Zamoy­skis Meis­ter­werk doch eine Schick­sals­dich­te wie sel­ten ein Buch zuvor. Das hängt vor allem damit zusam­men, dass der His­to­ri­ker die gesam­te Erin­ne­rungs­li­te­ra­tur der Zeit aus­ge­wer­tet hat und, wo immer es sich anbie­tet, Augen­zeu­gen das Wort über­lässt. Nahe­zu sämt­li­che Quel­len und Doku­men­te zu den poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Ereig­nis­sen, die sein Buch behand­le, sei­en seit Jahr­zehn­ten ver­öf­fent­licht und all­ge­mein ver­füg­bar, heißt es im Vor­wort. Mir fällt spon­tan Dani­el Fur­rers Doku­men­ta­ti­on „Sol­da­ten­le­ben. Napo­le­ons Russ­land­feld­zug 1812” ein, erschie­nen zum 200. Jah­res­tag des­sel­ben und eine Fül­le von Augen­zeu­gen­be­rich­ten ver­sam­melnd. Doch Zamoy­skis Gesamt­schau erhebt sich dar­über, es ist Geschichts­schrei­bung – Geschichts­er­zäh­lung – in meis­ter­li­chem Stil. Ich bin nicht unbe­le­sen in der Geschich­te der napo­leo­ni­schen Ära, und doch war ich wie erschla­gen von die­sem Buch; vie­le Pas­sa­gen sind so auf­wüh­lend, dass es einen kaum mehr auf dem Stuhl hält. Dem Welt­ge­setz fol­gend, dass dort, wo die hem­mungs­lo­ses­te Gewalt­tä­tig­keit und die größ­te Erbärm­lich­keit wal­ten, sich unwei­ger­lich auch Mut, Güte und Opfer­be­reit­schaft erhe­ben, bil­det Zamoy­ski ein Pan­ora­ma des nach unten und oben Men­schen­mög­li­chen ab, das sei­nes­glei­chen sucht.

So zählt die Ver­tei­di­gung bei­der Ufer der Beresi­na gegen die anstür­men­den Rus­sen am 28. Novem­ber, wäh­rend die Res­te der flie­hen­den Gran­de Armée auf zwei impro­vi­sier­ten Holz­brü­cken über den Fluss dräng­ten, die Pon­to­nie­re in unglaub­lich kur­zer Zeit unter Ein­satz ihres Lebens im eis­kal­ten Was­ser errich­tet hat­ten, frag­los zu den größ­ten Hel­den­ta­ten der Welt­ge­schich­te. Zwar ist der Name des Dne­pr-Neben­flus­ses in Weiß­russ­land den meis­ten Men­schen heu­te noch als Ort einer his­to­ri­schen Kata­stro­phe mit tau­sen­den ertrun­ke­nen, erfro­re­nen, zer­tram­pel­ten und von der rus­si­schen Artil­le­rie zer­fetz­ten Opfern bekannt, doch von den heroi­schen Ver­tei­di­gern der Pas­sa­ge weiß kaum jemand.

Am öst­li­chen Ufer ver­tei­dig­te Mar­schall Clau­de-Vic­tor Per­rin, genannt Vic­tor, mit sei­ner Nach­hut, ins­ge­samt um die acht­tau­send Mann, die Brü­cken gegen die Armee von Gene­ral Graf Peter von Witt­gen­stein, der über 30.000 Mann ins Feld führ­te. „Am Nach­mit­tag lei­te­te Witt­gen­stein einen zwei­ten Angriff auf Vic­tors Defen­siv­kräf­te ein, und die Bade­ner Bri­ga­de muss­te nun doch zurück­wei­chen. Aber Vic­tor warf jetzt die Bri­ga­de des Groß­her­zog­tums Berg, die sich aus Deut­schen und Bel­gi­ern zusam­men­setz­te, und anschlie­ßend sei­ne rest­li­che Rei­te­rei in den Kampf. Die­se, bestehend aus hes­si­schen Chev­au­le­gers und badi­schen Husa­ren sowie fran­zö­si­schen Jägern, alles in allem nicht mehr als 350 Mann, grif­fen unter der beherz­ten Füh­rung von Oberst von Laro­che mit so gro­ßer Ver­ve an, dass sie die Rus­sen in die Flucht schlu­gen. Ein Gegen­an­griff der rus­si­schen Kaval­le­rie ver­nich­te­te prak­tisch alle Deut­schen, aber die fran­zö­si­schen Defen­siv­trup­pen waren geret­tet wor­den, und als die Dun­kel­heit her­ein­brach, hiel­ten Vic­tors Män­ner immer noch die­sel­ben Stel­lun­gen besetzt wie am Morgen.”

Ver­gleich­ba­res geschah am west­li­chen Ufer. Eine rus­si­sche Armee unter Gene­ral Evfe­mii Cza­p­lic und Admi­ral Pawel Tschit­schagow hat­te die Beresi­na wei­ter süd­lich über­quert und ver­such­te nun, den Fluss­über­gang der Fran­zo­sen von der ande­ren Sei­te zu ver­hin­dern. Mar­schall Oudi­not, der sich ihnen ent­ge­gen­stell­te, wur­de von einem Gra­nat­split­ter getrof­fen, „sei­ne zwei­und­zwan­zigs­te Wun­de. Napo­le­on, der zuge­gen war, über­trug (Mar­schall) Ney das Kom­man­do und schärf­te ihm ein, die Rus­sen auf­zu­hal­ten, kos­te es, was es wol­le, um den Rück­zug der rest­li­chen Gran­de Armée, der Nach­züg­ler und schließ­lich Vic­tors Leu­ten, zu decken. Das war viel ver­langt. Cza­p­lic und Tschit­schagow ver­füg­ten über 30.000 aus­ge­ruh­te Sol­da­ten, die kei­ne gra­vie­ren­den mili­tä­ri­schen Ver­lus­te erlit­ten hat­ten. Ihnen konn­te Ney ledig­lich eine Rumpfar­mee von 12–14.000 aus­ge­mer­gel­ten und halb­ver­fro­re­nen Män­nern ent­ge­gen­stel­len (…) Drei­vier­tel der Kämp­fen­den waren nicht ein­mal Fran­zo­sen. Fast die Hälf­te waren Polen; fer­ner gab es vier schwei­ze­ri­sche Regi­men­ter, eini­ge hun­dert Kroa­ten der 3. Illy­ri­schen Infan­te­rie, eini­ge Ita­lie­ner, eine Hand­voll nie­der­län­di­sche Gre­na­die­re und Oberst de Cas­tros 3. Por­tu­gie­si­sches Regi­ment. Die­ser kun­ter­bun­te Hau­fen aber zeig­te sich der Lage her­vor­ra­gend gewachsen. (…)

Obgleich sie zah­len­mä­ßig schwach waren, zeig­ten sie unglaub­li­chen Mut. Das hol­län­di­sche 123. Regi­ment der Leich­ten Infan­te­rie, das aus nur noch acht­zig Mann und fünf Offi­zie­ren bestand, jubel­te, als es sich in den Kampf warf. (…) Die Schlacht tob­te den gan­zen Tag, wobei die Schwei­zer, nach­dem ihnen die Patro­nen aus­ge­gan­gen waren, nicht weni­ger als sie­ben Angrif­fe mit dem Bajo­nett führ­ten. (…) Die Kämp­fe ende­ten erst um elf Uhr nachts, als die Rus­sen, denen es nicht gelun­gen war, die Ver­tei­di­ger auch nur ein Zoll­breit von ihren Stel­lun­gen zurück­zu­drän­gen, end­lich auf­ga­ben. Es war ein groß­ar­ti­ger Sieg für die Fran­zo­sen, aber auch ein bit­te­rer. Als sie Feu­er mach­ten und ihre Ver­wun­de­ten abtrans­por­tier­ten, um sie not­dürf­tig zu ver­bin­den, war ihnen bewusst, dass sie sie am nächs­ten Tag wür­den zurück­las­sen müs­sen. Die vier Schwei­zer Regi­men­ter hat­ten tau­send Mann ver­lo­ren, alle umfass­ten nun nicht mehr als drei­hun­dert. (…) Das hol­län­di­sche 123. Leich­te Infan­te­rie­re­gi­ment bestand nicht mehr. Die hol­län­di­schen Gre­na­die­re waren auf 18 Offi­zie­re und sie­ben Mann ande­rer Dienst­gra­de geschrumpft.”

Was für ein Wahn­sinn, sich so zu opfern!, denkt der Jetzt­s­as­se natür­lich sofort. Frei­lich, erge­ben hät­ten sich die Fran­zo­sen – ich belas­se es der Ein­fach­heit hal­ber bei die­ser nicht ganz zutref­fen­den Sam­mel­be­zeich­nung – bes­ser nicht, denn das hät­te für die meis­ten den Tod bedeu­tet. Ins­be­son­de­re die Kosa­ken pfleg­ten Gefan­ge­ne zu ver­prü­geln und sodann bis aufs Hemd aus­zu­plün­dern, was bei den herr­schen­den Tem­pe­ra­tu­ren deren Über­le­bens­chan­cen gegen Null senk­te. Den­je­ni­gen, die rus­si­schen Bau­ern in die Hän­de fie­len, erging es oft noch schlim­mer. Beim Ein­marsch hat­ten die Fran­zo­sen und ihre Ver­bün­de­ten den Land­be­woh­nern alles weg­ge­nom­men, was sich essen, an die Zug­tie­re ver­füt­tern, zum Über­nach­ten, für Lager­feu­er sowie zum Bau pro­vi­so­ri­scher Unter­künf­te ver­wen­den ließ, über­dies oft genug noch die Frau­en geschän­det und die Dör­fer im Zustand völ­li­ger Ver­wüs­tung zurück­ge­las­sen, nun nah­men die Bau­ern Rache, indem sie Zurück­blei­ben­de und Gefan­ge­ne zu Tode prü­gel­ten, leben­di­gen Lei­bes ver­brann­ten oder begru­ben, auf Pfäh­le spieß­ten, mit sie­den­dem Pech tauf­ten und der­glei­chen schau­ri­ge Exzes­se mehr.

Aber war­um erzäh­le ich Ihnen das? Ich fra­ge mich, ob den dama­li­gen Gescheh­nis­sen etwas inne­wohnt, das übers grus­lig-Anek­do­ti­sche ins Über­zeit­li­che hin­aus­reicht. Wie regel­mä­ßi­ge Besu­cher des Klei­nen Eck­la­dens wis­sen, bin ich sehr wohl die­ser Ansicht; für mich beginnt die Zeit­ge­nos­sen­schaft in der Anti­ke, auch wenn mich zuwei­len die Ahnung anweht, das Men­schen­ge­schlecht kön­ne gera­de dabei sein, sich von aller bis­he­ri­gen Geschich­te abzu­sto­ßen, um in einen bei­spiel­lo­sen nach­his­to­ri­schen Zustand ein­zu­tre­ten; ins­be­son­de­re dem Men­schen des Wes­tens gerät ja gera­de der gesam­te hin­ter ihm lie­gen­de kul­tur­ge­schicht­li­che Hori­zont aus den Augen und aus dem Sinn. Einst­wei­len aber ist der Blick in die Geschich­te immer auch noch einer in den Spie­gel, der unwei­ger­lich die Fra­ge nach Ähn­lich­kei­ten und Unter­schie­den im Ver­gleich zur Gegen­wart pro­vo­ziert, und sei das Ergeb­nis nur ein wohl­fei­les „Nie wie­der ist jetzt”.

