Zur Dokumentation

Der Rechts­ge­lehr­te und Anwalt Ulrich Vos­ger­au, der als Straf­ver­tei­di­ger den thü­rin­gi­schen AfD-Vor­sit­zen­den Björn Höcke vor dem Land­ge­richt Hal­le ver­tritt, schreibt auf X, form­er­ly twitter:

„Der geschätz­te Kol­le­ge Vol­ker Boeh­me-Neß­ler kom­men­tiert auf CICERO weit­hin ordent­lich das Hal­len­ser Straf­ver­fah­ren gegen Björn Höcke. In einem wich­ti­gen Punkt muß man ihm aller­dings wider­spre­chen! Näm­lich, wenn Boeh­mer-Neß­ler – frei­lich ohne damit sagen zu wol­len, Höcke habe auch nur den objek­ti­ven Tat­be­stand erfüllt, denn er hat die omi­nö­sen drei Wor­te ‚Alles für Deutsch­land’ ja ein­ge­baut in einer län­ge­ren Wen­dung mit ganz eige­nem Sinn­ge­halt ver­wen­det, und ohne (selbst wenn der objek­ti­ve Tat­be­stand erfüllt sein soll­te) Höcke auch Vor­satz zu unter­stel­len – immer­hin behauptet:

Der his­to­ri­sche Befund ist klar und völ­lig unstrit­tig. Die Paro­le ‚Alles für Deutsch­land’ war die Paro­le der SA, einer ver­bre­che­ri­schen natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on. Zwi­schen 1933 und 1945 war sie im All­tag Deutsch­lands über­all zu lesen und zu hören.

Denn da wür­de ich ger­ne wis­sen: woher weiß er das? Jetzt bin ich aber fast erregt, wodurch wird denn das belegt?, hieß es nicht von unge­fähr in einem berühm­ten Gerichtsverfahren.

Daß die drei Wor­te ‚die Losung der SA’ gewe­sen sei­en, ist in der Tat in etli­chen Kom­men­ta­ren zum Straf­ge­setz­buch zu lesen. Sicher hat Boeh­me-Neß­ler einen kon­sul­tiert, er ist ja eigent­lich kein Straf­recht­ler. Alle Kom­men­ta­re, in denen das steht, zitie­ren zum Beleg immer nur eine ein­zi­ge Gerichts­ent­schei­dung (mehr gibt es denn auch nicht), OLG Hamm, Urt. v. 01.02.2006, 1 Ss 432/05. In die­ser Ent­schei­dung stellt das OLG Hamm zwei Behaup­tun­gen auf, näm­lich 1) die drei Wor­te sei­en ‚die Losung der SA’ gewe­sen, und 2) die­ser Umstand sei ‚all­ge­mein bekannt’. Weder für die eine noch die ande­re Behaup­tung lie­fert das OLG Hamm jedoch irgend­ei­nen Beleg, etwa aus der Fachliteratur.

Des­we­gen ist bereits die straf­recht­li­che Kom­men­tar­li­te­ra­tur zu kri­ti­sie­ren, die die Behaup­tung wie­der­holt und die genann­te Ent­schei­dung als ‚Beleg’ zitiert. Denn es han­delt sich nicht um einen ‚Beleg’, weil dort nichts belegt wird! Eine Fuß­no­te dient nicht dazu, einen Text nach­zu­wei­sen, in dem schon ein­mal jemand das­sel­be behaup­tet hat, aber auch kei­ne Begrün­dung wuß­te! Eine Fuß­no­te hat die Funk­ti­on, dem inter­es­sier­ten Leser auf­zu­zei­gen, wo er Nähe­res zum The­ma fin­det, was unmit­tel­bar nicht aus­ge­führt wer­den kann.

Und wei­ter: die Behaup­tung eines Gerichts, irgend­et­was sei ‚all­ge­mein bekannt’, ist immer etwas dubi­os und muß bei den Ver­fah­rens­be­tei­lig­ten Miß­trau­en aus­lö­sen. Sie kann – kann! – näm­lich im Ein­zel­fall auch bedeu­ten: Wir haben auch kei­ne Ahnung, war­um das hier so und nicht anders sein soll, aber wir wol­len das hier trotz­dem zugrun­de­le­gen, weil wir unse­ren schö­nen Urteils­ent­wurf, den wir schon fer­tig­ha­ben, nicht noch­mal neu und ganz anders schrei­ben möch­ten, schließ­lich haben wir auch noch ande­re Fäl­le auf dem Tisch! Und: In dem genann­ten Ver­fah­ren vor dem OLG Hamm kam es eigent­lich gar nicht dar­auf an, denn der Ange­klag­te wäre sowie­so hoch zu ver­ur­tei­len gewe­sen wegen Kör­per­ver­let­zungs­de­lik­ten; also auch, wenn er dabei geru­fen hät­te: ‚Im Him­mel ist Jahr­markt!’. (Was am Ende gar noch die Losung des NS-Schau­stel­ler­ver­ban­des gewe­sen sein mag, es gab da ja so vie­le Organisationen).

Ich fin­de es jeden­falls bemer­kens­wert, daß die ver­meint­li­che oder angeb­li­che ‚Losung der SA’ weder in dem wich­tigs­ten Stan­dard­werk über die SA, näm­lich: Peter Lon­ge­rich, Geschich­te der SA (1989 zunächst unter dem Titel ‚Die brau­nen Batail­lo­ne’ erschie­nen), noch in dem wich­tigs­ten Stan­dard­werk über die Spra­che des ‚Drit­ten Rei­ches’, näm­lich Cor­ne­lia Schmitz-Ber­ning, Voka­bu­lar des Natio­nal­so­zia­lis­mus, 2. Aufl. 2007, über­haupt erwähnt wird! D.h., die Fach­his­to­ri­ker – ob sie nun über die Geschich­te der SA for­schen oder über den Sprach­ge­brauch im ‚Drit­ten Reich’ – schei­nen, anders als das OLG Hamm, gar nicht zu wis­sen, daß die­se Wort­fol­ge ‚die Losung der SA’ gewe­sen sei, noch, daß sie über­haupt im ‚Drit­ten Reich’ eine nen­nens­wer­te Rol­le gespielt habe.