Eine Rei­he von Aspek­ten bie­tet sich im Fal­le des Russ­land­feld­zu­ges 1812 dafür an. Zuerst die Fra­ge nach der Men­ta­li­tät oder, wenn man so will, geis­ti­gen Ver­fasst­heit derer, die damals gen Osten zogen; die­se Män­ner (und Frau­en) sind ja nur durch fünf Gene­ra­tio­nen von uns getrennt. Sodann drängt sich ein Ver­gleich des Napo­leo­ni­schen Russ­land­feld­zu­ges mit jenem von 1941 gera­de­zu auf – es gibt ver­blüf­fen­de Par­al­le­len. Schließ­lich mani­fes­tiert sich in der Gestalt Bona­par­tes die heu­te gern bestrit­te­ne Rol­le des gro­ßen Man­nes in der Geschich­te. Über­dies bin ich ein Freund der intel­lek­tu­el­len Spie­le­rei des Was wäre gewe­sen, wenn? His­to­ri­sche Ereig­nis­se haben ja die Eigen­schaft, sich in der Rück­schau zu Fol­ge­rich­tig­kei­ten zu grup­pie­ren, die mit Zwangs­läu­fig­keit ein­tra­ten – und doch hät­te alles ganz anders lau­fen kön­nen. Napo­le­on hät­te die­sen Krieg gewin­nen kön­nen. Er stand mehr­fach um Haa­res­brei­te davor.

Also der Rei­he nach (es wird wie­der elend lang).

***

Die Gran­de Armée war eine mul­ti­na­tio­na­le oder mul­ti­kul­tu­rel­le Trup­pe, wie man sie seit der Schlacht auf den Kata­lau­ni­schen Fel­dern nicht mehr gese­hen hat­te. Nicht ein­mal zur Hälf­te bestand sie aus Fran­zo­sen. Die deut­schen Rhein­bund­staa­ten stell­ten das größ­te aus­län­di­sche Kon­tin­gent (auch wenn die genau­en Mann­schafts­stär­ken unein­deu­tig sind, weil man gern höhe­re Zah­len „nach oben” mel­de­te; sogar die legen­dä­re Kai­ser­li­che Gar­de umfass­te nie mehr als 25.000 Mann, obwohl sie nomi­nell mit der dop­pel­ten Stär­ke antrat), das zweit­größ­te kam aus dem Her­zog­tum War­schau. Wäh­rend die Polen in der Hoff­nung auf eine Wie­der­her­stel­lung ihres König­reichs in den Gren­zen von 1772 strit­ten – eine Hoff­nung, die Napo­le­on ent­täusch­te, was man zu sei­nen stra­te­gi­schen Feh­lern zäh­len muss, denn er hät­te einen natio­na­len Auf­stand der Polen im Rücken der rus­si­schen Trup­pen aus­lö­sen kön­nen –, mar­schier­ten Deut­sche, Ita­lie­ner, Schwei­zer, Kroa­ten, Spa­ni­er, Por­tu­gie­sen, Hol­län­der, Iren und ein paar Nord­afri­ka­ner prak­tisch motiv­los gen Mos­kau. Es sei denn, eini­ge Kom­bat­tan­ten befan­den sich dar­un­ter, denen die Ver­brei­tung der fran­zö­si­schen Frei­heit am revo­lu­tio­nä­ren Her­zen lag. Wie man den zeit­ge­nös­si­schen Berich­ten ent­neh­men kann, kämpf­ten die aus­län­di­schen Trup­pen­tei­le nicht min­der tap­fer als die fran­zö­si­schen. Die Fran­zo­sen folg­ten immer­hin ihrem Kai­ser, der ein fran­zö­sisch domi­nier­tes Euro­pa mit Paris als neu­em Rom errich­ten woll­te. Was aber trieb ihre Ver­bün­de­ten – oder soll man bes­ser sagen: Vasal­len? – an?

Vie­le der Deut­schen, schreibt Zamoy­ski, „waren von der Idee beseelt, die Rus­sen aus Euro­pa zurück­zu­drän­gen, und sie brann­ten dar­auf, die Vor­treff­lich­keit der deut­schen Waf­fen unter Beweis zu stel­len. Selbst wenn sie die Fran­zo­sen nicht lieb­ten, neig­ten sie dazu, die Deut­schen aus ande­ren Regio­nen noch weni­ger zu mögen, wobei die meis­ten Trup­pen des Rhein­bunds eine deut­li­che Abnei­gung gegen­über den Preu­ßen bekun­de­ten” – bei denen sich bekannt­lich der anti­na­po­leo­ni­sche Wider­stand for­mier­te. „Schließ­lich spiel­te auch mili­tä­ri­sche Ehre eine Rolle.“

Das klingt inzwi­schen wie Nach­rich­ten von einem ande­ren Pla­ne­ten. Aber es wird noch exo­ti­scher. Dem Gros der Kriegs­teil­neh­mer, auch den Fran­zo­sen, waren die Zie­le des Feld­zu­ges nicht nur unklar, son­dern oft schlech­ter­dings egal. „Man­che mein­ten, Napo­le­on habe einen Geheim­pakt mit Alex­an­der geschlos­sen, und dass eine fran­zö­sisch-rus­si­sche Armee gegen die Tür­ken zie­hen sol­le, um sich deren Gebie­te in Euro­pa und Asi­en zu neh­men; ande­re behaup­te­ten, dass der Krieg uns nach Indi­en füh­re, wo wir die Eng­län­der ver­trei­ben soll­ten“, ent­sann sich ein Frei­wil­li­ger. „Das alles küm­mer­te mich herz­lich wenig: ob wir nun nach rechts, links oder gera­de­aus gin­gen, war mir gleich­gül­tig, solan­ge ich in die wei­te Welt kam“, schrieb ein ande­rer. „Mei­ne Freun­de und mei­ne Kame­ra­den aus Kin­der­ta­gen dien­ten fast alle in der Armee; sie waren schon dabei, Ruhm anzu­häu­fen. Soll­te ich mei­ne Hän­de untä­tig in den Schoß legen und mich in Erwar­tung ihrer Rück­kehr mit Schan­de bede­cken? Ich war acht­zehn Jah­re alt.“ Und ein Füsi­lier im sechs­ten Gar­de­re­gi­ment schrieb an sei­ne Eltern, er bre­che auf nach den „Gran­des Indes“ oder mög­li­cher­wei­se nach Ägyp­ten: „Mir ist das ganz einer­lei; ich wünsch­te, wir wür­den bis ans Ende der Welt gehen.“

So spicht das aben­teu­er­li­che Herz. Die­se jun­gen Män­ner zogen mit einer schwer begreif­li­chen Unbe­küm­mert­heit und einem aus heu­ti­ger Sicht mons­trö­sen Des­in­ter­es­se an ihrer Zukunft in den Krieg. Das gren­zen­lo­se Ver­trau­en in die Fähig­kei­ten des Kai­sers und des­sen Plä­ne mag dafür mit­ur­säch­lich gewe­sen sein; man konn­te zwar ver­wun­det oder getö­tet wer­den, aber die Mög­lich­keit einer Nie­der­la­ge exis­tier­te für sie nicht. Wer die Erin­ne­rungs­li­te­ra­tur liest, gewinnt über­dies den Ein­druck, dass die­se jun­gen Män­ner den Tod nicht nur kei­nes­wegs fürch­te­ten, son­dern ver­blüf­fend wenig am Leben hin­gen. „Ich freue mich dar­auf, getö­tet zu wer­den, denn ich kre­pie­re schon durch das Mar­schie­ren“, schrieb ein Rekrut sei­nen Eltern in Frank­reich. Zahl­rei­che sei­ner Alters­ge­nos­sen schos­sen sich schon beim Hin­weg eine Kugel in den Kopf. Wenn nach dem Durch­que­ren der end­lo­sen Wei­ten Russ­lands end­lich ein­mal Aus­sicht auf eine Schlacht bestand, ver­brei­te­te sich plötz­lich gute Lau­ne im Heer. „Kampf­ta­ge gal­ten als Fei­er­ta­ge”, notiert Zamoy­ski. „Die Män­ner hat­ten sich die gan­ze Nacht über vor­be­rei­tet, und der Auf­gang einer herr­li­chen Son­ne am 28. Juli zeig­te uns im far­ben­präch­ti­gen Glanz einer Para­de. Waf­fen blitz­ten, Helm­bü­sche flat­ter­ten; erwar­tungs­vol­le Freu­de spie­gel­te sich auf jedem Gesicht; alle waren ver­gnüg­ter Stim­mung“, erin­ner­te sich ein Mari­ne­infan­te­rist namens Hen­ri Ducor.

Und das wirkt alles noch zivil im Ver­gleich mit der Gegen­sei­te. Zwar emp­fand manch jun­ger rus­si­scher Offi­zier vor der Schlacht bei Boro­di­no Ähn­li­ches wie sei­ne Alters­ge­nos­sen auf der Gegen­sei­te, etwa der Artil­le­rie-Leut­nant Niko­laj Mit­arew­skij: „Ich dach­te an Bücher, die den Krieg behan­del­ten – vor allem ‚Der Tro­ja­ni­sche Krieg‘ ging mir nicht aus dem Sinn. Ich brann­te dar­auf, an einer gro­ßen Schlacht teil­zu­neh­men, alle Gefüh­le zu spü­ren, die die­se Erfah­rung mit sich bringt, und hin­ter­her sagen zu kön­nen, an einer sol­chen Schlacht teil­ge­nom­men zu haben.“ Zwar hat­te Napo­le­on mit sei­nem Ein­marsch den Patrio­tis­mus der Rus­sen geweckt wie kurz zuvor jenen der Deut­schen; die Rus­sen ver­tei­dig­ten ihr Land gegen Okku­pan­ten, Plün­de­rer und, wie sie mein­ten, Fein­de des Chris­ten­tums, ja, den Anti­chris­ten höchst­selbst. Aber die rus­si­sche Armee „glich kei­ner ande­ren in Euro­pa”, wie Zamoy­ski festhält.

„Ein rus­si­scher Sol­dat wur­de auf 25 Jah­re ver­pflich­tet, was prak­tisch einem Wehr­dienst auf Lebens­zeit gleich­kam. Dass er die vol­le Zeit ableis­te­te, war unwahr­schein­lich, da nicht mehr als zehn Pro­zent die furcht­ba­ren Bedin­gun­gen und das häu­fi­ge Geprü­gelt­wer­den des Sol­da­ten­all­tags über­leb­ten.” Wenn ein Mann ein­ge­zo­gen wur­de, kam sei­ne Fami­lie und häu­fig auch das gan­ze Dorf zusam­men, um ihn zu ver­ab­schie­den. „Das Ereig­nis wur­de wie ein Begräb­nis began­gen.” Fah­nen­flucht war nahe­zu unmög­lich, es sei denn, der Rekrut woll­te fort­an in den Wäl­dern leben, denn ein her­ren­lo­ser Bau­er wäre in Russ­land über­all auf­ge­fal­len. „Die Män­ner wur­den gna­den­los gedrillt und muss­ten so lan­ge in For­ma­ti­on mar­schie­ren, bis sie gelernt hat­ten, als Mas­se zu ope­rie­ren; man brach­te ihnen bei, eher auf ihr Bajo­nett als auf ihre Mus­ke­te zu rech­nen.” Zwi­schen den bäu­er­li­chen Mann­schaf­ten und den adli­gen Offi­zie­ren exis­tier­te eine unüber­wind­li­che Klas­sen­schran­ke. Die Auf­stiegs­mög­lich­keit durch Beför­de­rung, wie sie bei den Fran­zo­sen unter Napo­le­on gang und gäbe war – ich nen­ne nur ein paar Mar­schäl­le als Exem­pel: Auger­au war Sohn einer Obst­händ­le­rin und eines Mau­rers, Lan­nes stamm­te aus einer Bauern‑, Murat aus einer Gast­wirts­fa­mi­lie, der Vater von Saint-Cyr war Ger­ber­meis­ter, der von Ney Bött­cher, jener von Oudi­not Brau­er, der Lefeb­v­res Poli­zei­wacht­meis­ter –, bestand bei den Rus­sen nicht; statt­des­sen setz­te es Stock­schlä­ge für die gering­fü­gigs­ten Ver­ge­hen. Auch in der Schlacht stand Gehor­sam über allem. Wer Feig­heit vor dem Feind zeig­te, war sofort zu erschie­ßen. Ein der­ar­ti­ger Drill ver­moch­te „Soli­da­ri­tät, Durch­hal­te­ver­mö­gen und die Fähig­keit erzeu­gen, fast alles zu ertra­gen”, resü­miert der His­to­ri­ker, för­der­te aber „weder Intel­li­genz noch Initiative”.

Wie eine sol­che Trup­pe kämpft, liegt, theo­re­tisch, auf der Hand: Sie wird ihre Stel­lun­gen stur zu hal­ten ver­su­chen oder mit Gleich­gül­tig­keit gegen den Feind anren­nen, aller­dings wenig Begeis­te­rung und erst recht kei­nen Ein­falls­reich­tum zei­gen und sich wahr­schein­lich schnell erge­ben. Nicht weni­ge Beob­ach­ter glaub­ten damals, wenn Napo­le­on den Leib­ei­ge­nen die Befrei­ung ver­spre­che, wür­den sie in Scha­ren zu ihm über­lau­fen; die rus­si­sche Sei­te befürch­te­te es. Prak­tisch geschah eher das Gegen­teil. Im Ange­sicht des Fein­des „zeig­ten die Män­ner aller­größ­ten Patrio­tis­mus und Loya­li­tät” (Zamoy­ski). Die rus­si­schen Sol­da­ten kämpf­ten mit einer Ver­bis­sen­heit bis zum Tod, die die Fran­zo­sen entsetzte.

Am Ran­de: Die rus­si­sche Armee ver­füg­te 1812 trotz­dem „wahr­schein­lich über die pro­fes­sio­nells­te Artil­le­rie in ganz Euro­pa“ (Zamoy­ski). Schon damals waren die Rus­sen also die Köni­ge der Artil­le­rie, wäh­rend sich Napo­le­on merk­wür­di­ger­wei­se nicht für die Qua­li­tät sei­ner Geschüt­ze inter­es­sier­te – für jene der Geweh­re sei­ner Trup­pe übri­gens eben­falls nicht. Er dach­te offen­bar fast nur in Bewe­gun­gen; mit wel­chem Mate­ri­al sei­ne Sol­da­ten ope­rier­ten, hielt er eher für nebensächlich.

Der Krieg in Russ­land unter­schied sich von allen bis­he­ri­gen Napo­leo­ni­schen Krie­gen, er war irra­tio­na­ler, ver­bis­se­ner und sehr viel blu­ti­ger. Übli­cher­wei­se galt bei einem Tref­fen euro­päi­scher Armeen, dass man sich in aus­sicht­lo­sen Situa­tio­nen ergab, und man rech­ne­te damit, dass der Geg­ner das­sel­be tun wür­de. Aus­sichts­lo­se Gemet­zel wider­spra­chen den Regeln, ja den Sit­ten; man woll­te den Geg­ner als Streit­macht besie­gen, aber nicht aus­lö­schen. Die­ses unge­schrie­be­ne Gesetz hat­te sogar wäh­rend des Gue­ril­la­krie­ges in Spa­ni­en weit­ge­hend gegol­ten (die Kämp­fe wäh­rend der Erobe­rung Sara­gos­sas 1809 viel­leicht aus­ge­nom­men). „Sol­da­ten töten, ohne ein­an­der zu has­sen“, zitiert Zamoy­ski Leut­nant Bla­ze de Bury, der an Feld­zü­gen in ganz Euro­pa teil­ge­nom­men hat­te. Wäh­rend einer Feu­er­pau­se besuch­te man oft das Lager des Geg­ners, „und obgleich wir bereit waren, uns beim ers­ten Signal wie­der gegen­sei­tig umzu­brin­gen, waren wir gleich­wohl gewillt, ein­an­der zu hel­fen, wenn sich die Gele­gen­heit bot“. In Russ­land traf das alles nicht mehr zu. Napo­le­ons Trup­pen muss­ten bei den Kämp­fen in Kras­ny, Smo­lensk und Walu­ti­na Gora den Ein­druck gewin­nen: „Rus­si­sche Sol­da­ten streck­ten nicht die Waf­fen. Man muss­te sie in Stü­cke hau­en.“ Ähn­li­ches hat­te schon Fried­rich der Gro­ße im Sie­ben­jäh­ri­gen Krieg fest­ge­stellt, vor allem in der Schlacht bei Kun­ers­dorf, als Rus­sen und Öster­rei­cher die zah­len­mä­ßig unter­le­ge­nen Preu­ßen schlu­gen, aber die Rus­sen auf sei­ten der Ver­bün­de­ten den Blut­zoll fast allein zahlten.

Die Fran­zo­sen waren jeden­falls ver­blüfft. „Ich hät­te mir sol­che pas­si­ve Tap­fer­keit, die ich seit­her hun­dert­mal bei den Sol­da­ten die­ser Nati­on erleb­te, nie vor­stel­len kön­nen, die, wie ich mei­ne, von ihrer Unwis­sen­heit und einem nai­ven Aber­glau­ben her­rührt“, schrieb Lubin Griois, Artil­le­rie­oberst im Korps Grouchy, der beob­ach­tet hat­te, wie unge­rührt die rus­si­schen Sol­da­ten ste­hen blie­ben, als er mit sich mit sei­ner Bat­te­rie bei Kras­nyi auf sie ein­schoss. „Noch im Ster­ben küs­sen sie das Bild­nis des Hei­li­gen Niko­laus, das sie immer bei sich tra­gen; sie glau­ben, dass sie unmit­tel­bar in den Him­mel fah­ren, und bedan­ken sich fast noch für die Kugel.“

Im Gegen­satz zur fran­zö­si­schen Armee, die for­mell aus frei­en Bür­gern bestand, waren die rus­si­schen Sol­da­ten Unfreie, sie dach­ten weder an eine Rück­kehr in ihr frü­he­res Leben, noch lag die Mög­lich­keit einer Befrei­ung inner­halb ihres Vor­stel­lungs­ver­mö­gens. Die Kriegs­er­fah­run­gen der Rus­sen mit Tür­ken und Kau­ka­sus­völ­kern hat­ten über­dies ver­hin­dert, dass in ihrem mili­tä­ri­schen Bewusst­sein die Opti­on, sich zu erge­ben, über­haupt exis­tier­te. Das mag die spe­zi­fisch rus­si­sche Art der Kriegs­füh­rung erklären.

Auf ihrem Rück­zug wen­de­ten die Rus­sen eine im rest­li­chen Euro­pa eben­falls unbe­kann­te Tak­tik an: die der ver­brann­ten Erde. Sie eva­ku­ier­ten alle Städ­te und Dör­fer, ver­brann­ten die Vor­rä­te, steck­ten Heu­hau­fen und Wei­zen­fel­der an und blo­ckier­ten die Stra­ße mit Hin­der­nis­sen aller Art. „In der Nacht stand der gan­ze Hori­zont in Flam­men“, beschrieb es ein fran­zö­si­scher Artil­le­rist. Auch das demo­ra­li­sier­te die Angrei­fer, die so etwas noch nicht erlebt hat­ten. Zugleich war näm­lich das von Napo­le­on peni­bel geplan­te Nach­schub­sys­tem an der Wirk­lich­keit zer­schellt. Die enor­men Ver­sor­gungs­pro­ble­me der Gran­de Armée führ­ten dazu, dass sie bereits auf dem Vor­marsch wie eine Trup­pe wirk­te, die sich auf dem Rück­zug befand. Män­ner und Pfer­de hun­ger­ten, an den Rän­dern der Stra­ße lagen Tote und Tier­ka­da­ver, und man hät­te ein ver­las­se­nes rus­si­sches und ein ver­las­se­nes fran­zö­si­sches Nacht­la­ger allein an der Latri­ne iden­ti­fi­zie­ren kön­nen (bei den Fran­zo­sen gras­sier­te die Ruhr). „Das gan­ze Gebiet im Rücken der Gran­de Armée wim­mel­te von mili­tä­risch nutz­lo­sen Sol­da­ten, die das Land aus­plün­der­ten und die Bevöl­ke­rung in Wut ver­setz­ten. Ban­den von Deser­teu­ren jeder Natio­na­li­tät aus ver­schie­de­nen Trup­pen­tei­len, meist unter der Füh­rung eines Fran­zo­sen, rich­te­ten sich in Her­ren­häu­sern etwas abseits der Haupt­stra­ße ein, auf der sie Durch­rei­sen­de aus­raub­ten.“ Gene­ral Jean Rapp war über die Zustän­de im Hin­ter­land ent­setzt. „Sei­nem Bericht zufol­ge hin­ter­ließ die Gran­de Armée mehr Zer­stö­rung als ein geschla­ge­nes Heer, was bewirk­te, dass die durch­mar­schie­ren­den Rekru­ten, die sich der Haupt­ar­mee anschlie­ßen soll­ten, von dem, was sie sahen, demo­ra­li­siert wur­den. Vie­le ver­hun­ger­ten auf dem Weg; es ver­hun­ger­ten auch die fri­schen Pfer­de, die aus Frank­reich und Deutsch­land her­an­ge­trie­ben wurden.“