Ja, und dann gibt’s da natür­lich noch die Sache mit dem ‚Ehren­dolch’. Es habe einen ‚Ehren­dolch’ der SA gege­ben, und die frag­li­chen Wor­te hät­ten auf der Klin­ge gestan­den. Das mag ja sogar sein. Aber ein ‚Ehren­dolch’ ist kein Aller­welts­ar­ti­kel, son­dern wäre eine sel­te­ne und hohe Aus­zeich­nung, die lang­jäh­ri­gen und beson­ders ver­dien­ten Mit­glie­dern aus­nahms­wei­se ver­lie­hen bzw. über­reicht wird.

Auf dem höchs­ten Orden im Ers­ten Welt­krieg stan­den die Wor­te ‚Pour le Méri­te’. Des­we­gen läßt sich aber nicht sagen, die For­mel ‚Pour le Méri­te’ sei ‚die Losung der deut­schen Streit­kräf­te im Ers­ten Welt­krieg’ gewe­sen! Denn die aller­meis­ten deut­schen Sol­da­ten des Ers­ten Welt­kriegs haben weder den frag­li­chen Orden jemals gese­hen, auch nicht von wei­tem (denn er war sehr sel­ten), noch hät­ten sie die Wor­te ‚Pour le Méri­te’ über­haupt über­set­zen und ihren Sinn ange­ben kön­nen. (Der Orden wur­de ursprüng­lich bereits von Fried­rich dem Gro­ßen gestif­tet, der ja kaum Deutsch sprach).

Anders, als der Kol­le­ge Boeh­mer-Neß­ler ver­mu­tet, ist also schon die jetzt dem Ver­fah­ren gegen Björn Höcke zugrun­de­lie­gen­de ers­te Tat­sa­chen­be­haup­tung – noch bevor man über den Vor­satz redet! – alles ande­re als unzweifelhaft.”

***

PS: Zur Behaup­tung, die Paro­le „Alles für Deutsch­land” sei als Slo­gan der SA zwi­schen 1933 und 1945 all­ge­mein bekannt gewe­sen, schreibt Leser ***:

„Ich kann Ihnen aus eige­ner Erfah­rung ver­si­chern, daß die­se Behaup­tung nicht stimmt. Ich bin 1934 gebo­ren und habe das Drit­te Reich unter der Herr­schaft der Nazis bewußt bis zu sei­nem Ende mit­er­lebt. Ich kann mich nicht erin­nern, die Paro­le ‚Alles für Deutsch­land’ auch nur ein­mal gele­sen oder gehört zu haben, auch nicht in der Schu­le und nicht ein­mal bei den Tref­fen der Pimp­fe (Hit­ler­ju­gend von 10 bis 14 Jah­ren). Ich kann mich nicht mehr genau ent­sin­nen, aber mir scheint, ich habe die Paro­le mal auf dem Kop­pel­schloss eines SA-Man­nes gese­hen. Jeden­falls war die­se Paro­le zwi­schen 1933 und 1945 so gut wie nir­gend­wo zu lesen und zu hören, außer wahr­schein­lich inner­halb der SA. Über­all zu lesen und gele­gent­lich auch zu hören waren ganz ande­re Paro­len, etwa ‚Räder müs­sen rol­len für den Sieg’ und ‚Ach­tung, Feind hört mit’.”
***
PPS: „Es ist schon wit­zig, was hier noch alles für Deu­tun­gen zu dem inkri­mi­nier­ten Spruch aus­ge­gra­ben wer­den”, meint Leser ***. „Einer glaubt, ihn auf einem Kop­pel­schloß der SA gele­sen zu haben. Da hat er ein Uni­kat gese­hen, das bei Her­mann His­to­ri­ca, Mün­chen, in die Pre­mi­um-Lis­te auf­ge­nom­men wür­de. Start­ge­bot: 5000 € (und das wäre kein ergeb­nis­abs­ti­nen­ter Spruch!) Viel inter­es­san­ter wäre, ob fol­gen­de ‚Paro­len’ auch in die Hal­den­wang-Files auf­ge­nom­men wür­den (oder gar schon sind?!):
1. ‚Mehr sein als scheinen’
2. ‚Arbeit adelt’
Ich bin mir zu 100% sicher, daß Höcke (soll­te er als Geschichts­leh­rer tat­säch­lich etwas unter­trei­ben) bei die­sen ‚Paro­len’ gna­den­los schei­tern würde.
Und nicht nur er. Sie sicher auch, oder?
Nun die Auflösung:
– 1. geätz­te Paro­le auf dem bau­glei­chen Dolch der NAPOLA
– 2. geätz­te Paro­le auf dem Ehren­hau­er des RAD (Reichs­ar­beits­dienst)
War­ten wir auf die nächs­ten Blendraketen!”
„Mehr sein als schei­nen” ist eine alte preu­ßi­sche Maxi­me, in der Lang­fas­sung lau­tet sie: „Viel leis­ten, wenig her­vor­tre­ten, mehr sein als schei­nen!” Dass sie von der Napo­la adap­tiert bzw. miss­braucht wur­de, wuss­te ich nicht.
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