Die Schlacht bei Boro­di­no am 26. August – die ein­zi­ge gro­ße Feld­schlacht in die­sem Krieg – war das größ­te Blut­bad seit Men­schen­ge­den­ken. Die rus­si­schen Ver­lus­te lagen zwi­schen 38.000 und 58.000 Mann (nach neu­es­ten Berech­nun­gen 45.000), die Fran­zo­sen und ihre Ver­bün­de­ten ver­lo­ren etwa 30.000 Mann. Erst an der Som­me 1916 soll­ten wie­der so vie­le Män­ner an einem Tag fal­len. Er habe „ein sol­ches Gemet­zel noch nie gese­hen“, erklär­te Gene­ral Rapp. „Das ver­bis­se­ne Hau­en und Ste­chen im Kampf um eini­ge Erd­wäl­le und das damit ver­bun­de­ne Gemet­zel waren in der euro­päi­schen Kriegs­füh­rung etwas voll­kom­men Neu­es”, sekun­diert Zamoy­ski. „Bis­her war es üblich, dass zah­len­mä­ßig unter­le­ge­ne oder aus­ma­nö­vrier­te Ein­hei­ten eher zurück­wi­chen.“ Es star­ben auch des­halb so vie­le Män­ner, weil bei­de Sei­ten sich in Reich­wei­te der geg­ne­ri­schen Artil­le­rie auf­ge­stellt hatten.

„Letzt­lich war es der Stoi­zis­mus der rus­si­schen Sol­da­ten, der an die­sem Tag (Mar­schall) Kutusows Ruf ret­te­te. Sie kämpf­ten und star­ben – oft sinn­los – dort, wohin man sie gestellt hat­te“, urteilt der His­to­ri­ker. Wäre den Rus­sen indes das vol­le Aus­maß ihrer Ver­lus­te bekannt gewe­sen, hät­te sich wohl Ver­zweif­lung breit­ge­macht. Um zu ver­hin­dern, dass der Rest sei­ner Trup­pe sich auf­lös­te, muss­te der rus­si­sche Ober­be­fehls­ha­ber Napo­le­on irgend­wie abschüt­teln, „und das ging nur, wenn er ihm einen Köder vor­warf. So traf Kutusow die ein­zi­ge bril­lan­te Ent­schei­dung sei­nes gesam­ten Feld­zugs: Er beschloss, Mos­kau zu opfern, um sei­ne Armee zu ret­ten.“ Napo­le­on sei „wie eine Sturz­flut, und wir sind noch zu schwach, sie auf­zu­hal­ten“, erklär­te der rus­si­sche Cunc­ta­tor gegen­über sei­nem Gene­ral­quar­tier­meis­ter Karl Wil­helm Graf von Toll. „Mos­kau ist der Schwamm, der ihn auf­sau­gen wird.“

Alle höhe­ren Offi­zie­re im rus­si­schen Haupt­quar­tier waren über die­se Ent­schei­dung ent­rüs­tet, außer Mar­schall Bar­clay de Tol­ly, bis zu sei­ner Ablö­sung durch Kutusow Kom­man­deur der rus­si­schen Armee, der in lako­ni­schem Rea­lis­mus erklär­te, eine Schlacht vor den Toren Mos­kaus wür­de dem Rest der Armee den Todes­stoß ver­set­zen, und er hof­fe in die­sem Fal­le, im Kampf getö­tet zu wer­den. Der Abmarsch der Armee habe einem Lei­chen­zug gegli­chen, schrieb ein Zeit­zeu­ge, „Offi­zie­re und Sol­da­ten heul­ten Trä­nen bit­te­rer Wut“.

Das schafft mir die Über­lei­tung zum Russ­land­feld­zug 1941.

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Wie Napo­le­on griff Hit­ler Russ­land an, um eigent­lich Eng­land zu tref­fen. Wie Napo­le­on rech­ne­te er mit einem schnel­len Sieg sei­ner mili­tä­risch über­le­ge­nen Trup­pen. Wie Napo­le­on begann er den Krieg im Som­mer, ohne auch nur an den Win­ter zu den­ken und sei­ne Armee mit Win­ter­sa­chen aus­zu­rüs­ten. Wie Napo­le­on spiel­te Hit­ler va ban­que. Wie Napo­le­on ver­lor er in Russ­land alles. Wie 1941 ver­trau­ten die Rus­sen auch 1812 auf die Aus­deh­nung ihres Lan­des und ver­län­ger­ten die­se gewis­ser­ma­ßen noch durch die Tak­tik der ver­brann­ten Erde. Wie 1812 waren die Rus­sen 1941 schlech­ter orga­ni­siert, besa­ßen aber mehr und bes­se­res Kriegs­ge­rät als der Angrei­fer. 1941 waren gro­ße Tei­le der Roten Armee offen­siv in den bei­den Front­bö­gen von Bia­lys­tok und Lem­berg dis­lo­ziert und konn­ten von der Wehr­macht leicht ein­ge­schlos­sen und besiegt wer­den, wäh­rend die Gran­de Armée schein­bar auf einen defen­siv ein­ge­stell­ten, stän­dig zurück­wei­chen­den Feind traf, was aber täusch­te; es war nur der stra­te­gi­schen Ein­sicht Bar­clays, der Zer­strit­ten­heit der rus­si­schen Füh­rung und der Angst vor einem direk­ten Tref­fen mit Napo­le­on geschul­det, dass die Hee­re nicht auf­ein­an­der­prall­ten – was die rus­si­schen Trup­pen zu die­sem Zeit­punkt wohl nicht über­lebt hät­ten. Spe­zi­ell der Hitz­kopf Fürst Bagra­ti­on tob­te, er hät­te, wäre er Ober­be­fehls­ha­ber, Napo­le­on längst „pul­ve­ri­siert“, und droh­te mehr­fach, allein los­zu­schla­gen, doch Bar­clay ret­te­te dem Zaren sei­ne Armee. Zum Lohn ersetz­te ihn Alex­an­der I. kurz dar­auf durch den so auf­ge­bla­se­nen wie zöger­li­chen Kutusow – Bar­clay war kein eth­ni­scher Rus­se, son­dern ein Deutsch-Bal­te, der mit den preu­ßi­schen Offi­zie­ren im Heer Deutsch sprach, was viel Miss­trau­en aus­lös­te, und geriet durch sein Zurück­wei­chen in den Ruch, ein Ver­rä­ter zu sein. Die­ser Ver­dacht rich­te­te sich übri­gens gegen fast alle aus­län­di­schen Offi­zie­re. Sol­che „Rei­bungs­ver­lus­te” gab es unter Sta­lin nicht, des­sen Fehl­ent­schei­dun­gen und sinn­lo­se Angriffs­be­feh­le in den Anfangs­mo­na­ten des Krie­ges bedeu­te­ten aber auch so für Mil­lio­nen sei­ner Sol­da­ten den Tod. Alex­an­der besaß die Klug­heit, sich nicht an die Spit­ze sei­ner Trup­pen zu set­zen – ihm hät­te man einen Rück­zug erst recht nicht verziehen.

Napo­le­ons Armee war gewis­ser­ma­ßen die Wehr­macht des 19. Jahr­hun­derts, der rus­si­schen in offe­ner Feld­schlacht in jedem Fall über­le­gen. Wenn die Ver­lus­te sich in der Gesamt­bi­lanz unge­fähr die Waa­ge hiel­ten, lag das vor allem an den ent­setz­li­chen Umstän­den des Rück­zugs. Das tak­ti­sche Ver­ständ­nis der rus­si­schen Armee war limi­tiert, zum einen wegen der Unselbst­stän­dig­keit der ein­fa­chen Sol­da­ten, zum ande­ren wegen der Uner­fah­ren­heit und der erwähn­ten Zer­strit­ten­heit des Offi­ziers­korps. Die im Nach­hin­ein gera­de­zu geni­al erschei­nen­de Stra­te­gie des noto­ri­schen Rück­zugs mit allen nega­ti­ven Fol­gen für die Gran­de Armée ergab sich ganz zufällig.

1941 half der Win­ter den Rus­sen, den deut­schen Vor­marsch kurz vor Mos­kau zu stop­pen, 1812 ver­nich­te­te der Win­ter die Fran­zo­sen auf dem Rück­zug, nach­dem sie zuvor Mos­kau mehr besetzt als erobert hat­ten – es gab ja kei­ne Ver­tei­di­ger. Bei­de Male hat­ten die Rus­sen kei­nes­wegs vor­ge­habt, so weit zurück­zu­wei­chen, obwohl gera­de die Über­deh­nung der Front im Kampf gegen die Wehr­macht und jene der Nach­schub­we­ge im Kampf gegen die Gran­de Armée ihnen im Zusam­men­wir­ken mit dem rau­en Kli­ma und der enor­men Zähig­keit und Lei­dens­fä­hig­keit der ein­fa­chen Sol­da­ten den Sieg bescher­ten. Umge­kehrt zeig­ten die Rus­sen bei der Ver­tei­di­gung ihres Lan­des 1812 eine ähn­lich ver­bis­se­ne Opfer­be­reit­schaft wie in den Jah­ren 1941 bis 1945, obwohl die meis­ten von ihnen ein Leben führ­ten, das die­sen Ein­satz unmög­lich recht­fer­ti­gen konn­te. Bei­de Feld­zü­ge waren so blu­tig und grau­sam, wie man es im „gesit­te­ten” Teil Euro­pas nicht für mög­lich hielt. Boro­di­no war in gewis­ser Wei­se das Sta­lin­grad des 19. Jahr­hun­derts. Jede west­li­che Armee hät­te in Sta­lin­grad bereits zum Win­ter­an­fang kapituliert.

Eine wei­te­re Ana­lo­gie bestand dar­in, dass sowohl 1812 als auch 1941 vie­le Rus­sen bzw. von ihnen beherrsch­te Völ­ker die Angrei­fer kul­tu­rell bewun­der­ten. Die rus­si­sche Aris­to­kra­tie am Anfang des 19. Jahr­hun­derts sprach fran­zö­sisch, die Mos­kau­er Gesell­schaft galt als fran­ko­phil – bis die Fran­zo­sen ein­mar­schier­ten, dann ent­flamm­te die Treue zum Zar und die Lie­be zu Russ­land. Auch in der Armee sprach man fran­zö­sisch. Das ers­te nächt­li­che Zwie­ge­spräch zwi­schen Ange­hö­ri­gen bei­der Hee­re, nach­dem eine Vor­hut der Angrei­fer unbe­merkt den Nje­men über­quert hat­te, ver­lief etwa so: „Qui vive?” – „France!” – „Mer­de!”

Anno 1941 hass­ten die meis­ten Bal­ten und Ukrai­ner Sta­lin und sei­ne kom­mu­nis­ti­sche Cli­que und sym­pa­thi­sier­ten mit den Angrei­fern, die sie noch für iden­tisch mit den Kai­ser­reichs­deut­schen hiel­ten. Wenn die Natio­nal­so­zia­lis­ten kei­nen anti­kom­mu­nis­ti­schen Befrei­ungs­krieg anzu­sta­cheln imstan­de waren, lag das ein­zig an ihrer Ras­sen­ideo­lo­gie und der dar­aus fol­gen­den Besat­zungs­po­li­tik: Die Juden woll­ten sie alle­samt ermor­den, die Sla­wen als künf­ti­ge Helo­ten­völ­ker behan­deln. Die Gran­de Armée ihrer­seits ver­scherz­te sich die Sym­pa­thien allein durch ihren enor­men Ver­pfle­gungs­be­darf und die dar­aus resul­tie­ren­den Plünderungen.

Eine wei­te­re Par­al­le­le zwi­schen den bei­den Feld­zü­gen bestand dar­in, dass nach dem mit hohen Ver­lus­ten errun­ge­nen rus­si­schen Sieg, der in bei­den Fäl­len in der Haupt­stadt des Angrei­fers besie­gelt wur­de, im Volk Hoff­nun­gen auf mehr Frei­hei­ten blüh­ten; immer­hin hat­te man ja gemein­sam mit den adli­gen bzw. kom­mu­nis­ti­schen Offi­zie­ren gekämpft, gelit­ten und mit hohem Blut­zoll dem Herr­scher zum Tri­umph ver­hol­fen und erwar­te­te nun eine Gegen­leis­tung, wenigs­tens einen Dank. Sta­lin waren sol­che Befind­lich­kei­ten voll­kom­men gleich­gül­tig, und nach den Locke­run­gen der Kriegs­zeit schloss sich wie­der sein eiser­ner Griff um sei­ne Unter­ta­nen. Auch die Sie­ger von 1812 muss­ten begrei­fen, dass sie ein­fach so wei­ter­le­ben soll­ten, als sei nichts gesche­hen; der Zar ver­bot frei­sin­ni­ge Gesell­schaf­ten und Klubs und ließ Säu­be­run­gen an den Uni­ver­si­tä­ten durch­füh­ren. Im Dezem­ber 1825, nach dem plötz­li­chen Tod Alex­an­ders, ergrif­fen die Deka­b­ris­ten die Gele­gen­heit zum Mili­tär­putsch. Nach dem Schei­tern des Auf­stan­des wur­den vie­le von ihnen zu hohen Gefäng­nis­stra­fen ver­ur­teilt, wobei bemer­kens­wert ist, dass sich unter den Ver­ur­teil­ten 65 Offi­zie­re befan­den, die bei Boro­di­no mit­ge­kämpft hatten.

***

Clau­se­witz zufol­ge lag die rus­si­sche Armee bei Boro­di­no am spä­ten Nach­mit­tag „in den letz­ten Zügen“, und die Fran­zo­sen wür­den nur noch den Fang­schuss set­zen müs­sen. Aber er kam nicht. Statt­des­sen stell­te Napo­le­on in dem Augen­blick, als die rus­si­schen Ver­tei­di­gungs­li­ni­en durch­bro­chen waren, die Kampf­hand­lun­gen prak­tisch ein.

Im 28. Kapi­tel des Zehn­ten Teils von „Krieg und Frie­den“ spot­tet Tol­stoi: „Vie­le His­to­ri­ker behaup­ten, die Fran­zo­sen hät­ten die Schlacht bei Boro­di­no aus dem Grund nicht gewon­nen, weil Napo­le­on den Schnup­fen gehabt habe; hät­te er den Schnup­fen nicht gehabt, so wären sei­ne Dis­po­si­tio­nen vor und wäh­rend der Schlacht genia­ler gewe­sen, Russ­land wäre unter­ge­gan­gen.“ Und fügt hin­zu: „Jener Kam­mer­die­ner, der ver­ges­sen hat­te, Napo­le­on am 24. August die was­ser­dich­ten Stie­fel zu rei­chen, wäre folg­lich der Ret­ter Russ­lands gewesen.“

Im Gegen­teil, so der Dich­ter, habe Napo­le­on sei­ne Rol­le in der Schlacht bei Boro­di­no „eben­so gut, ja noch bes­ser” aus­ge­füllt als in ande­ren Schlach­ten. „Er tat nichts, was dem Gang der Schlacht hät­te scha­den kön­nen, schloss sich den Ansich­ten der Ver­nünf­tigs­ten an, brach­te nichts in Ver­wir­rung, wider­sprach sich sel­ber nicht, er erschrak nicht und lief nicht vom Schlacht­feld davon, son­dern führ­te mit dem ihm eige­nen gro­ßen Fein­ge­fühl und mit all sei­ner Kriegs­er­fah­rung ruhig und wür­dig sei­ne Rol­le als schein­ba­rer Füh­rer und Lei­ter durch.” Was so wenig den Tat­sa­chen ent­spricht wie Tol­stois Irr­glau­be, es sei ein rus­si­scher Sieg gewe­sen. Der Kai­ser hat­te nicht nur einen Schnup­fen, er war krank und litt außer­dem an einem Migrä­ne­an­fall, was dazu führ­te, dass er an der Schlacht prak­tisch kaum teilnahm.

Dass aus­ge­rech­net Tol­stoi, ein Mann ober­halb jeden nor­ma­len Men­schen­ma­ßes, nicht nur als Dich­ter, auch als Phil­an­trop, Hun­gers­not­be­kämp­fer und Gesell­schafts­re­for­mer, den Ein­fluss des gro­ßen Man­nes auf das his­to­ri­sche Gesche­hen ins Lächer­li­che zu zie­hen sucht – und das oben­drein am Bei­spiel Napo­le­ons –, mag einer Urteils­er­wei­chung namens Patrio­tis­mus geschul­det sein, hat­te aber auch mit Tol­stois christ­li­chem Pazi­fis­mus zu tun. Krieg ist fürch­ter­lich – trotz­dem tra­fen und tref­fen sich über­all Vete­ra­nen und schwel­gen in Erin­ne­run­gen –, und Napo­le­on hat Hun­dert­tau­sen­de Men­schen wenn nicht auf dem Gewis­sen, so doch auf dem Kerb­holz. Kaum jemand unter den Heu­ti­gen, der das Feld von Boro­di­no am Abend der Schlacht sehen könn­te, wür­de des­sen Urhe­ber nicht für einen Unmen­schen oder zumin­dest für eine sitt­lich ver­ur­tei­lens­wer­te Exis­tenz hal­ten. Aber his­to­ri­sche Grö­ße ist mit mora­li­schen Maß­stä­ben allein nicht zu mes­sen. Gin­ge es nach Tol­stoi, hät­te der Auf­stieg – und Absturz – Napo­le­ons wenig oder nichts mit des­sen Per­sön­lich­keit zu tun. Das ist absurd.

„Nie­mand, der die Zeit Napo­le­ons nicht mit­er­lebt hat, ver­mag sich den mit­rei­ßen­den Ein­fluss vor­zu­stel­len, den er auf die Gemü­ter sei­ner Zeit­ge­nos­sen aus­üb­te“, schrieb ein rus­si­scher Offi­zier und füg­te hin­zu, dass sich bei jedem Sol­da­ten, gleich auf wel­cher Sei­te, schon die blo­ße Erwäh­nung sei­nes Namens mit der unmit­tel­ba­ren Vor­stel­lung gren­zen­lo­ser Macht ver­band. Als des Kai­sers Leib­wäch­ter, der Mame­luck Rous­tam, im Dezem­ber 1812 dem Wirt eines Gast­hofs bei Kow­no (Litau­en), in dem man über­nach­tet hat­te, das abge­leg­te Hemd und die Strümp­fe Napo­le­ons zum Weg­wer­fen gab, „ris­sen die Ein­hei­mi­schen die Sachen an sich, zer­schnit­ten sie und ver­teil­ten sie unter­ein­an­der,  um sie als hei­li­ge Reli­qui­en auf­zu­be­wah­ren” (Zamoy­ski). Es heißt, kei­ner der gefan­ge­nen Fran­zo­sen habe sich zu einer nega­ti­ven Bemer­kung über Napo­le­on ver­lei­ten las­sen. Der klei­ne Kor­se war der Kriegs­gott selbst. Selbst wenn er, wie Tol­stoi unk­te, tat­säch­lich kei­ne Rol­le im Sin­ne per­sön­li­chen Han­delns gespielt haben wür­de, hät­te er allein durch sei­ne Anwe­sen­heit gewal­tig auf Freund und Feind gewirkt.

Gera­de in Russ­land zeig­te sich, dass nicht nur Napo­le­ons Ent­schlüs­se, son­dern vor allem sei­ne Miss­grif­fe den Aus­gang des Krie­ges ent­schie­den haben. Wenn sich ein Kutusow spä­ter als Bezwin­ger des Kai­sers sprei­zen konn­te, war das nur ein Trep­pen­witz der Welt­ge­schich­te. Zu die­sem Sieg hat­te der genuss­süch­ti­ge und schon ein biss­chen seni­le Feld­mar­schall mili­tä­risch wenig bei­getra­gen, im Gegen­teil, noch wäh­rend des fran­zö­si­schen Rück­zugs gin­gen die rus­si­schen Gene­rä­le einer Kon­fron­ta­ti­on mit von Bona­par­te per­sön­lich geführ­ten Trup­pen­tei­len in fast aber­gläu­bi­scher Furcht aus dem Wege. Dass die Rus­sen den Krieg gewan­nen, war nicht ihr Ver­dienst, son­dern den Fehl­ent­schei­dun­gen Napo­le­ons geschul­det. Die Gran­de Armée litt zwar auf dem Rück­zug unter den Angrif­fen der rus­si­schen Sol­da­ten und Kosa­ken, doch die Fran­zo­sen ent­schie­den bis zuletzt fast alle direk­ten Gefech­te für sich; besiegt wur­den sie letzt­lich vom rus­si­schen Win­ter und den Wei­ten des Landes.

Mit­ten in der Lek­tü­re von „1812“ griff ich zu Kaf­kas Tage­bü­chern, was in sei­ner Anlass­lo­sig­keit selt­sam genug war, oben­drein schlug ich aus­ge­rech­net den (mir bis dato unbe­kann­ten) Ein­trag vom 1. Okto­ber 1915 auf: „Feh­ler, die Napo­le­on beging“ – es geht um den Russ­land­feld­zug. Kaf­ka bezieht sich auf die Memoi­ren des Gene­rals Mar­cel­lin de Mar­bot und notiert durch­num­me­rier­te acht­zehn Feh­ler, teils stra­te­gi­scher, teils tak­ti­scher Natur. Punkt 1 ist gleich der ele­men­tars­te: „Ent­schluß zu die­sem Krieg. Was woll­te er errei­chen? Stren­ge Durch­füh­rung der Kon­ti­nen­tal­sper­re in Ruß­land. Das war unmög­lich. Alex­an­der I konn­te nicht nach­ge­ben, ohne sich zu gefähr­den. Sein Vater Paul I war ja wegen des Bünd­nis­ses mit Frank­reich und wegen des Krie­ges mit Eng­land, der Ruß­lands Han­del uner­meß­lich geschä­digt hat­te ermor­det wor­den. Trotz­dem hoff­te Napo­le­on noch immer, Alex. wer­de nach­ge­ben. Nur um das zu erzwin­gen, woll­te er am Nje­men aufmarschieren.“

Das Beson­de­re an Zamoy­skis Buch ist, dass er nicht nur den Feld­zug als sol­chen, son­dern den Kon­flikt zwi­schen Napo­le­on I. und Alex­an­der I. gewis­ser­ma­ßen ab ovo behan­delt und mit der Zeit des gro­ßen Ein­ver­neh­mens der bei­den Mon­ar­chen beginnt, als sie in Til­sit die euro­päi­sche Zukunft plan­ten und sogar eine mög­li­che Neu­auf­tei­lung Asi­ens bespra­chen. Es ist ein Lehr­stück dar­über, wie Krie­ge begin­nen kön­nen, obwohl sie kei­ner der Betei­lig­ten recht eigent­lich will, und wie sich auch ein Napo­le­on ver­schät­zen und ver­he­ben konn­te. Der Feh­ler zwei auf Kaf­kas Lis­te lau­tet, der Kai­ser der Fran­zo­sen hät­te wis­sen kön­nen, was ihn erwar­tet, habe aber sämt­li­che War­nun­gen in den Wind geschla­gen. Womög­lich woll­te er den Rus­sen wirk­lich nur mit sei­nem Rie­sen­auf­marsch dro­hen und sie an den Ver­hand­lungs­tisch zwingen.

Feh­ler Num­mer acht: Napo­le­on über­trug sei­nem jüngs­ten Bru­der Jérô­me Bona­par­te das Kom­man­do über drei Armee­korps von ins­ge­samt 60.000 Mann. Gleich beim Ein­rü­cken hat­ten die Fran­zo­sen die rus­si­sche Armee in zwei Tei­le gespal­ten, Mar­schall Davout hat­te Minsk besetzt und der 2. Armee unter Bagra­ti­on den Rück­zug abge­schnit­ten. Hät­te Jérô­me mit Davout zusam­men­ge­ar­bei­tet – das fand er aber mit sei­ner Wür­de als König von West­fa­len nicht ver­ein­bar –, wäre Bagra­ti­on ver­nich­tet oder zur Kapi­tu­la­ti­on gezwun­gen wor­den. Das lang­sa­me Vor­rü­cken sei­nes Korps war einer der Grün­de, wes­halb eine Umfas­sung der rus­si­schen 2. Armee miss­lang. Napo­le­on war ver­är­gert und mach­te Jérô­me Vor­wür­fe, dass er ihm einen Sieg ver­dor­ben hat­te. Aber es war sei­ne Fehl­ent­schei­dung gewe­sen, den Bru­der, der noch nie an einem Krieg teil­ge­nom­men hat­te, an die Spit­ze drei­er Armee­korps zu stel­len. (Jérô­me mar­schier­te mit sei­ner könig­li­chen Gar­de am 16. Juli mur­rend und am Ende wahr­schein­lich sehr glück­lich zurück nach Kas­sel.) Erwähnt sei noch Feh­ler elf: die mili­tä­risch sinn­lo­se Ein­schlie­ßung und blu­ti­ge Erobe­rung von Smo­lensk, das vol­ler Zivi­lis­ten war, nach Clau­se­witz Bona­par­tes größ­ter Faux­pas, denn er hät­te statt­des­sen Bar­clays 1. Armee am ande­ren Dne­pru­fer angrei­fen, die Stadt links lie­gen und sie sich spä­ter ohne Wider­stand in den Schoß fal­len las­sen können.

Jeden­falls – hät­te, hät­te, Döner­ket­te – besaß Napo­le­on mehr­fach die Gele­gen­heit, die Zer­strit­ten­heit der rus­si­schen Füh­rung aus­zu­nut­zen und die bei­den geg­ne­ri­schen Armeen zu ver­nich­ten; er ließ sie unge­nutzt und ging in Mos­kau in eine Fal­le, von der man fai­rer­wei­se sagen muss, dass sie jen­seits des Vor­stell­ba­ren lag. Die Fran­zo­sen erreich­ten die Haupt­stadt am 14. Sep­tem­ber. Dass Napo­le­on den Rück­zug aber erst am 19. Okto­ber antrat – mit jeder Woche frü­her hät­te er sei­ne Chan­cen, das ver­blie­be­ne Fünf­tel oder Sechs­tel sei­ner Armee aus Russ­land her­aus­zu­füh­ren und Kai­ser zu blei­ben, dra­ma­tisch erhöht –, ent­schied letzt­lich sein Schicksal.

Der Russ­land-Feld­zug warf sämt­li­che Regeln und Gewiss­hei­ten der bis­he­ri­gen Kriegs­füh­rung über den Hau­fen. Nach dem scha­len Sieg bei Boro­di­no und der fol­gen­den Ein­nah­me Mos­kaus glaub­te Napo­le­on – und mit ihm fast sei­ne gesam­te Gene­ra­li­tät –, dass der Krieg gewon­nen sei. Die Haupt­stadt des Fein­des besetzt zu haben, führ­te nor­ma­ler­wei­se zu des­sen Kapi­tu­la­ti­on und Frie­dens­ver­hand­lun­gen. Der Emper­eur war ver­blüfft, dass ihn kei­ne Über­gab­ede­le­ga­ti­on emp­fing. Dann war er bestürzt dar­über, dass die (meis­ten) Rus­sen die Stadt ver­las­sen hat­ten und beim Rück­zug offen­bar gezielt Brän­de gelegt und Vor­rä­te ver­nich­tet wor­den waren. Aber es dau­er­te einen gan­zen Monat, bis er sei­ne tat­säch­li­che Situa­ti­on begriff.

So lan­ge Napo­le­on dabei war, schlug der Rück­zug nicht in eine pani­sche Flucht um. Sei­ne Anwe­sen­heit hielt die Trup­pe zusam­men. Es gibt einen berühm­ten Bericht des rus­si­schen Par­tisans Denis Dawy­dow, ein Husa­ren­of­fi­zier der Zwei­ten Armee, der mit Kutusows Bil­li­gung eine Gue­ril­la anführ­te, von Pusch­kin als Held gefei­ert und von Tol­stoi als Den­i­sow ver­ewigt: „Die Alte Gar­de, bei der sich Napo­le­on befand, näher­te sich. Wir spran­gen auf unse­re Pfer­de und erschie­nen wie­der an der gro­ßen Stra­ße. Als der Feind unse­ren lau­ten Hau­fen erblick­te, leg­te er die Hand an den Gewehr­hahn und setz­te sei­nen Weg stolz fort, ohne sei­ne Schrit­te zu beschleu­ni­gen. Allen unse­ren Ver­su­chen, auch nur einen Mann aus die­sen geschlos­se­nen Kolon­nen her­aus­zu­rei­ßen, setz­ten sie eiser­nen Wider­stand, an dem all unse­re Angrif­fe schei­ter­ten, ent­ge­gen; nie wer­de ich den frei­en Schritt und die ach­tung­ge­bie­ten­de Hal­tung die­ser Sol­da­ten ver­ges­sen, die dem Tod in allen sei­nen Gestal­ten ins Auge gese­hen hat­ten. Mit ihren hohen Bären­fell­müt­zen, ihren blau­en Uni­for­men, dem wei­ßen Leder­zeug, mit den roten Feder­bü­schen und Epau­let­ten gli­chen sie Mohn­blü­ten auf einem schnee­be­deck­ten Fel­de … Alle unse­re asia­ti­schen Angrif­fe ver­moch­ten nichts gegen die­se geschlos­se­ne euro­päi­sche For­ma­ti­on. … An die­sem Tag nah­men wir noch einen Gene­ral, aller­lei Gepäck und 700 Sol­da­ten gefan­gen, doch Napo­le­on und die Gar­de gin­gen durch unse­re Kosa­ken hin­durch wie ein mit 100 Kano­nen bestück­tes Lini­en­schiff zwi­schen Fischerbooten.”

Selbst­re­dend war der ver­hält­nis­mä­ßig geord­ne­te Rück­zug vor allem auch das Werk der Mar­schäl­le und Gene­rä­le. Zwei Bei­spie­le, die ein­fach nur atem­be­rau­bend in ihrer Kühn­heit in eigent­lich aus­sichts­lo­ser Lage sind: Am 4. Novem­ber trenn­te der rus­si­sche Gene­ral Graf Michail Andre­je­witsch Mil­o­ra­do­witsch das Korps von Mar­schall Davout, das die Nach­hut bil­de­te, von den vor­aus­ge­hen­den Staf­feln ab und nahm es von zwei Sei­ten in die Zan­ge, wäh­rend Par­ti­sa­nen gleich­zei­tig des­sen Flan­ken atta­ckier­ten. Die Nach­hut befand sich in töd­li­cher Gefahr. Was taten die Vor­aus­mar­schie­ren­den? Ver­such­ten sie, sich wei­ter in Sicher­heit zu brin­gen? „Fürst Eugè­ne (de Beau­har­nais, Napo­le­ons Stief­sohn, im Gegen­satz zu Jérô­me Bona­par­te ein fähi­ger, in der Trup­pe geschätz­ter Gene­ral) und (Gene­ral) Poni­a­tow­ski hör­ten die Kano­nen­schüs­se und mach­ten prompt kehrt. Sie konn­ten 13.000 bezie­hungs­wei­se 3.500 Mann ein­set­zen und grif­fen so ent­schlos­sen an, dass Mil­o­ra­do­witsch zurück­ge­wor­fen und die Stra­ße wie­der frei war, wäh­rend Ney, der eben­falls kehrt­ge­macht hat­te, die Zugän­ge nach Wjas­ma sicherte.”

Elf Tage spä­ter fand sich nun­mehr Eugè­ne mit sei­nen noch knapp 4000 Mann abge­schnit­ten und vom Feind umzin­gelt; rus­si­sche Infan­te­rie, mit Kano­nen ver­stärkt, ver­sperr­te ihm den Weg nach vorn, wäh­rend regu­lä­re Kaval­le­rie und Kosa­ken­rei­ter sei­ne Flan­ken umfasst hat­ten. Mil­o­ra­do­witsch ent­sand­te einen Offi­zier mit wei­ßer Fah­ne und ließ mit­tei­len, dass er über 20.000 Mann ver­fü­ge und Kutusow mit der Haupt­ar­mee in der Nähe bereit­ste­he. „Fürst Eugè­ne ließ die Geschüt­ze abprot­zen, die ihm noch ver­blie­ben waren, stell­te sein Korps als geschlos­se­ne Kolon­ne auf und schritt zum Angriff.”

Man kann es dre­hen, wie man will: Das waren Helden.

Als sich Napo­le­on vor dem Ein­zug der Rest sei­ner Armee in Wil­na von der Trup­pe absetz­te und nach Paris fuhr, brach die Ord­nung zusam­men. Mar­schall Murat, der die Füh­rung über­neh­men soll­te, fluch­te ledig­lich, er wer­de sich in „die­sem Pis­s­pott” nicht ein­schlie­ßen las­sen, und ergriff kei­ner­lei Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men. „In die­sem Cha­os hät­te es der Anzie­hungs­kraft eines Kolos­ses bedurft, und die­ser war soeben ver­schwun­den“, schrieb der fran­zö­si­sche Diplo­mat Lou­is-Phil­ip­pe de Ségur. „In dem dadurch ent­stan­de­nen lee­ren Raum wur­de Murat kaum bemerkt. Es ward nun sicht­bar, wie uner­setz­lich ein gro­ßer Mann ist.“

Das führt mich zu Tol­stoi zurück. In „Krieg und Frie­den” (14. Teil, 18. Kapi­tel) schreibt er:

„‘C’est grand!‘, sagen die His­to­ri­ker, und schon gibt es kein Gut und Böse mehr, son­dern nur ein ‚grand‘ oder ‚nicht grand‘. ‚Grand‘ ist gut, ‚nicht grand‘ ist böse. ‚Grand‘ ist ihrer Ansicht nach eine Eigen­schaft ganz beson­de­rer Wesen, die sie Hel­den nen­nen. Und als sich Napo­le­on in sei­nen war­men Pelz hüll­te, nach Hau­se fuhr und die Umkom­men­den im Stich ließ, die nicht nur sei­ne Kame­ra­den, son­dern Leu­te waren, die er, wie er glaub­te, sel­ber dort­hin geführt hat­te, da fühl­te er: ‚que c’est grand‘, und sein Gewis­sen war beruhigt.
Vom Erha­be­nen – er fühl­te etwas Erha­be­nes in sich – zum Lächer­li­chen ist es nur ein Schritt, sag­te er, und die gan­ze Welt wie­der­holt fünf­zig Jah­re lang das­sel­be: Erha­ben! Groß! Napo­le­on der Gro­ße! Vom Erha­be­nen zum Lächer­li­chen ist es nur ein Schritt.
Und kei­nem kommt es in den Sinn, dass das Zuge­ben einer Grö­ße, an die der Maß­stab von Gut und Böse nicht mehr ange­legt wer­den kann, nur ein Ein­ge­ste­hen der eige­nen Bedeu­tungs­lo­sig­keit und maß­lo­sen Nich­tig­keit ist.
Für uns, die wir von Chris­tus den Maß­stab für Gut und Böse erhal­ten haben, gibt es nichts, was damit nicht zu mes­sen wäre. Und wo kei­ne Schlicht­heit, Güte und Wahr­haf­tig­keit ist, da ist auch kei­ne Größe.“

Der Dich­ter zitiert hier zwei­mal die Wor­te, mit denen Napo­le­on sei­nen Rück­zug gegen­über sei­nem Sekre­tär und Groß­stall­meis­ter Cau­lain­court kom­men­tier­te: „Du sub­li­me au ridi­cu­le il n’y a qu’un pas.” Selbst­re­dend gehört ein sol­cher Absatz nicht in einen Roman, son­dern in einen Besin­nungs­auf­satz, aber Tol­stoi ist zu groß für sol­che For­ma­li­en; er kann schrei­ben was er will. Gleich­wohl han­delt es sich um ein Res­sen­ti­ment. Nach Boro­di­no, behaup­tet Tol­stoi am Schluss von Teil zehn, sei die inne­re Kraft der fran­zö­si­schen Trup­pen erschöpft gewe­sen. „Das ein­drin­gen­de fran­zö­si­sche Heer fühl­te wie ein wüten­des Tier, das bei sei­nem Ansatz zum Sprung eine töd­li­che Wun­de emp­fan­gen hat, sei­nen Unter­gang her­an­na­hen, aber es konn­te nicht inne­hal­ten.“ Nach die­sem Rip­pen­stoß habe sich das fran­zö­si­sche Heer noch bis Mos­kau hin­schlep­pen kön­nen, dort aber „muss­te es an der bei Boro­di­no emp­fan­ge­nen töd­li­chen Wun­de ver­blu­ten“. Wir haben gese­hen, dass das nicht zutrifft. Also kann auch Tol­stois Fol­ge­rung dar­aus nicht stim­men. Jene nämlich:

„Die unmit­tel­ba­ren Fol­gen der Schlacht bei Boro­di­no waren die grund­lo­se Flucht Napo­le­ons aus Mos­kau, sein Rück­zug auf der alten Smo­lens­ker Stra­ße, die Ver­nich­tung des ein­ge­drun­ge­nen Hee­res von fünf­mal­hun­dert­tau­send Mann, und der Unter­gang des Napo­leo­ni­schen Frank­reich, auf das bei Boro­di­no zum ersten­mal die Faust eines an Geist über­le­ge­nen Geg­ners her­ab­ge­sun­ken war.“

Mit die­sem über­le­ge­nen Geist kann er nur den christ­lich-ortho­do­xen mei­nen. Aus Respekt vor die­sem bedeu­ten­den Autor ent­hal­te ich mich eines jeg­li­chen Kommentars.

***

Der Rest ist der Rück­zug, und das heißt: Sze­nen, mit denen ver­gli­chen Dan­tes Infer­no wie die Schil­de­rung eines aus dem Ruder gelau­fe­nen Kin­der­ge­burts­ta­ges erscheint. Im bren­nen­den Mos­kau dege­ne­rier­te die Gran­de Armée end­gül­tig zur Räu­ber­ban­de, wenn­gleich ihr har­ter Kern erstaun­lich kampf­kräf­tig blieb; die Sol­da­ten sof­fen, plün­der­ten und ver­ge­wal­tig­ten (bzw. nutz­ten die Ver­sor­gungs­not vie­ler Mos­kaue­rin­nen aus), und als sie einen Monat spä­ter die Stadt ver­lie­ßen, gli­chen sie eher beu­te­be­la­de­nen anti­ken Städ­te­er­obe­rern als einer euro­päi­schen Armee der Neu­zeit. „Das war nicht mehr die Armee Napo­le­ons, son­dern die des per­si­schen Dari­us, die von einem gro­ßen Raub­zug heim­kehr­te, mehr lukra­tiv als glor­reich“, befand Graf Adri­en de Mail­ly von den Cara­bi­niers à Cheval.

In der Stadt brach Unru­he aus; Zivi­lis­ten, die mit den Fran­zo­sen zusam­men­ge­ar­bei­tet hat­ten oder auch nur in Mos­kau geblie­ben waren, befürch­te­ten, nach dem Abzug vom Mob gelyncht zu wer­den, und schlos­sen sich ihnen in Scha­ren an. Wie auf dem Hin­weg zogen auch auf dem Rück­marsch Aber­tau­sen­de Nicht­kom­bat­tan­ten mit der Trup­pe und teil­ten ihr schreck­li­ches Schick­sal. Die Sol­da­ten schlepp­ten ihre Beu­te mit sich, man­che war­fen ihre Waf­fen weg und Artil­le­ris­ten die Muni­ti­on, um mehr trans­por­tie­ren zu kön­nen. Fuhr­wer­ke aller Art, von der Kut­sche bis zum Kar­ren, waren mit Raub­gut bela­den. Napo­le­on hat­te Mar­schall Mor­tier befoh­len, die Stadt zu räu­men, alle Ver­wun­de­ten mit­zu­neh­men und den Kreml in die Luft zu spren­gen; die­ser Krieg hat­te auch im fran­zö­si­schen Kai­ser den rach­süch­ti­gen Bar­ba­ren geweckt. „Zum Glück”, notiert Zamoy­ski, „hat­ten vie­le Zün­der ver­sagt, und obwohl erheb­li­cher Scha­den ent­stand, wur­de der Kreml nicht zerstört.“

Kei­ner der auf kai­ser­li­chen Geheiß abtrans­por­tier­ten Ver­wun­de­ten kam je wie­der nach Hau­se – die Bles­sier­ten andern­orts, die den Kosa­ken oder den Ein­hei­mi­schen in die Hän­de fie­len, wur­den alle­samt aus­ge­plün­dert, ohne Essen und Trin­ken ihrem Schick­sal über­las­sen, aus den Fens­tern gewor­fen oder auf ande­re Wei­se mas­sa­kriert. Als in der ein­set­zen­den Win­ters­käl­te unter den Mar­schie­ren­den der Kampf ums Über­le­ben begann, waren die Ver­wun­de­ten die ers­ten, die man zurück­ließ. Nach Frost­näch­ten unter minus 30 Grad stan­den am Mor­gen gan­ze Ein­hei­ten nicht mehr auf. Von Par­ti­sa­nen und Kosa­ken unbarm­her­zig atta­ckiert, schlepp­ten sich die Sol­da­ten west­wärts, stän­dig auf der Suche nach Brenn­ma­te­ri­al für ein Lager­feu­er und irgend­et­was Ess­ba­rem. Kein Tier auf dem Weg blieb ver­schont, zuletzt aßen die Rück­züg­ler auch Men­schen­fleisch. „Ein totes Pferd”, schreibt Zamoy­ski, „wur­de bin­nen Minu­ten stein­hart, so dass sich sein Fleisch nicht mehr zer­tei­len ließ. Daher war es über­le­bens­wich­tig, ein noch leben­des Tier zu fin­den, aus dem sich Fleisch her­aus­schnei­den ließ. Ange­sichts des­sen war es nur ein klei­ner Schritt dazu, einem Pferd Fleisch aus dem Hin­ter­teil zu schnei­den, wenn sein Besit­zer nicht hin­sah. Wegen der Käl­te fühl­ten die Tie­re kei­nen Schmerz, und ihr Blut gefror sofort. Sie konn­ten mit ihren klaf­fen­den Wun­den im Gesäß noch tage­lang weitergehen.”

Den Men­schen erging es nicht anders. Napo­le­ons Adju­tant Planat de la Faye berich­tet über einen ita­lie­ni­schen Offi­ziers­kol­le­gen, der allen Kame­ra­den mit sei­ner Stand­haf­tig­keit Mut gemacht hat­te. „Nie habe ich einen Mann gese­hen, der tap­fe­rer und fröh­li­cher war als die­ser Pie­mon­te­se“, schrieb er. „Schon vor dem Über­gang über die Beresi­na waren ihm die Zehen an bei­den Füßen weg­ge­fro­ren. In Smor­gonj hat­te sich Wund­brand ent­wi­ckelt, und er bekam sei­ne Schu­he nicht mehr an. Jede Nacht, wenn wir Rast mach­ten, schnitt er die bran­di­gen Stel­len mit einem Mes­ser ab und ver­band den Rest sorg­fäl­tig mit Lum­pen, alles mit einer Fröh­lich­keit, die einem das Herz zer­riss. Am nächs­ten Tag setz­te er, mit Hil­fe eines Stocks, sei­nen Marsch fort, um sich dann am Abend wie­der der­sel­ben Pro­ze­dur zu unter­zie­hen, so dass er zu dem Zeit­punkt, als wir Wil­na erreich­ten, nicht viel mehr als sei­ne bei­den Hacken übrig hat­te.“ Dort wur­de er über Nacht wahnsinnig.

„Man sah außer­ge­wöhn­lich vie­le Sol­da­ten, deren Hän­de und Füße nur noch aus Kno­chen bestan­den, weil das Fleisch abge­fal­len war”, erin­ner­te sich Lou­is Joseph Vion­net de Marin­go­né, ein Offi­zier bei den Gar­de­gre­na­die­ren, der mir durch sei­ne Anteil­nah­me am Schick­sal der Mos­kau­er Zivil­be­völ­ke­rung im Gedächt­nis geblie­ben ist.

Der Elends­zug, der schließ­lich in Wil­na ein­traf, hat­te nichts Mensch­li­ches mehr an sich – fri­sche Trup­pen, die der zurück­flu­ten­den Gran­de Armée ent­ge­gen­ge­sandt wor­den waren, hat­ten bereits mit Ent­set­zen auf den Zustand ihrer Kame­ra­den reagiert –: „Man kann die Ein­woh­ner, die sie in ihre Häu­ser lie­ßen, nur bewun­dern. Die Män­ner waren halb wahn­sin­nig vor Hun­ger, über­sät mit Geschwü­ren und klaf­fen­den Wun­den, ver­dreckt und ver­laust. ‚Nichts ver­strömt einen bes­tia­li­sche­ren Gestank als erfro­re­nes Fleisch‘, bemerk­te Ser­geant Thi­ri­on, und die Mehr­zahl der Män­ner war min­des­tens an eini­gen Stel­len von Erfrie­run­gen befal­len. Die Ruhr, unter der die meis­ten lit­ten, hat­te Spu­ren auf ihrer Klei­dung hin­ter­las­sen, wäh­rend ihr Mund­ge­ruch, nach wochen­lan­gem Ver­zehr von Pfer­de­fleisch und ver­faul­ten Abfäl­len, offen­bar beson­ders ekel­haft gewe­sen sein muss.“

Neben den Sol­da­ten star­ben Tau­sen­de Zivi­lis­ten. Die fol­gen­de Sze­ne ereig­ne­te sich am Ost­ufer der Beresi­na. „Oberst von Kurz beob­ach­te­te vol­ler Ent­set­zen, wie eine schö­ne jun­ge Frau mit ihrer vier­jäh­ri­gen Toch­ter ver­geb­lich die Brü­cke zu errei­chen such­te. ‚Gleich dar­auf stürz­te ihr Pferd, von einer Kugel getrof­fen. Eine ande­re zer­schmet­ter­te ihr den Schen­kel über dem Knie. Mit der anschei­nen­den Ruhe stil­ler Ver­zweif­lung nahm sie ihr wei­nen­des Kind, küss­te es öfters, lös­te das blu­ti­ge Strumpf­band vom zer­schmet­ter­ten Bein und erdros­sel­te ihr Kind. Hier­auf schloss sie das gemor­de­te Kind in die Arme, drück­te es fest an sich, leg­te sich neben ihr gefal­le­nes Pferd und erwar­te­te so den Tod. Nach weni­gen Minu­ten war sie von den Hufen der andrän­gen­den Pfer­de zertreten.“

Ich will es bei die­sen schau­ri­gen Anek­do­ten vom Rück­zug bewen­den las­sen; das Buch lie­fert eine Fül­le davon, eine fürch­ter­li­cher als die ande­re, aber auch zahl­rei­che Bei­spie­le von selbst­lo­ser Hil­fe und über­mensch­li­chen Anstren­gun­gen, um ande­re zu ret­ten. Las­sen Sie mich mit zwei Geschich­ten schlie­ßen, die den Schre­cken mit einer gewis­sen Ver­söh­nung verbinden.

Ein fran­zö­si­scher Leut­nant der 1. Pol­ni­schen Lan­zen­rei­ter konn­te hin­ter Wil­na nicht mehr wei­ter­ge­hen und setz­te sich an den Stra­ßen­rand, um zu ster­ben. Ein Ser­geant sei­ner Ein­heit ver­such­te, ihn zum Auf­ste­hen zu bewe­gen, aber ver­geb­lich. In die­sem Moment sahen sie einen Schlit­ten die Stra­ße her­an­kom­men. Der Ser­geant froh­lock­te, aber als der Mann zu ihnen auf­schloss, erkann­te der Leut­nant den Fah­rer: Es war ein Sol­dat sei­ner Kom­pa­nie, den er wegen Plün­derns hat­te aus­peit­schen las­sen. Der Schlit­ten hielt an, und der Fah­rer stieg ab. „Er sag­te dem Ser­geant, er sol­le auf­stei­gen, dann ging er zum Leut­nant hin­über. Nach einem Moment brach er in Geläch­ter aus, ver­pass­te ihm einen kräf­ti­gen Box­hieb, hob ihn auf, drück­te ihn auf den Schlit­ten und deck­te ihn mit einer Fell­de­cke zu. ‚Sie haben mich wegen ein biss­chen harm­lo­ser Plün­de­rei bestraft’, sag­te er, als sie los­fuh­ren, ‚aber Sie müs­sen zuge­ben, manch­mal ist sie durch­aus nütz­lich, und in die­sem Augen­blick macht es Ihnen nicht viel aus, dass ich die­sen Schlit­ten mit dem guten Gespann geklaut habe, der uns aus die­sem ver­fluch­ten Land hübsch her­aus­brin­gen wird.’ ”

Der Gene­ral­inten­dant Mathieu Dumas hat­te Gum­bin­nen in Ost­peu­ßen erreicht, wo er Unter­schlupf im Haus eines orts­an­säs­si­gen Arz­tes fand. „Als er sich am nächs­ten Mor­gen gera­de zu einem stär­ken­den Früh­stück und einem guten Kaf­fee gesetzt hat­te, ging die Tür auf, und ein Mann in einem brau­nen Man­tel trat ein. Sein Bart war vom Rauch geschwärzt, und sei­ne roten Augen leuch­te­ten. ‚Hier bin ich end­lich”, ver­kün­de­te der Frem­de. ‚Was ist, Gene­ral Dumas, erken­nen Sie mich nicht?’ Dumas schüt­tel­te den Kopf und frag­te ihn, wer er sei. ‚Ich bin die Nach­hut der Gran­de Armée’, ant­wor­te­te der Mann. ‚Ich bin Mar­schall Ney.’ ”

***

Zamoy­skis Opus hat nur einen Makel: das Titelbild.

Das fällt aber in der Regel nur Men­schen auf, die bei einer Illus­trier­ten oder in der Gra­phik­ab­tei­lung eines Ver­lags arbei­ten oder gear­bei­tet haben. Etwas stimmt nicht. Ach­ten Sie auf die Säbel bzw. Degen.

PS: Dass es sehr ande­re Zei­ten waren anno 1812, erhellt auch aus der Beschrei­bung, womit sich ein fran­zö­si­scher Offi­zier in Mos­kau für den Rück­marsch ein­deck­te: „Antoine Augus­tin Pion des Loches, den man eben erst zum Oberst der Gar­de-Fuß­ar­til­le­rie beför­dert hat­te, rüs­te­te sich gegen alle Even­tua­li­tä­ten. In sei­nem klei­nen Trans­port­wa­gen ver­stau­te er hun­dert gro­ße Stü­cke Tro­cken­zwie­back, einen Sack Mehl, drei­hun­dert Fla­schen Wein, zwan­zig bis drei­ßig Fla­schen Rum und ande­re Spi­ri­tuo­sen, zehn Pfund Tee, zehn Pfund Kaf­fee, eine Men­ge Ker­zen und, ‚falls wir unser Win­ter­quar­tier öst­lich des Nje­men auf­schla­gen wür­den, was ich für unaus­weich­lich hielt, eine Kis­te mit einer schö­nen Aus­ga­be der Wer­ke Vol­taires und Rous­se­aus, einer Geschich­te Russ­lands von Le Clerc und einer von Leves­que, den Stü­cken Moliè­res, den Wer­ken von Piron, Mon­tes­quieus l’Esprit des lois und eini­gen ande­ren Wer­ken, dar­un­ter Ray­nals His­to­rie phi­lo­so­phi­que, alles mit Gold­schnitt und in wei­ßem Kalbs­le­der gebunden.’ ”

PPS: Eine letz­te Anek­do­te. Die Wen­dung „Im Kreml brennt noch Licht” ist seit Sta­lin eine geflü­gel­te; der Woschd wacht rund um die Uhr über das Schick­sal des Lan­des, heißt das. Der Kom­mu­nist Erich Wei­nert schrieb ein Gedicht des Titels „Im Kreml ist noch Licht”.

Ich schau’ aus mei­nem Fens­ter in der Nacht;
zum nahen Kreml wend ich mein Gesicht.
Die Stadt hat alle Augen zugemacht.
Und nur im Kreml drü­ben ist noch Licht.

Und wie­der schau’ ich weit nach Mitternacht
zum Kreml hin. Es schläft die gan­ze Welt.
Und Licht um Licht wird drü­ben ausgemacht.
Ein einz’ges Fens­ter nur ist noch erhellt.

Spät leg’ ich mei­ne Feder aus der Hand,
als schon die Dämm­rung aus den Wol­ken bricht.
Ich schau’ zum Kreml. Ruhig schläft das Land.
Sein Herz blieb wach. Im Kreml ist noch Licht.

Es war aber Napo­le­on, auf den die Legen­de zurück­geht. Der Kai­ser resi­dier­te im Kreml, in einer wei­ten Hal­le mit drei Salons und Blick auf die Moskwa. „Sei­nen Kam­mer­die­ner wies er an, jede Nacht zwei bren­nen­de Ker­zen ins Fens­ter zu stel­len, damit die vor­bei­zie­hen­den Sol­da­ten sehen konn­ten, dass er wach­te und für sie arbeitete.“

 

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